Als ich noch ein kleines Mädchen war, fühlte ich mich schuldig, weil ich meinen Bruder überlebt hatte. Mehr als einmal, besonders bei wüsten Streitereien, fuhr es mir durch den Kopf: eigentlich hätten sie lieber deinen Bruder als dich gehabt.
Einen toten Bruder zu haben, ist eine Hypothek von gewisser Schwere. Ich hab mir oft überlegt, wie glücklich sie wirklich waren, ein Kind wie mich aufzuziehen und ihn verloren zu haben. Ein totes Geschwister ist immer perfekt. Es streitet nie. Es wird nie erwachsen.
Im Gegensatz zu meinem Bruder kam ich mit deformierten Hüften zur Welt. Mit neun Jahren wurde ich zum ersten Mal operiert. Der Rollstuhl schien mir damals sicher. Für meine Mutter war der Gedanke, dass ich mit vernarbten Beinen würde leben müssen, ein Gräuel. Bei einem Gespräch mit dem Chirurgen ist sie total ausgeflippt.
Ich wusste früh, dass ich nicht das Kind war, das sich Eltern wünschen. Ich war grüblerisch, las lieber Bücher, war dünn und unsportlich. Meine Freizeit verbrachte ich am liebsten im Bett oder in Gesellschaft von Tieren. Ich war nie ein hübsches kleines Mädchen.
Natürlich wäre ich lieber eine Schönheit gewesen. Die Blicke in der Badi auf meine vernarbten Beine brachten mich damals aus der Ruhe. Beleidigungen und Witzeleien waren nicht selten. Ich war hässlich, das wusste ich. Ich bemerkte nicht, dass meine Beine lang und wohlgeformt waren. Die Narben überdeckten alles.
Paula pflegte mich jeweils nach meinen Spitalaufenthalten. Sie verwöhnte mich, trug mich die steile Holztreppe in die Schlafräume rauf und tröstete mich, wenn ich Schmerzen hatte. Alles würde gut werden.
Die offenen Wunden von 1986 sind längst zu wulstigen, dicken Narben verheilt. Die Schuldgefühle aus der Kindheit sind der Dankbarkeit gewichen. Ich bin dankbar für meine Eltern.