6 Jahre später

Am 9. Januar ist meine Omi 6 Jahre tot. 6 Jahre. Sie starb 20 Jahre nach meinem Grossvater und knapp vier Jahre vor meinem Vater. Was für ein Leben. Sie erkrankte 1940 an einer Hirnhautentzündung und ist daran fast gestorben. Sie kämpfte sich zurück ins Leben. Ganz langsam. Aber auch sehr stur. Wenn sie das alles nicht geschafft hätte, wäre ich heute nicht am Leben.

Omi begleitet mich nach wie vor in meinem eigenen Leben. Wenn ich fremde Städte erkunde oder in den Züri Zoo gehe. In Stein am Rhein und in Berlin. Vielleicht auch, wenn ich irgendwann mal in diesem Leben nach Lourdes oder nach Rom fahre. Wann immer ich durch Lichtensteig gehe. Oder durch Wattwil. Oder durch Wil, unsere gemeinsame Geburtsstadt.

Meine Omi würde sich wundern, wie warm das Haus – ihr Haus – nun ist, nachdem wir letzten Frühling das Dach renovieren liessen. Es fühlt sich alles anders an: starker Regen, Sturm und Schnee. Manchmal hören wir nicht mal mehr, wie stark es windet. Das war noch vor einem Jahr anders. Nachdem wir erfuhren, wie wenig Balken unser Dach hatte, ist es beruhigend.

Am 7.1. ist mein Opi Walter 26 Jahre tot. Als er starb, war ich knapp 20 Jahre alt, trug eine sehr grosse Spange und hatte keine Ahnung, was mich noch alles erwarten würde. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut, wenn er miterlebt hätte, dass ich nun ein Blasinstrument (leidlich) spielen kann.

Ich muss immer wieder mal daran denken, dass sich mein Vater und mein Grossvater einige Tage vor Opis Tod via mich ausgesöhnt hatten. Mein Opi war wütend auf meinen Vater gewesen, weil sich meine Eltern hatten scheiden lassen.

Ein heftiger, grosser Streit, der schlussendlich am Telefon geklärt werden konnte. Mein Opi sagte: „Ich bin nicht mehr wütend auf dich.“ Und mein Vater antwortete: „Ok.“

Das macht mir Hoffnung für alle weiteren Streitigkeiten im Leben. Miteinander reden, so von Mensch zu Mensch im Angesicht des Todes, öffnet Türen. Sterblich sind wir alle.

Reisegedanken

Ich weiss nicht, wie oft Omi und ich von Lichtensteig aus mit dem Zug nach St. Gallen gefahren sind. Die Reise durch Wälder, Nagelfluhlandschaften und die Sicht in die Ferne, kurz vor Herisau war für mich immer ein riesiges Erlebnis. Omi erzählte Geschichten, verpflegte mich und meine Schwester mit Süssigkeiten und bestaunte mit uns all die Dörfer auf unserer Fahrt.

Heute fahre ich diese Strecke alleine. Ich muss ganz fest an Omi denken, denn sie fehlt mir gerade bei dieser Reise sehr. Wir sind vor langer Zeit das letzte Mal gemeinsam mit dem Zug gefahren. Sie war vor über fünf Jahren nicht mehr gut zu Fuss und ich holte sie für Einkaufstouren einfach mit dem Auto ab.

Kurz nach dem Tod meiner Mutter, ihrer Tochter, sind wir gemeinsam mit einem Reisecar an den Weihnachtsmarkt in Ulm gefahren. Das Gefühl, das ich damals empfand, das ist unsere letzte gemeinsame Reise, hat mich nicht betrogen.

Beim Gedanken an Omi fühle ich, noch immer eine grosse Leere. Mir scheint, als wäre ein Teil meines Herzens verbrannt. Der Schmerz, die Trauer um Omi, sitzt tief. Ich vermisse sie.

Die Wälder ziehen an mir vorüber. Mein Blick fällt bei Mogelsberg auf alte Häuser. Ich muss an mein eigenes Haus denken, das auch sehr alt ist. Dann denke ich: Omi ist noch immer bei dir. Sie ist in den Mauern, den Möbeln und vor allem im Garten. Ich freu mich auf ihre Tulpen und die Rosen, die sie vor vielen Jahren neu gepflanzt hat. Der Frühling war Omis Lieblingsjahreszeit.

Paula im Zug

Kältetest

Die ersten drei Tage im Haus sind vorüber.
Sie waren turbulent. Wir haben tatsächlich die kältesten Tage in unserem Haus mit Holzheizung hinter uns. Ich musste dran denken, dass Omi all die Jahre alleine geheizt hat. Wie hat sie das alles nur geschafft? Schmunzelnd habe ich die Schaffelle ins Bett gelegt. Omi hat sie fein säuberlich versorgt. In dieser Kälte tun sie gute Dienste. Wollsocken sind hier plötzlich sehr beliebte Kleidungsstücke.

Die Katze hat alles gut überstanden. Sie stören die Berge von Schachteln, die noch immer herrschende Unordnung nicht. Im Gegenteil. Sie scheint im Katzenparadies. Jeden Tag eine neue Entdeckung.

Wir putzen unsere alte Wohnung. Ich bin froh, alles, was ich nicht mitnehmen möchte, dort lassen zu können. Mich überkommt Melancholie. Hier habe ich fast achtzehn Jahre lang gelebt. Fast mein ganzes Leben habe ich im Thurgau verbracht. Und nun bin ich sozusagen St. Gallerin geworden. Thur-Toggenburgerin gefällt mir besser

Der Schnee steht uns bis zu den Knien. Die Eiszapfen hängen von den Dächern und schillern bunt, als die Sonne durch sie hindurch scheint. Unser Haus steht, umgeben von weiss, einfach da. Es lebt wieder.

Abnützungserscheinungen oder Umziehen ist wie Sterben

In zwei Wochen ist es soweit. Wir ziehen aus. Weg aus dem Thurgau. Ich hasse Umziehen. Ich hasse Schachteln. Kisten. Taschen. Leere Räume.

Und langsam verschwindet meine Energie. Die Erkältung ist wieder da. Termine. Meine Bücher sind alle längst im Toggenburg, weit weg von mir. Ich bin einsam ohne sie. Bücher sind stille Freunde. Die besten.
Ich packe. Räume auf. Schmeisse weg.

Ich tue mich schwer mit Gehen. Da ist der Magnolienbaum im Nachbardorf, den ich so sehr liebe. Den werd ich so schnell nicht mehr sehen. Die Nachbarskatzen. Die alten Menschen im Dorf. Die unberührte Natur.

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Mir wird die Frauenfelder Mundart fehlen. Das stinkige Städtchen im Herbst. Der Geruch der Rüben. Das Hochwasser der Thur. Der blaue Himmel über dem See. Das Naturmuseum.

Ich werde mein Auto ummelden müssen. Die goldenen Löwen auf silbrig-grünen Grund machen dem Rutenbündel mit Beil auf grünen Grund Platz.

Ich weiss noch nicht mal, was ich nachher sein werde: bin ich eine Thurgauerin im Toggenburg? Oder eine Thurgo-Toggenburgerin? Und wenn ich jemals eine Tracht nähe, wird es die Thurgauer oder die Toggenburger Tracht sein?

Und wenn ich dann irgendwann sterbe, dann liege ich auf demselben Friedhof wie meine Urgrosseltern, mein Opa, meine Grosstante und meine Mutter. Nur mein Bruder, der liegt nicht da. Aber wahrscheinlich spielt das keine grosse Rolle. Omi hat mal gesagt: „Wir kommen alle zum selben Herrgott.“ Ich antwortete: „Ich glaube nicht an Gott.“ Omi schaute mich an, lächelte, kniff mich in die Wange und sagte: „Das isch ihm schissägliich.“

Mein Herz in St. Gallen

Gestern durfte ich in St. Gallen zwei meiner Texte am Fest des Kulturmagazins Saiten vorlesen. Ich war aufgeregt.
Und wurde wehmütig. Zu gerne hätte ich meine Mutter und Omi hier gehabt. Wäre meine Mutter stolz auf mich gewesen?

Wenn ich an St. Gallen denke, kommt mir jene Stadt aus den 80ern vor mein Auge. Ich erinnere mich an jene seltsame Maestrani-Installation im Bahnhof. Wenn Omi und ich an die Olma gingen, blieb ich immer sehr lange stehen. Ich war fasziniert davon. Der Jahrmarkt. Die Riitschuel. Die vielen Gerüche. Halle 7. Es scheint mir, als wäre es gestern gewesen.

St. Gallen ist aber auch der Ort, an den meine Schwester notfallmässig eingeliefert wurde, als sie einen Fieberkrampf erlitt. Obwohl dies schon dreissig Jahre her ist, erinnere ich mich noch gut an die Angst meiner Mutter, den leblosen Körper meiner Schwester.

In St. Gallen wurde ich vor bald zwanzig Jahren am Kiefer operiert. Ich war gerade mal neunzehn Jahre alt. Ich litt Schmerzen und ich verlor meinen Geschmackssinn. Der Sommer aber war sehr heiss.

Später begleitete ich Paula zu ihrem Orthopäden nach St. Gallen. Wir marschierten keine weiten Strecken mehr. Jetzt führe ich Omi an der Hand, so wie sie mich als Kind an der Hand genommen hatte.

Vor über zwei Jahren erfuhr ich, dass Anna Aerne, meine Urgrossmutter, 1947 an ihrer Brustkrebserkrankung im Spital in St. Gallen verstorben ist. Als ich vor zwei Wochen ihre Todesanzeige fand, man stelle sich vor, ein Blatt Papier, das über 65 Jahre alt ist, wusste ich auch, dass sie in St. Gallen beerdigt wurde. Sie liegt nicht auf dem selben Friedhof wie alle anderen meiner Familie.

Ich las keinen ernsten Text in St. Gallen vor. Mir stand der Sinn nach Lebensfreude. Traurig sein kann ich auch morgen noch.