Vom im-materiellen Erbe

Vor über 10 Jahren habe ich damit angefangen, die Fotos und Negative meiner Familie zu digitalisieren. Das hat richtig Spass gemacht. Ich kam Stück für Stück meinen Familienangehörigen näher. Ich erinnerte mich an all die Geschichten, die die einen erzählt haben, während wir gemeinsam Fotos angeschaut haben, erinnerte mich an all die seltsamen Familienfreunde, Onkel und Tanten, die längst nicht mehr da sein.

Tut man das heute eigentlich noch? Ich meine, ganz ehrlich: Wer von euch schaut mit seinen Kindern/ Familienangehörigen noch Fotoalben durch? Wann hat das ipad gruselig verklebte und beschriftete Familienalben abgelöst? Wo teilt man Erinnerungen nur noch via Whatsapp oder Facebook?

Vor einigen Monaten stiess ich auf neue Fotos meiner Familie. Für mich war ganz klar, dass ich diese digitalisiere und in meine Cloud lade. Die Cloud ist sozusagen das stichwortbasierte Fotoalbum meines Lebens.

Doch wofür tue ich das eigentlich?
Vor einigen Wochen hat mir ein Mensch gesagt, dass Frauen, die keine Mütter sind überhaupt nicht bei den grossen Themen im Leben mitreden könnten. So ein Schlag in die Eierstöcke sitzt natürlich richtig. Das muss ich schon sagen.

Die Frage nach dem (im-)materiellen Erbe stellt sich natürlich schon. Für meine Nachkommenschaft digitalisiere ich definitiv keine Fotos. Ich tu’s für mich selber, weil ich daran Freude habe. Ich will dann, wenn ich Lust oder das Bedürfnis habe, auf meine Familienfotos zugreifen und mich zurückerinnern an jene, die ich verloren habe und die mir fehlen.

Ich mag übrigens die Vorstellung, dass nach meinem Ableben irgendwo in irgendwelchen Wolken Fotos von Onkel Sepp und Tante Hadj im Marienkäferkostüm kursieren.

Hair

Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich blonde Zapfenlocken. Mein Vater, meine Omi liebten meine Haare. Meine Mutter hasste sie, denn sie war es, die sie bürsten und pflegen musste.

Ich weiss nicht mehr, wie alt ich damals war, als meine Mutter in einem Wutausbruch meine Haare einfach abschnitt. Ich erinnere mich jedenfalls dunkel, dass dies der Anfang vom Ende der Ehe meiner Eltern war. Mein Vater wurde richtig sauer. Mein Kinderfoto hat er noch viele Jahre danach in seinem Auto gehabt.

All die Jahre meiner Kindheit trug ich sehr kurzes, burschikoses Haar. Es fühlte sich toll an. Ich war mit einem Mal kein „Meiteli“ mehr, sondern durfte „Ruech“ und wildes Kind sein.

Es war vermutlich ein Segen, dass ich während meiner Pubertät kein wallendes, dunkelblondes Haar mit mir herum trug, sondern kurze, rot gefärbte Stoppeln. Ich erinnere mich daran, dass in den 80er und 90er die jungen Männer, die jeweils von der Kalchrain auf den Sportplatz in Hüttwilen trainieren gingen, „Hoorlis“ genannt wurden. Für mich sahen die alle ein wenig wie Jesus aus.

Ich wurde langsam erwachsen und mit ca 22 Jahren liess ich mein kurzes Haar wachsen. Es war eine furchtbare Sache. Weil ich so viele, so dichte Haare hatte, sah ich in dieser Phase meistens aus wie ein menschlicher Besen.

Die letzten 23 Jahre wuchs mein Haar einfach weiter. Zuerst war es lockig dunkelblond, zwischendurch braun. Nun ist es, seit einigen Jahren von weiss-grauen Strähnen durchzogen, auf die ich stolz bin. Ich mag es, dass mein Haar mein Leben, meine Gefühle abbildet. Ich trage zwar mein Haar hochgesteckt, aber ich mag die Länge und die Schwere. Ich mag Zöpfe und Dutts und alles mögliche.

Ich fühlte mich vor einigen Jahren mit einem Mal nicht mehr in der Lage, Jugendlichkeit abzubilden. Ich hörte auf, meine Haare zu färben. Zu viel hatte sich verändert. Alle meine nächsten, geliebten Verwandten waren gestorben. Alles war anders. Ich fühlte mich reif genug für graues und weisses Haar.

Mein Vater hat nur eines nie verstanden, und das konnte ich nicht mehr mit ihm klären: Er fand mein langes Haar im Vergleich zu einer „rassigen“ Kurzhaarfrisur einfach nicht schön. Diese Frage bleibt nun wohl für immer offen.