42.

Am Freitag würde mein Bruder Sven 42 Jahre alt.
42 ist ein wichtiges Alter. Er wäre nun kein junger Mann mehr.
Vielleicht hätte er Kinder. Vielleicht hätte er einen Partner.
Ich stelle mir meinen Bruder immer als rothaarigen, bärtigen Mann vor.

Manchmal scheint es mir so, als würde mein Herz ausserhalb meines Körpers schlagen. Ich vermisse diesen Bruder sehr. Es bringt mich auch 42 Jahre nach seinem Tod zum Weinen.

Das Leben ist vielleicht einfacher, wenn man Geschwister hat. Man trägt viele Lasten gemeinsam, streitet sich.

Ohne Svens Tod wäre das Leben wohl anders verlaufen.
Ich kann mir meine Eltern gar nicht glücklich vorstellen.
Sein Tod hat alles verändert.

Alles, was in meinem Leben von ihm existiert, ist ein Fussabdruck auf blauem Papier und ein Polaroid meiner Eltern, kurz nach seiner Geburt. Sie sehen glücklich, erschöpft und müde aus. Ich glaube, mein Vater hat sich sehr über die Geburt seines Sohnes gefreut. Meine Mutter sieht müde aus. Und glücklich.

Mit Svens Tod brach so vieles zusammen.

Ich hätte sehr gerne einen Bruder im Leben gehabt. Einen Menschen, der den gleichen Namen wie ich trägt. Das wäre unsere eine Gemeinsamkeit gewesen.

Vielleicht hätte er das Lesen und Schreiben auch geliebt. Vielleicht wäre er aber auch ein Mann der Pflanzen und Bäume geworden. Ein Gärtner. Ein Förster.

42 Jahre ist er tot. Ich hätte ihn so gerne gekannt und erfahren, was für ein Mensch aus ihm werden wird. Ich hätte gerne mit ihm gestritten, mich an ihm gerieben und wäre furchtbar gerne seine grosse Schwester gewesen. Dass ich es nicht sein konnte, macht mich traurig.

41

Wenn du noch am Leben wärst, wäre heute dein 41. Geburtstag. Du wärst vielleicht verheiratet und hättest Kinder, eine Ehefrau oder einen Ehemann, einen Labrador Retriever und würdest in einem Riegelhaus im Zürcher Unterland wohnen. Auf dem einzigen Foto, das ich von dir besitze, hast du rotes Haar.

Unsere Eltern sehen darauf glücklich aus. Aber auch sehr müde. Früher hat mich der Blick auf dieses Polaroid, aufgeklebt auf blaues Papier, neben deinem Fussabdruck, erschüttert, weil ich erkannte, wie schwer sie dein Tod treffen würde nach jenem Moment der erschöpften Freude über die Geburt des ersten Sohnes.

Dein Tod war eine Katastrophe für diese Familie. Es hat das Oben nach unten gekehrt und umgekehrt. Dein Leben dauerte drei Tage und dein Tod hat viele Jahre danach noch deine Angehörigen verfolgt.

Dein Tod hat mein Leben all die Jahre geprägt, denn es ist eine seltsame Sache, einen Bruder zu haben, den man nie gesehen und mit dem man nie gespielt hat und der dennoch so wichtig war.

Ich bin dankbar, dass du da warst, wenn auch nur kurz. Lieber hätte ich dich länger an meiner Seite gehabt, lieber Bruder. Das wäre bestimmt ziemlich gut geworden. Du fehlst.

Lebensader

Da gibt es Menschen in meinem Umfeld, die schwer krank sind und an ihrem Leben hängen. Jeder Gedanke, jede Faser ist aufs Leben konzentriert. Und trotzdem vergeht ihr Leben langsam wie Sand in einer Sanduhr. Der geliebte Mensch nimmt rasch ab, die Haut färbt sich langsam durchsichtig, dann gelb. Der Krebs kriecht durch diesen Menschen und man hofft, er möge aufhören zu wachsen und sich nicht länger am Körper dieses Menschen zu laben.

Es gibt Menschen, die sehr alt geworden sind und in ihrer Demenz zwischen Leben und Leben und Tod und Tod schweben. Sie werden immer dünner, kleiner und zerbrechlicher und man kriegt das Gefühl, sie verschwinden langsam, aber sie sind noch da. Sie wirken wie uralte Schmetterlinge aus Seidenpapier.

Es gibt Menschen, deren Leben noch kaum begonnen hat, die als kleine Kinder sterben und man steht daneben und hat wenig Worte und erst recht keinen Trost.

Dann gibt es da Menschen, denen das Leben zu schwer geworden ist. Keine Hoffnung. Kein Sonnenaufgang, kein Lachen und kein Kuss, auf den sie sich noch freuen könnten. Und als Mensch in ihrem Umfeld beginnst du Bahngleise, Fenster im dritten Stock, Äste mit Seilen dran, Schlaftableten oder Armeewaffen zu fürchten.

Du kannst dich den Menschen öffnen und hoffen, dass sie dein Herz sehen. Trauer macht den Menschen verbittert, so sagt man. Ich denke, Trauer macht einen Menschen fassungslos und verletzlich. Der Verlust eines Menschen kehrt alles. Nichts mehr ist wie vorher. Du bleibst zurück mit deinen Erinnerungen, die du nun nicht mehr mit ihm teilen kannst.

Du hast die Wahl zu leben, sagt man. Du hast die Wahl, wie du dein Leben gestalten willst. Du kannst einen Garten bepflanzen und dich an den Rosen, den Schmetterlingen und den vielen Vögeln freuen.

Oder aber du wählst die Planierraupe, fährst alles platt und machst einen Parkplatz draus.
Du hast die Wahl.

Verdauen

Die Wut ist kleiner geworden.
Noch immer denke ich, dass Uschis Tod eine gottverdammte Verschwendung war.
Ich denke auch, dass der Tod meines Bruders eine ungerechte, ungereimte Sache ist.
Zu gerne würde ich wissen, wer wirklich daran Schuld trägt.

Die letzten Tage und Wochen dachte ich oft über meine Mutter nach.
Die Narben unserer Beziehung sind allgegenwärtig.
Ich vergesse nicht, dass sie mich geschlagen und verletzt hat.
Aber ich mag auch nicht vergessen, was ihr an Ungerechtigkeiten passiert ist.

Die familiären Traumata sind eine Sache.
Offenbar begleiten sie uns schon jahrzehntelang.
Ich mag nicht im Gestern herumhängen.

Die nächste Johannisbeerernte steht an.
Der Garten gedeiht.

Wut vor Trauer

ich habe gestern Abend die Reportage „Engelskinder – Sterben am Lebensanfang“ auf SRF1 gesehen. Mich überkam die kalte Wut. In dem Film sitzen Paare, die ihre Kinder verloren haben. Sie erzählen, wie es ihnen nach dem Tod ihres Kindes nach der Geburt erging. Ich aber sehe nur meine Eltern.

1979, als mein Bruder drei Tage nach der Geburt starb, wurden den Müttern ihre toten Kinder nicht hingelegt. Niemand konnte sich von meinem Bruder verabschieden. Das war wohl nicht nur im Kantonsspital Frauenfeld so. Man deponierte ihn in einer Abstellkammer. Wie ein Stück Müll.

Aber damit nicht genug. Ein Arzt gab meiner Mutter die Schuld an seinem Tod. Wie absolut unmenschlich ist das denn?

Wenn ich die Folgen dieses Todes meines Bruders ansehe, überkommt mich das kalte Grausen: Meine Mutter hat sich nie mehr davon erholt. Sie ist quasi mit meinem Bruder gestorben. Sie hat an seinem Todestag jeweils versucht, sich zu töten. Das Familiengefühl bei uns ist brüchig. Es fehlt immer jemand. Es ist, als ob seine Seele noch immer in der Luft ist. Das kommt wohl daher, dass keiner von uns sich jemals von ihm verabschieden konnte.

Der Tod ist nicht besser begreifbar, nur weil die Trauergemeinde ein Baby in einem schuhschachtelähnlichen Sarg begräbt. Es gehört vorher noch was dazu. In früheren Zeiten wurden die Toten nicht sofort weggekarrt. Im späten 19. Jahrhundert und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in unserer Gegend eine andere Kultur des Abschieds.

Menschen wurden tot, aber würdig fotografiert. Ein Abschied war so besser möglich. Anders hätten die Menschen in jenen Zeiten, wo so viele Menschen früh starben, diese Todesfälle, den Verlust, nicht verarbeiten können.

Das einzige Foto, das ich von meinem Bruder habe, ist sein Geburtsbild. Meine Eltern sind drauf, er in der Mitte. Auf der Karte ist ebenfalls ein Abdruck seines kleinen Fusses. Aber sonst gibt es nichts, was darauf schliessen lässt, dass es ihn einmal gegeben hat.

Ich bin wütend, weil meine Eltern keine Hilfe bekamen. Sie sitzen heute nicht nebeneinander vor einer Kamera und sinnieren darüber, wie sie den Verlust bewältigen. Meine Mutter ist tot. Einzig mein Vater redet phasenweise wenig über meinen Bruder. Klarheit, was passiert ist, wird es wohl nie geben. Zu lange ist es her. Aber die Wut muss raus, damit die Trauer Einzug halten kann.