Mit Holz heizen

Omi lebte von 1997 bis 2012 allein in dem Haus, in dem wir jetzt leben. Ich weiss nicht recht, wie sie es geschafft hat, so lange selbständig zu bleiben. Insbesondere das Heizen mit Holz verlangt meines Erachtens eine grosse Aufmerksamkeit. Heute erst verstehe ich, warum Omi in den Wintermonaten nur ungern das Haus verliess.

Ich kann mich dunkel daran erinnern, dass Opa ihr 1996, damals lebte ich fast einen Monat unter ihrem Dach, gezeigt hat, wie man den Ofen anfeuert. Ich war 19, trug eine grosse Spange und erholte mich von meiner Kiefer-OP. Ich gewann den Eindruck, dass Heizen mit Holz eine grosse Wissenschaft ist, die man sich nicht einfach so von heute auf morgen einverleiben kann.

In meiner Erinnerung trug Opa immer seinen Blaumann, leicht russverschmiert, die Pfeife im Mund, darin einen verchafelten Rössli-Stumpen, während er das Holz in den Ofen schmiss. Omi stand daneben, schaute zu, kommentierte sein Treiben.

In einem jener Momente entstand dieses Bild. Ich weiss noch genau, wie und wo: In der Küche. Neben dem Ofen. Als ich es vor einigen Tagen wieder gefunden habe, musste ich lachen. Ich lachte genau so wie damals, bis mir die Tränen ins Gesicht stiegen.

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Omi ist jetzt drei Monate tot und der Winter hat länger gedauert als erwartet. Wir heizen noch immer ein und ich denke oft an Omi. Meistens denke ich Dinge wie: „Ich verstehe, warum du gegangen bist. Es war dir zu kalt.“

Es gibt aber auch Momente, in denen ich die Kälte schätze. Ich bewege mich mehr, die Luft ist rein und ich befasse mich in der Freizeit mit so interessanten Tätigkeiten wie Stricken. Das Stricken vertreibt mir meinen Trübsinn und wenn es mir auch innerlich kalt ist, stehe ich einfach so an den Kachelofen und lasse mich wärmen und denke an die, die schon vor mir hier an dieser Stelle standen.

Ach Omi. Du fehlst.

Elephants can remember

Nach einem anspruchsvollen Wochenenddienst am freien Tag ins Toggenburg zu fahren, kostete mich heute morgen früh etwas Überwindung.
Der Gedanke, dass wir Schlafzimmer und Saschas Büro fertig streichen, hat mich dann aber motiviert, aufzustehen. Das Wetter im Toggenburg war grandios. Blauer Himmel. Zarte Schneedecke vor dem Haus. Kein Thurgauischer Nebel. Kein Geruch von Rüben.

Der zweite Anstrich geht irgendwie leichter.
Das seltsame Minttürkis ist verschwunden. Weiss macht das alte Schlafzimmer zu einem neuen Raum, der sehr viel grösser scheint. Zum ersten Mal seit über dreissig Jahren ist er leer. Omas Kruzifix hat einen Abdruck an der Wand hinterlassen. Eine Art Schatten. Jetzt hängt das wunderschöne, traurige Kreuz im Pflegeheim über ihrem Bett.

Ich entrümple den hintersten Vorratsraum. Schachteln, zwei Strickmaschinen, weiteres uraltes, metallenes Zubehör kommt zum Vorschein. Dann zwei Liegestühle, einer davon aus den 50er oder 60ern. Ich bin begeistert. Ich kann mich nicht erinnern, jemals darin gesessen haben.

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Ich trage alles hinunter in den hintersten Keller, wo ich die Sommermöbel deponiert habe. Ich schleppe Teile des zerkleinerten Schranks nach unten. Eine Matratze. Weiteren Müll, den ich finde. Und dann ist der Vorraum vor unserem Schlafzimmer einfach leer.

Ich schiebe die Seitentüre des einen Estrichabteils zur Seite und erblicke den Elefanten aus Plüsch, auf dem ich als Kind so oft gesessen bin. Mit einem Mal fallen mir all die Fotos von mir ein, die sie von mir gemacht haben. Ich sehe zufrieden darauf aus. Ich muss knapp zweijährig gewesen sein. Meine Mutter lacht auf den Fotos und ist erkennbar schwanger. Mein Bruder. Keiner ahnt, dass Mutters Lächeln danach verschwinden wird.

Omi hat den Elefanten in eine Plastikfolie gehüllt, zugedeckt mit einer uralten, schön bestickten Decke, die voll grauem Staub ist. Omi hat nichts weggeschmissen. Nicht einmal meine Kindersachen. Dass ich jetzt hier so stehe und das sehe, berührt mich. Das Haus als Hort meiner unversehrten Kindheit? Omi nahm dies sehr ernst.

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Ich gehe zurück ins Schlafzimmer und putze die verschmutzten Fensterscheiben. Die Luft ist kühl und ich atme tief durch. Vor mir liegt die Krinau. Der Wald ist zugeschneit. Die Sonne scheint auf unser Haus.

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Der Geruch des Fortgehens

Ich räume Paulas Haus. Es geschieht ohne Eile. Im ganzen Haus riecht es nach Mottenkugeln und Weichspüler. Schimmel. Holz. Fenjal Seife.
Anders als vor sieben Jahren, als ich die Wohnung meiner Mutter leeren musste, bleibt mir hier die Wahl.

Ich erinnere mich an die verdorbene Suppe, die ich wegleeren musste. Sie war das letzte, was meine Mutter sich noch selber gekocht hat, bevor sie bewusstlos wurde. Beim Aufräumen hoffte ich so sehr, dass ich ihr Rezept für Voressen finden würde. Ich wollte so gerne wissen, was sie alles hineingetan hat in dieses Essen, das ich so sehr liebte.

Doch das Rezept bleibt verschwunden, existiert nur noch in meiner Erinnerung.

Es tat mir weh, einen Teil ihrer Habe in Müllsäcken zu entsorgen. Ihre Kleider konnte ich lange nicht wegwerfen. Ich bunkerte alles in Kisten in meinem Keller. Alles roch nach ihr. Nach Rauch und nach Traurigkeit. Sie bat mich, ihre kleinen Figurinen zu behalten, nicht wegzuschmeissen. Das hab ich bis heute getan. Ich finde sie allesamt hässlich, aber ich bringe es nicht übers Herz, sie wegzutun.

Es fiel mir schwer, mitanzusehen, wie meine Mutter langsam abgab. Dieser Rückzug in sich selbst, diese Bescheidenheit, die Freude an kleinen Dingen. Ich beobachte es auch an Paula. Vielleicht braucht es gar keine so grossen Mühen im Leben. Keine Ratgeber fürs Ordnung halten. Am Ende geht man mit leeren Taschen. Der Nippes bleibt zurück.

Ich habe eine Packung ihrer Zigaretten behalten. Mary Long. Sie rochen nach ihr. Jetzt zerbröseln sie langsam. Es scheint, als wäre sie nie dagewesen.

Mein Herz in St. Gallen

Gestern durfte ich in St. Gallen zwei meiner Texte am Fest des Kulturmagazins Saiten vorlesen. Ich war aufgeregt.
Und wurde wehmütig. Zu gerne hätte ich meine Mutter und Omi hier gehabt. Wäre meine Mutter stolz auf mich gewesen?

Wenn ich an St. Gallen denke, kommt mir jene Stadt aus den 80ern vor mein Auge. Ich erinnere mich an jene seltsame Maestrani-Installation im Bahnhof. Wenn Omi und ich an die Olma gingen, blieb ich immer sehr lange stehen. Ich war fasziniert davon. Der Jahrmarkt. Die Riitschuel. Die vielen Gerüche. Halle 7. Es scheint mir, als wäre es gestern gewesen.

St. Gallen ist aber auch der Ort, an den meine Schwester notfallmässig eingeliefert wurde, als sie einen Fieberkrampf erlitt. Obwohl dies schon dreissig Jahre her ist, erinnere ich mich noch gut an die Angst meiner Mutter, den leblosen Körper meiner Schwester.

In St. Gallen wurde ich vor bald zwanzig Jahren am Kiefer operiert. Ich war gerade mal neunzehn Jahre alt. Ich litt Schmerzen und ich verlor meinen Geschmackssinn. Der Sommer aber war sehr heiss.

Später begleitete ich Paula zu ihrem Orthopäden nach St. Gallen. Wir marschierten keine weiten Strecken mehr. Jetzt führe ich Omi an der Hand, so wie sie mich als Kind an der Hand genommen hatte.

Vor über zwei Jahren erfuhr ich, dass Anna Aerne, meine Urgrossmutter, 1947 an ihrer Brustkrebserkrankung im Spital in St. Gallen verstorben ist. Als ich vor zwei Wochen ihre Todesanzeige fand, man stelle sich vor, ein Blatt Papier, das über 65 Jahre alt ist, wusste ich auch, dass sie in St. Gallen beerdigt wurde. Sie liegt nicht auf dem selben Friedhof wie alle anderen meiner Familie.

Ich las keinen ernsten Text in St. Gallen vor. Mir stand der Sinn nach Lebensfreude. Traurig sein kann ich auch morgen noch.

Erinnern am Ort

Es war ein seltsames Gefühl, gestern mit den Eltern durchs Haus zu gehen. Sie haben uns damals begleitet, als Omi Paula aus dem Haus auszog und bemerkten schockiert die Vermüllung des Hauses.
Gestern aber lobten sie mich, wie ich das Haus aufgeräumt und wieder hergerichtet habe. Das macht mich stolz.

Meinem Vater war das Haus immer ein Dorn im Auge. Ich habs schon als Kind gespürt. Die ganze Hütte war verpestet vom Geruch Opas Stumpen, deren Stummel er in seiner Pfeife bis zum letzten ausrauchte. Omas Zustand, ihre zunehmende Demenz, hingegen hat ihn schwer betroffen. Fast zwanzig Jahre war mein Vater mit meiner Mutter verheiratet. Viele Photos aus früheren Zeiten zeugen davon, dass auch er hier viel Zeit verbracht hat. Er kannte das Haus seit den frühen Siebzigern von Besuchen bei meinen Urgrosseltern Henri und Röös.

Dass er und seine Frau mich nun so unterstützen bei der Pflege des Grundstücks, macht mich glücklich. Ich weiss sehr wohl, dass meine eigene Mutter, das nie getan hätte. Meine Mutter konnte sich nicht um Oma kümmern. Die Gräben zwischen ihr und Oma waren zu tief. Davon zeugen viele Briefe, in denen sich beide bemühen, wieder miteinander zu reden. Schlimme Dinge sind in der Kindheit passiert. Gewalt. Harte Worte. Meine Oma gab sich oft die Schuld für Mutters Alkoholkrankheit, für ihre Gewaltexzesse gegen meine Person.

Vielleicht, so denke ich, ist es wirklich (m)eine Aufgabe, das Haus, und damit die Familie, von all dem seelischen Schutt, dem psychischem Schimmel und der traurigen Vergangenheit zu befreien. Es ist nicht einfach, sich dem zu stellen. Jede Information, die ich kriege, jedes Bild, das ich sehe, jeder Brief, den ich lese, fügt ein neues, kleines Mosaiksteinchen zum grossen Ganzen hinzu.

Manchmal ist der Schmerz unerträglich. Ich fühle nach, wie oft meine Oma und auch meine Mutter geweint haben. Dennoch ist es aushaltbar. Ich bin froh, dass ich so oft mit Oma geredet habe, als die Erinnerung noch nicht in den Hintergrund getreten war. So kann ich besser einordnen, was mir im Haus in die Hände fällt.

Ein Satz von Erich Fried begleitet mich seit einigen Wochen und er gibt mir Kraft:

Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual.

Herumgeräume

Gestern verbrachten wir den ganzen Tag in Paulas Haus. Da die Fahrt ins Toggenburg im Moment äusserst mühsam ist, beschlossen wir, die erste Nacht im Haus zu verbringen.

Als erstes machte ich die Küche einsatzbereit. Ich entsorgte einen letzten, sapschigen, blauen Teppich und saugte bis zum Gehtnichtmehr. Ich wischte Regale ab, wusch das Geschirr. Was für ein seltsames Gefühl, Gegenstände anzufassen, die seit bald zwei Jahren unberührt blieben.

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Unter dem Dachgeschoss steht das Bett, in welchem Omi, meine Schwester und ich jeweils schliefen. Ich habe bestimmt 18 Jahre lang nicht mehr hier geschlafen. Ein seltsames Gefühl, die Bettsachen abzuziehen, die Omi hier vor zwei Jahren bereit gelegt hat. Es ist staubig. Ich wische Staub, Sascha saugt.

Sascha und ich räumten Müllsäcke, Altmetall und Altpapier in den Keller. Nun ist der Keller zum Bersten voll und wir haben eine ganze Menge, die wir entsorgen müssen.

Opas alte Werkstatt, das zukünftige „Bureau“, zu räumen, war mein nächstes Ziel. Eigentlich sollte man diesen Raum nur noch mit Mundschutz betreten, weil eine Ecke hinter all dem Plunder langsam angeschimmelt ist. Das bedeutet sehr viel Arbeit!

 

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März 2014

Es ist kein Wunder. Dieser Raum wurde bestimmt 20 Jahre nicht wirklich benützt und in den letzten Monaten im Haus, hat Paula ihre Abfälle und viele andere Dinge hier deponiert. Es kostet mich, als hochgradige Spinnenphobikerin, einige Mühe, hier Hand anzulegen. Aber es geht nun mal nicht anders. Ich muss sortieren, verschimmeltes wegschmeissen, Müll trennen. Unerwarteterweise kommt der alte Stubentisch zum Vorschein. Es ist ein wahres Wunder, dass ihm der Schimmel NICHTS anhaben konnte!

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Juli 2014

Nach drei Stunden ist der Raum, bis auf die Werkbank und ein Regal, praktisch leer und sauber gewischt. Unter all den vergessenen Dingen kommt ein Holzboden hervor, der von der abwechslungsreichen Geschichte des Hauses zeugt.

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der Raum ist nun praktisch leer und in der Ecke zeigt sich jetzt das Ausmass des Schimmelbefalls.

Um Mitternacht fallen wir beide erschöpft, aber zufrieden ins Bett. Draussen rauscht der Bach. Es ist fast wie früher, nur dass Omi nicht mehr hier im Haus lebt.

Lebe deinen Traum

Eigentlich hatte ich gehofft, im Juli Besitzerin des Hauses zu sein. Aufgrund Ferienabwesenheiten und anderer Umstände zieht es sich hin.

Ich habe drei Wochen Ferien und zum ersten Mal seit ich denken kann, nichts geplant. Das heisst: der Plan war eigentlich, das Haus zu räumen. Im Vorratsraum türmt sich der Müllberg, den wir, wohl auf unsere Kosten, entsorgen. Ich kann den Anblick nur schwer ertragen.

Als ich am Freitag mein Omi sah, hab ich ihr erzählt, dass ich mir nichts mehr wünsche, als endlich im Haus zu wohnen, sie häufiger sehen zu können und vielleicht auch endlich mal wieder mit ihr Kaffee trinken zu gehen.

Ich habs nicht gerne, nur zu träumen. Ich bin eine Macherin. Keine Angst vor harter Arbeit. Aber da sitzen und Däumchen drehen ist nicht mein Ding.

Die letzten eineinviertel Jahre war ich in einer Weiterbildung zur biographischen Schreibpädagogin. Die Erkenntnisse, die ich über meine Familie, das Haus und mich gewonnen habe, sind wertvoll. Sie motivieren mich dazu, weiter zu machen, Geduld zu haben, nicht zu verzweifeln.

Als ich am Freitag im Haus war, hab ich entdeckt, dass mein Vater die Platten vor Opas Werkstatt frei gelegt hat. Sie waren bestimmt 17 Jahre lang nicht mehr am Tageslicht.

Mein Traum hat schon angefangen.

 

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Photoprojekt März 2014 (4)Frühling 2014

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Juli 2014

Ein Tag im Toggenburg

Tage wie dieser sind nicht mein Ding. Heute ist es besser als früher. In Sommerlagern wurde mir früh morgens in den Schlafsack gesungen. Aufgedreht und mit schlechtem Atem. Heute morgen wurde ich von der Katze geweckt. Der ist es nämlich scheissegal.

So fahre ich ins Toggenburg zu meiner Oma.
Seit einigen Tagen lebt sie mit einer anderen Frau in einem anderen Zimmer. Ich muss mich kurz umgewöhnen. Es ist enger geworden. Nur noch wenige Möbel haben Platz. Omi stört sich nicht daran. Sie liegt auf dem Bett und döst.

Wir reden miteinander. Sie freut sich über mein Kommen. Es ist ein guter Tag. Wir lachen viel. Schliesslich frage ich sie:
„Weisst du, was heute für ein Tag ist?“
„Freitag! Das weiss ich seit heute mittag.“
„Omi, es ist viertel vor elf.“
„Siehst du, werde bloss nie so alt wie ich.“

Dann singt sie mit einem Mal den Refrain eines Songs aus einem meiner Lieblingsfilme. Ich bin versöhnt mit dem Tag.

Als Omi von der Pflegenden in den Essraum begleitet wird, holen Sascha und ich Möbel aus dem Estrich. Ich hatte Angst vor diesem Moment. Doch irgendwie erheitert es mich. Lieber hole ich Möbel, die nicht mehr gebraucht werden, so lange Omi noch lebt.

Wir wollen zum Haus fahren, doch die Zufahrt ist mal wieder zuparkiert. Wir tragen Stühle und Taschen zum Haus. In der Küche packt mich der Ordnungswahn. Ich räume endlich den Gang. Fülle wieder drei Müllsäcke mit Plastik und altem Zeugs. Ich entdecke einige Elektrogeräte, die so alt sind, dass man sie besser nicht in die Nähe einer Steckdose stellt. Ich räume auf. Es tut gut. Im Bad gibt es mehrere Einbauschränke. Sie sind voll abgelaufener Medis, Pflegelotions und Verbände. Die Verpackungen stammen teilweise aus den 60er Jahren. Wieder füllt sich ein Sack. Ich entsorge alte Kleider, von denen ich nicht mal weiss, wer sie einst getragen hat.

Dann, nach zwei Stunden, ist es gut. Ich bin müde. Ich friere. Ich habe Hunger.
Aber irgendwie ist es ein gutes Gefühl, das Haus zu leeren, mich von uralten Dingen zu trennen und dann, irgendwann, bald, hier einzuziehen.

Der Radius wird klein(er)

Seltsames Gefühl, in einigen Tagen Omis Möbel, die sie nicht mehr braucht, aus dem Altersheim abzuholen. Was ich schon bei meiner Mutter Sterben beobachtet habe, nämlich das Kleinerwerden des Radius, bemerke ich nun auch bei meiner Oma.

Omi Paula liebte das Reisen immer sehr. Rom. Lourdes. Berlin. Zürich. Luzern. Irgendwann schafften wir es nur noch bis St. Gallen. Frauenfeld. Wattwil. Dann wurde auch das zu weit. Das Einkaufen übernahm mit einem Mal ich. Oma schaffte es nicht einmal mehr bis zum kleinen Dorfladen.

Oma liebte ihr Haus immer so. Die vielen Zimmer hat sie mit Inbrunst geputzt und instand gehalten. In den letzten Jahren, während sie noch im Haus lebte, wurde auch dieser Radius immer geringer. Sie zog vom Dachgeschoss in Opas altes Schlafzimmer und lebte irgendwann nur noch in Küche, Bad und Schlafzimmer.

Ähnlich verhält es sich nun im Pflegeheim. Schwierig genug, mit Oma einige Möbel auszuwählen, die sie „mitnehmen“ will. Jetzt, anderthalb Jahre später braucht sie sehr viel weniger. Die Möbel und der Besitz haben ihre Wichtigkeit verloren, sie lenken sie nur ab.

Ich weiss nicht, was ich denken soll. Es ist irgendwie beruhigend, dass am Ende des Lebens Besitz von Dingen nicht mehr wichtig ist. Wie wird es wohl sein, wenn ich sterbe?

Reinigung

Ins Toggenburg fahren. Das Wetter ist grummelig. Es herrscht feuchte Luft. Vorbei an Wil, Bütschwil, Dietfurt, an Baustellen. Überall wird gebaut. Alte Bäume fallen, Häuser werden abgerissen.

Ich aber will nur zu meinem Haus.
Diese Sehnsucht ist gross. Mein Vater hat die Wiese gemäht. Die Sonne hat das Gras ausgebleicht. Die Rosen sind verblüht, ohne dass ich sie dieses Jahr gesehen habe. Wir treten ins Haus. Ich muss die Fenster öffnen. Luft, frische Luft. Ich atme durch.

Ich muss Raum schaffen. Aufräumen. Endlich.
Ich will ausmisten.

Schliesslich räume ich die Stube, die Kisten voller Kinderkleider weg. Es sind meine Kleider, die ich als kleines Mädchen getragen habe. Oma hat sie alle behalten. Kaum zu glauben, dass ich einmal so klein war. Ich schnuppere daran. Es riecht nach Omas Mottenkugeln, Die Kleidchen, Jäckchen und Mützchen haben meine Uroma Röös und meine Mutter gestrickt.

Nach einer halben Stunde sieht die Stube wieder richtig schön aufgeräumt aus. Ich streiche mit den Händen über den grünen Kachelofen. Mein Opa hat sich daran immer seine kalten Hände gewärmt.

Die Küche ist noch immer vollgestapelt mit Geschirr, das ich in allen Ecken des Hauses gefunden habe. Katzenfutternäpfe, verstaubt und verklebt stehen herum. Am Boden liegen Teppichreste. Ich möchte am liebsten alles, was Teppich ist, rausschmeissen und endlich den schönen, roten Kachelboden freilegen und den Boden aufnehmen.

Ich wasche ab. Ich räume Geschirrtücher weg, die seit zwei Jahren an der Tür hängen. Ich verstaue Tupperwaredosen. Eine Vase. Immer wieder finde ich in Schränken Dinge, die da nicht hingehören. Spiele. Nähnadeln. Prospekte. Immer wieder Plastiksäcke. Fein säuberlich zusammen gefaltet.

Ich fülle einen Müllsack mit defekten, alten Dingen. Oma konnte nichts wegschmeissen und wenn sie tat, dann in den Bach. Ich komme mir vor wie bei einer Reinigungszeremonie. Oma hat so drunter gelitten, dass das Haus nicht leer war. So viele Dinge! Ist es meine Aufgabe, das Haus zu leeren?