Glückspilz

Ich bin ein Glückspilz, denke ich.
Dank Omi lese ich heute jede Menge Bücher über Demenz und vergleiche deren Inhalte mit dem, was ich die letzten Jahre an ihrer Seite erlebt habe. Ich lerne, dass es verschiedene Arten von Demenz gibt und das Ziel von uns Angehörigen sein muss, dem betroffenen, geliebten Menschen die Selbstständigkeit zu ermöglichen. Ah ja.

Ich lerne auch, dass es gegen Ende des Lebens eher schwierig wird, dies zu gewährleisten. Menschen mit einer schweren Demenz verlieren ihr Erinnerungsvermögen und leben ganz in der Gegenwart.

Ganz im Ernst? Ein wenig habe ich Omi darum beneidet, in der Gegenwart zu leben. Sie war nie so entspannt und glücklich wie damals, als es weder Vergangenheit noch Zukunft für sie gab. Omi hat nicht mehr getrauert. Die Verluste unserer geliebten Menschen stellten für Omi keine tiefen Narben mehr dar. Es war eher so, als hätte es sie nie gegeben. Omi hat zwar täglich SRF geschaut, und allein dafür gebührt ihr der Tapferkeitsorden, aber Kriege und Katastrophen haben sie nicht mehr berührt.

Manchmal, so denke ich, ist Demenz nicht der Schlimmste aller Wege. Vergessen ist eine schöne Sache, eine Art ewiger Schlaf.

Bücherbett

Was mich wirklich gestresst hat an der ganzen Zügelei, waren die Tage ohne Bücher rund um mein Bett. Diese Leere hat mich fast wahnsinnig gemacht. Es gibt nichts traurigeres als leere, verstaubte Bücherregale.

Schon als ich noch ein kleines Mädchen war, wünschte ich mich nichts sehnlicher als eine Bücherwand. Omi schenkte mir auf den neunten oder zehnten Geburtstag ein Bett, eine Truhe und ein Bücherregal. Massivholz. Nun konnte ich mir meine eigene Welt erschaffen.

In meinem Elternhaus gab es nicht so viele Bücher, die Kinder hätten lesen können. Mein Vater besass einige Bücher über Rennfahrer, meine Mutter Romane und irgendwo stand noch unsere altehrwürdige Familienbibel herum.

Bei meinen Grosseltern jedoch erschloss sich für mich eine andere Bücherwelt. Mein Grossvater besass uralte Bücher über Elektrik, Chemie und Webmaschinen. Es gab Enzyklopädien und Bücher über Medizin.

Und nun sitze ich also in meinem Schlafzimmer im Toggenburg und die Regale, die ich mitnehmen konnte, sind endlich wieder mit Bücher gefüllt. Es ist ein wunderbares Gefühl, ins Bett zu gehen und auf eine Wand mit Namen und Titeln zu blicken. Opas Bücher sind im Gang aufgereiht. Jedes Mal, wenn ich an ihnen vorbei gehe, denke ich an ihn.

Im Film „Shadowlands“ den ich sehr liebe und den ich schon so lange nicht mehr gesehen habe, sagt Anthony Hopkins in seiner Rolle als C.S. Lewis folgendes: „Wer liest, ist nicht alleine.“

Abnützungserscheinungen oder Umziehen ist wie Sterben

In zwei Wochen ist es soweit. Wir ziehen aus. Weg aus dem Thurgau. Ich hasse Umziehen. Ich hasse Schachteln. Kisten. Taschen. Leere Räume.

Und langsam verschwindet meine Energie. Die Erkältung ist wieder da. Termine. Meine Bücher sind alle längst im Toggenburg, weit weg von mir. Ich bin einsam ohne sie. Bücher sind stille Freunde. Die besten.
Ich packe. Räume auf. Schmeisse weg.

Ich tue mich schwer mit Gehen. Da ist der Magnolienbaum im Nachbardorf, den ich so sehr liebe. Den werd ich so schnell nicht mehr sehen. Die Nachbarskatzen. Die alten Menschen im Dorf. Die unberührte Natur.

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Mir wird die Frauenfelder Mundart fehlen. Das stinkige Städtchen im Herbst. Der Geruch der Rüben. Das Hochwasser der Thur. Der blaue Himmel über dem See. Das Naturmuseum.

Ich werde mein Auto ummelden müssen. Die goldenen Löwen auf silbrig-grünen Grund machen dem Rutenbündel mit Beil auf grünen Grund Platz.

Ich weiss noch nicht mal, was ich nachher sein werde: bin ich eine Thurgauerin im Toggenburg? Oder eine Thurgo-Toggenburgerin? Und wenn ich jemals eine Tracht nähe, wird es die Thurgauer oder die Toggenburger Tracht sein?

Und wenn ich dann irgendwann sterbe, dann liege ich auf demselben Friedhof wie meine Urgrosseltern, mein Opa, meine Grosstante und meine Mutter. Nur mein Bruder, der liegt nicht da. Aber wahrscheinlich spielt das keine grosse Rolle. Omi hat mal gesagt: „Wir kommen alle zum selben Herrgott.“ Ich antwortete: „Ich glaube nicht an Gott.“ Omi schaute mich an, lächelte, kniff mich in die Wange und sagte: „Das isch ihm schissägliich.“