Übers Loslassen

Als ich meinen Opa Walter verlor, war ich keine 20 Jahre alt.
Keiner wusste so genau, woran er litt, denn er hielt es geheim. Einfach so.
Nur er und seine Krankenschwester wussten, wie er sterben würde.
1996, ich hatte meine Lehre beendet und hielt mich im Spital in St. Gallen auf, um meinen Kiefer zu operieren. Ich weiss nicht mehr, wie lange ich da war. Ich erinnere mich an starke Schmerzen und mein deformiertes Gesicht. Ich konnte damit nicht mehr herumlaufen. Also reiste ich nach Lichtensteig zu meinen Grosseltern Paula und Walter. Es war August.

Walter war schwach. Er lag oft im Bett. Er war müde, ass wenig.
Die Wärme des Sommers drang nicht bis in sein Krankenzimmer, ein dunkel getäfertes Zimmer.
Abends sassen wir vor dem Fernseher.
Ich konnte nicht sprechen, weil mein Ober- und Unterkiefer miteinander verdrahtet waren, damit beide Teile wieder anwuchsen. Also schwieg ich.

Das Schweigen wurde in jenen sechs Wochen zu meinem ständigen Begleiter.
Nichts sagen zu können, mag eine Strafe sein.
In meinem Fall war sie manchmal barmherzig.
Ich trat, nach Entfernung meiner Verdrahtung, meine erste Stelle an.
Ich war wesentlich abgemagert, weil ich während Wochen nur noch Flüssiges essen konnte.
Ich war blass. Das Sprechen fiel mir nach sechs Wochen Abstinenz schwer.

Walter wurde nicht wieder gesund.
Wir ahnten es alle. Er würde sterben.
Ich sah ihn an Weihnachten 1996 das letzte Mal. Seine Haut war senfgelb gefärbt.
Seine wundervollen, blauen Augen leuchteten. Doch auch seine Augäpfel waren gelb.
Nie hätte ich gedacht, dass ich diese Farbe einmal so hassen würde.

Wir redeten letzte Worte. Er segnete mich.
Er sagte mir, wie sehr er mich liebte, gab mir alles Gute mit auf den Lebensweg, ermutigte mich, dass ich das tun sollte, was ich wollte, ohne Rücksicht auf die Gesellschaft.
Am 7. Januar 1997 starb er in Paulas Armen, um Punkt acht Uhr.

Ich war froh, dass er gestorben war, denn ich konnte sein Leiden fast nicht ertragen.
Für mich war er immer jener ältere Mann, der im Keller des Hauses arbeitete und sein eigenes Ding machte. Ihn nur noch im Bett liegend zu sehen, hat mich geschockt.
Zugleich aber hat dafür für mich der Tod an Schrecken verloren.
Ich konnte plötzlich nachvollziehen, was es bedeutete, langsam zu sterben.

2007 wurde Uschi, meine Mutter, krank.
Ich hatte es seit längerer Zeit geahnt.
Aber sie in jenem Krankenbett zu sehen.
So senfgelb. Dünn. Diese riesigen gelben Augen.
Das hat mich sehr getroffen.
Das war einer jener Momente, wo man genau weiss, was passiert.
Man weiss, man wird leiden wie ein Tier.
Man wird traurig sein. Alles wird unüberbrückbar schwer.

Sie lag in diesem Bett und ich konnte absolut nichts tun.
Alles, was ich wusste, war in jenem Moment nichts mehr wert.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich in jenem Fluss mittreiben zu lassen.

Von Walter wusste ich ja schon, wie das abläuft.
Das ist keine gute Sache.
Leberversagen ist ein Scheissding.
Man erstickt, wenn die Leber nicht mehr richtig tut und die Lungen in Mitleidenschaft gezogen sind.

Das war bei Uschi so.
Dieses stundenlange Seufzen, dieses Ächzen, das man eigentlich nur von Ertrinkenden kennt,
ist das Allerschlimmste.
Ich werde ihre Seufzer, ihr Stöhnen und ihr erschrecktes Augenaufschlagen nie mehr vergessen.
Du sitzst daneben und kannst dem Menschen, den du liebst, und dem du dein Leben verdankst, nicht helfen. Du wirst dir deiner ganzen Machtlosigkeit bewusst.

Sie liegt da und kämpft mit dem Tod. Eigentlich möchte sie lieber leben. Sie liebt das Leben so sehr. Aber der Tod ist stärker und überwältigt sie.

Ich sitze daneben und kann es nicht fassen.
Ich weiss nicht, ob ich lachen oder weinen soll, rauchen, trinken, schreien, mir die Haare ausreissen.

Alles stellt sich auf den Kopf.
Du selber lebst weiter. Das ist die Abmachung. Und die ist scheisse.

Kindsein

Meine Kindheit fand draussen statt.
Ich liebte es, mich auf Bäumen oder auf einen Hügel zurück zu ziehen.
Fürs Leben gern spielte ich am Bach oder auf der Weide, wo ich den Schafen zuschaute.

Dann zogen wir um, weil mein Vater eine neue Stelle hatte.
Er wurde Hauswart.
Die Zeit beim Schulhaus war die schlimmste meines Lebens.
Wer auf öffentlichem Grund lebt, hat kein Privatleben mehr.
Ich erinnere mich an einen Lehrer, der unbedingt wollte, dass meine Katze eingeschläfert wird, weil sie einen Frosch gejagt haben soll. Ich erinnere mich an zerstörte Spielsachen, unsere gequälten Haustiere, meine geliebten Laufenten, die vom Hund des Nachbars bei lebendigem Leibe zerrissen wurden und die ich verbuddelt in der Kugelwerfanlage fand. Ich erinnere mich an unsere Hühner, die getötet wurden, weil Menschen es nicht für nötig befanden, ihre Hunde an die Leine zu nehmen.

All das kommt mir in den Sinn, während ich diesen Zeitungsartikel lese.
Wer Kindern das Spielen verbietet, treibt sie in die Untätigkeit. Das ist meine Meinung.
Menschen, die Kinder nicht mögen, sollten sich am besten zurückziehen. Sie sollten nicht Politiker werden. Solche Menschen verachte ich.

Ich denke zurück an die glücklichste Zeit meines Lebens. Die Kindheit im Haus von Paula.
Wir durften lärmen, uns verkleiden, spielen, Hütten bauen. Wir waren frei.

Zwischen den Gräbern

Natürlich gehe ich immer, wenn ich im Toggenburg bin, bei meiner Paula vorbei. Es regnet immer wieder sintflutartig an jenem Vormittag, so dass wir den Regen nutzen, zuerst in ihr Pflegeheim zu fahren, bevor wir uns ans Bepflanzen von Uschis Grab machen.

Paulas Pflegeheim liegt in der Ebene. Es ist umgeben von einem Bauerngehöft.
Alles sieht friedlich aus.
Wir treten zur Eingangstür herein, welche eher wie die eines alten Schulhauses, denn jene eines Pflegeheims aussieht. Wir gehen in den zweiten Stock. Paulas Zimmer ist leer.
Ich schrecke für einen Moment auf.
Ich weiss ganz genau, dass es jenen Tag geben wird, an dem Paulas Zimmer ohne Leben ist, an dem sie nicht mehr zufrieden auf ihrem Bett sitzen und uns begrüssen wird.
Ich habe Angst vor diesem Tag.

Aber dieser Dienstag war nicht der Tag.
Eine junge Reinigungskraft spricht uns an und schickt uns nach unten. Paula turnt.

Paula turnt??
Ich bin baff.
Meine Mutter hat Paula vor bald 20 Jahren mal mit einen Seniorenturnkurs beglückt. Paula ist nie hingegangen. „Was soll ich denn bloss unter all den alten Leuten? Ich möchte sehr viel lieber meine Lieblingsserie schauen.“

Und doch turnt Paula. Wir warten im Flur vor dem Teamzimmer. 5 Minuten. 10 Minuten. Als eine Pflegende vorbeikommt, teilt sie uns mit, dass Paula noch mindestens 45 Minuten beim Turntraining ist.
Ich grinse. Ich will Paula nicht stören. Also gehen wir wieder.

Am nächsten Tag ruft uns Paula an.
Sie klingt vorwurfsvoll.
„Nie kommst du vorbei.“
„Doch. Gestern war ich da.“
„Nein!“
„Doch. Aber du hattest keine Zeit.“
„Ich habe immer Zeit.“
„Du warst beim Turnen.“
„Ach so. Ja.“
„Ich wollte dich nicht stören.“
„Ja, aber Zora, du störst doch nie. Ich finde Turnen…“
„Es tut dir aber gut!“
„Das stimmt. Aber das nächste Mal musst du mich stören. Dann trinken wir Kaffee und schauen den anderen einfach zu.“

Das werde ich ganz bestimmt tun!

Die grosse Gräber-Tournee

Dieser Winter war lang.
Was ich sonst um Ostern besorge, nämlich Uschis Grab neu zu bepflanzen, hab ich nicht auf die Reihe gekriegt. Ich hab nämlich Prioritäten gesetzt: Paula besuchen, diese Wiese um Paulas Haus mähen, Freunde treffen und Energie auftanken. Die Tage schmolzen schneller als der Schnee dieses Jahres dahin. Heute endlich habe ich sie heute geschafft: die grosse Gräber-Tournee.

Wir fahren in das Dorf, wo ich einst aufgewachsen bin. Dort auf dem Friedhof, begraben und bedeckt von einem Nadelgehölz, liegt mein kleiner Bruder. Ich muss, seltsamerweise, immer an die gleiche Begebenheit denken, wenn ich das schmiedeiserne Tor zum Friedhof öffne. Ich sehe meine Eltern, gramgebeugt, meine Oma und mich selber. Wir stehen an Svens Grab. Es ist so furchtbar klein. Ich denke, das kann ja gar nicht sein. Mit zwei Jahren erinnert man sich nicht an so was.

Ich stehe mit Sascha vor Svens Grab. Ich wünschte mir, Sven wäre so gross wie der Baum, den mein Vater gepflanzt hat. Ich berühre seine feinen Äste und bin froh, dass es wenigstens ihn noch gibt. Ich habe manchmal Angst, dass Svens Grab einfach weg ist, wenn ich komme, so als hätte es diesen kleinen Menschen, den meine Mutter geboren hat, nie gegeben.

Ich stehe vor dem Grab. Ich bin bald 36. Als meine Eltern ihn verloren, waren sie wesentlich jünger als ich. Der Betonengel, den ich hier vor vier Jahren abgelegt habe, ist brüchig geworden. Svens Grabstein wirkt mit einem Mal so zerbrechlich.

Dann fahren wir, mit einem Kofferraum voller Pflanzen weiter ins Toggenburg, wo meine Mutter und mein Opa, früher auch Anna, meine Urgrosseltern und bestimmt auch Nelly, begraben liegen.

Ich packe die Pflanzen aus und bemerke, wie die Friedhofsleitung wieder einige Grabreihen aufgelöst hat. Opas Grab wird als nächstes dran sein. Er ist jetzt über 15 Jahre tot. Ich schliesse die Augen, bemerke, dass ich durchaus nicht die letzte bin, die für die Gräberbepflanzung besorgt ist. Einige ältere Herrschaften, mit und ohne Pudel, gramgebeugt oder aufrecht, machen sich auf, die Grabstätten ihrer Lieben zu verschönern. Bei kurzem Hinblicken wird mir klar, dass sie alle die Gräber ihrer Eltern, seltener die ihrer Geschwister und praktisch nie die ihrer Kinder bepflanzen. Ich fühle mich stumm geborgen in dieser Gesellschaft der Menschen, die Mutter und/oder Vater verloren haben.

Das Grab meiner Mutter sieht nicht so furchtbar aus, wie ich es erwartet habe. Die Tulpenzwiebeln, die ich vor einigen Jahren in einem Anfall von Übermut und Experimentierfreude gesetzt habe, sind auch diesen Frühling offensichtlich gespriesst. Ich entnehme alles, was verblüht ist, setze neue Erde auf und pflanze Tagetes und zwei Tabakpflanzen.

Sie hat immer so gerne geraucht. Vielleicht, so denke ich, macht ihr etwas das Freude. Ich platziere einige Figuren. Nippes hat sie immer so sehr geliebt.

Ich denke dran, dass sie nie ein Grab gewollt hat und wohl nie, dass ich es pflegen muss. Ich tue es trotzdem gerne. Es lenkt mich ab und lässt mich innehalten. Ich höre den Vögeln zu und dem Schluchzen all jener, denen es gleich ging wie mir, den Trauernden. Ich weiss, dass auch ich bald wieder trauern werde. Es macht mir nichts aus, es zu wissen. Es ist das Leben. Jetzt ist Sommer. Ich werde ihn geniessen und lieben mit all meinen Sinnen.

 

 

sven grab