Nach der Scheidung meiner Eltern kehrte zum ersten Mal seit langem Ruhe in mein Leben ein. Mein Vater verliebte sich in Heidi, eine Freundin der Familie, und einer der wenigen Menschen, die mich in der Kindheit unterstützt hatten.
Ich kehrte vom Welschlandjahr zurück und ging zur Lehre in einer Confiserie. Dieses kleine Geschäft wurde für zwei Jahre zum Mittelpunkt meines Lebens. Ich habe die altmodische Einrichtung und mein Lehrmeister-Ehepaar sehr, sehr geschätzt. Manchmal denke ich, wenn die beiden nicht gewesen wären, hätte mir sehr viel in meinem Leben gefehlt.
Hier wurde ich zum ersten Mal als erwachsener Mensch behandelt. Niemand interessierte sich für meine Familie. Es war nur wichtig, dass ich höflich bediente, sauber putzte und fleissig arbeitete. Ich genoss dies über alle Massen. Noch heute muss ich gerade in der Weihnachtszeit daran denken, wie sehr ich den Trubel, die viele Arbeit und das Herumrennen genossen hatte und jetzt manchmal etwas vermisse.
Meine Mutter lebte in der gleichen Stadt wie ich. Doch unsere Leben waren unterschiedlich. Sie arbeitete an verschiedenen Orten, verlor immer mal wieder die Arbeit, weil ihre Alkoholkrankheit offensichtlich geworden war. Fleissig war sie aber immer.
Als ich in meiner zweiten Ausbildung steckte, ich lernte Fachfrau Betreuung im Behindertenbereich, musste ich mich gezwungenermassen mit meiner eigenen Geschichte befassen. Ich war sehr froh, dass ich mich all die Jahre vorher schon in einer Gesprächstherapie meiner Vergangenheit gestellt hatte.
Was mich in der Ausbildung geprägt hat, war die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod. Die Sterbephasen waren ein wichtiger Bestandteil der theoretischen Ausbildung. Ich war mir in jenen Lektionen sicher, dass ich meine Mutter NIEMALS in den Tod begleiten würde. Ich habe mich bei Dozent M. ausgekotzt. Ich hab geflucht. Ich war so wütend. Es kam alles hoch. Das war 2004.
Drei Jahre später stand ich da und war gerade von meinen Ferien zurückgekehrt. Ich war 30 geworden, hatte einen neuen, guten Job. Meine Mutter lag im Spital. Todkrank.
Ich erinnere mich noch sehr gut an jenen Moment. Ich musste nämlich lachen über mich. In jenem Moment, als mir klar wurde, dass sie jetzt in eben jenem verdammten Sterbeprozess steckt, wusste ich, dass ich nicht davon laufen würde. Dabei hätte ich genug Argumente gehabt. Mehr als einmal habe ich mit meinem damaligen Freund darüber gesprochen. Sie hatte mich als Kind windelweich geprügelt. Ich hätte auf meine Verantwortung als Tochter scheissen können.
Aber ich konnte nicht weg. Das Gefühl war unvergleichlich. Ich fühlte mich mit einem Mal wie eine Löwin, die ihr Junges vor Schlechtem bewahrte. Nur dass ich, die Tochter mit einem Mal die Mutter beschützen musste.
Ich hab mich beruflich mit Traumata auseinander gesetzt. Das ist eine seltsame Sache. Ich denke sehr wohl, dass das Kümmern um meine Mutter einen Teil meines Hasses geheilt hat. Der Blick auf ihr Sterben hat mich daran erinnert, dass ich ein fühlendes Wesen bin.
Natürlich hallt alles nach.
Ich bin sensibel, was körperliche Gewalt angeht, wie alle Menschen, die ähnliches erlebt haben. Ich bin mir bewusst, dass mich schlussendlich alles, was ich erlebe und erlebt habe, auf mich selber zurück wirft. Anderen kann man was vormachen. Sich selber nicht.