Frühling auf geplatzter Haut

Ich bin froh, kommt nun der Frühling. Er ist meine liebste Jahreszeit. Ich plange drauf, dass die Bäume und Blumen wieder blühen. Das erste Viertel des Jahres ohne meinen Vater ist um. Weihnachten und sein Geburtstag liegen hinter mir.

Vor einem Jahr, als die Pandemie anrollte, haben wir kurz übers Kranksein gesprochen. Vielmehr aber noch über die Freiheit. Rausgehen. Die Natur erleben. Das war sein grösster Wunsch. Und auch meiner.

Wenn ich im Garten arbeite, bin ich meinem Vater nahe. Das fühlt sich an wie eine sanfte Umarmung. Ich vermisse unsere Umarmungen. Seine Stimme. Mein Blick auf die Linde in meinem Garten, die er hasste: „Der Baum gibt zu viel Schatten. Der macht dir das Haus kaputt.“

Da ist die Erinnerung daran, wie wir vor 10 Jahren unsere Krähe Fritzi aufgezogen haben. Papi hat sie gerettet, im Wissen, dass man sie auf jener Weide vermäht hätte. Er rief mich an und sagte: „Komm vorbei. Ich habe eine Krähe gefunden und ziehe sie auf.“ Ich kam so schnell ich konnte, denn ich erinnerte mich daran, dass mein Vater das schon einmal getan hatte. Als Bub hatte er eine weisse Krähe. Die war zahm und folgte ihm auf Schritt und Tritt, sogar bis in die Schule. Auf Geheiss des Lehrers, ein Grund, warum mir Lehrer wohl immer unsympathisch bleiben werden, musste er sie abgeben. Mein Vater erzählte mir, sie sei dann in den Plättlizoo nach Frauenfeld gekommen. Belegen kann ich das leider nicht. Aber wenn mein Vater das sagt, dann muss das wohl gestimmt haben.

Ich frag mich, ob nun meine Trauerzeit bereits beendet ist. Was da noch kommt. Ich weiss: Da ist Ostern, wo wir immer fein essen gingen. Mein Geburtstag im Juli. Da haben wir ebenfalls gemeinsam gefeiert. Der 1. August. Den feierten wir nicht mehr so sehr, seit wir nicht mehr bei Frauenfeld wohnten. In meiner Erinnerung waren das immer schöne Feste. Gute, liebevolle und kritische Gespräche. Feines Essen. Zusammengehörigkeitsgefühl. So, wie sich in meinem Gefühl nach „Familie“ anfühlt.

Ich möchte nicht einfach übergehen zur Normalität. Denn die gibts wohl nicht mehr. Wenn die Eltern tot sind, ist wohl auch die gefühlte Kindheit zu Ende.
Willkommen im Leben.

Kein guter Tag.

Heute ist kein guter Tag.
Heute ist der 73. Geburtstag meines Vaters und er fehlt mir so sehr.
Normalerweise würden wir ab dem späten Nachmittag bei ihm und seiner Frau in der Stube sitzen und feiern.
Der 72. Geburtstag war das letzte Fest des Jahres 2020, an das ich mich noch erinnern kann.

Seit einem Jahr erinnere ich mich an nichts mehr, was mir vorher wichtig war. Ich arbeite viel, ich sitze im Haus oder auf der Terrasse. Ich treffe keine Menschen mehr, so wie früher.

Und nun ist sein Geburtstag. Ohne ihn. Mein Leben ist nicht unbedingt ärmer geworden. Lesen hilft. Und ich bin genügsam.

Aber ich bemerke eine gewisse Müdigkeit im Umgang mit anderen Menschen. Mir fehlt die Übung. Er hatte das nie. Er konnte mit praktisch jedem Menschen reden. Er hat die Menschen einfach angestrahlt.

Heute dann der Gedanke an meinen Vater.
Viele Tränen der Trauer.
Ich vermisse sein Lachen.
Sein liebes, schönes Gesicht.

Vor einigen Jahren hab ich ihm zum Geburtstag eine Jura-Fahne geschenkt.
Er hatte so grosse Freude daran.
Wenn ich an ihn denke, will ich dieses eine Bild vor Augen haben.
„Rassemblement jurassien“ war einer der wenigen Ausdrücke, den er auf französisch beherrschte. Beim Recherchieren bemerkte ich, dass diese Bewegung fast gleich alt ist wie er.
Aus irgendeinem Grund war ihm der Kanton Jura immer sehr wichtig.

Papi, du fehlst.

Das letzte Fest.

Dein 72. Geburtstag am 19. Februar 2020 war das letzte Fest, an das ich mich erinnern kann. Die Zahl 72 mochte ich immer sehr. Sie ist so harmonisch.
Deine Geburtstage in den letzten 25 Jahren waren immer sehr gesellig. All deine Freunde und Freundinnen trafen sich in eurer Stube. Es wurde gelacht, getrunken und fein gegessen. Deine Frau war immer eine wunderbare Gastgeberin.
Ich erinnere mich an so viele gute, tiefgründige Gespräche. An liebevolle, kritische und freundliche Menschen.

Die letzten paar Jahre hast du an deinem Geburtstag mit deinen Gefühlen nicht zurückgehalten. Du hast deine Mitmenschen fadegrad damit konfrontiert, wie es ist, seine Gesundheit und seine Selbständigkeit zu verlieren. Deine Ehrlichkeit hat mir imponiert. Die Zuneigung und Zärtlichkeit deiner Freunde und Freundinnen auch. Sie waren, mehrheitlich, bis zum Ende deines Lebens für dich da.

Natürlich gab es da auch die anderen, und unter denen hast du anfangs gelitten. Die Menschen, die einfach nur nehmen, andere ausnutzen und keine Empathie für andere aufbringen. Doch du hast das alles einfach stehen lassen. Du warst nämlich anders. Ich erinnere mich daran, wie du in den 90ern und 2000ern jeweils betagte Freunde mit Tierfutter beliefert hast. Es war dir wichtig und darum hast du es getan. Du hast keine grosse Sache draus gemacht, nur gemeint, es sei eben wichtig, dass die weiterhin ihre Tiere füttern und züchten können. Das fand ich immer lieb von dir.

Nun ist bald dein 73. Geburtstag. Das ist dein erster Geburtstag, der ohne dich stattfindet. Ich kann mir das nur schwer vorstellen. Du warst schliesslich immer da in meinem Leben. Du warst so ein liebenswerter, guter Mensch. Ich vermisse so sehr die Gespräche über die Natur und Tiere mit dir. Deine Sicht auf die Welt. Deine Sprüche. Ich wäre so gerne mit dir an eine Greifvogelschau, zu einem Falkner gefahren. Ich hätte so gerne gewusst, was du davon hältst.

Vor einigen Tagen sah ich einen Western mit Tom Hanks. Um zehn Uhr nachts griff ich zum Telefonhörer, um dich anzurufen und dir davon zu erzählen. Mit einem Mal war mir klar, dass ich dir nie mehr davon erzählen würde.
Ach, lieber Papi, ich hätte zu gerne noch mindestens ein Jahr mehr mit dir gehabt.

Scheiss Trauer-Arbeit

Meine Trauer verläuft, im Vergleich dazu, als meine Mutter und meine Omi starben, nun beim Tod meines Vaters ganz anders.

Als meine Mutter starb, war das für mich absolut zehrend. Ihr Verlust, das Mitleiden während mehrerer Monate, ihre Odyssee vom Spital, in die Psychiatrie, zurück ins Spital und schliesslich ins Pflegeheim, verbrauchten meine Kraft. Nach ihrem Tod fühlte ich mich ausgequetscht und tieftraurig. Als schönen Moment werte ich noch heute, dass ich mit meiner Omi in den letzten Minuten meiner Mutter dabei sein konnte. Das ist ein Geschenk vom Leben an mich, damit ich mit all den Erlebnissen weiter leben konnte. Meine Trauer zog sich allerdings über mehrere Jahre hin. Ich hatte schwer dran zu beissen.

Das Sterben meiner Omi zog sich über viele Jahre hin. Allerdings spürte ich, wie sie trotz ihrer Demenz viel Lebensqualität hatte und auch sehr lange selber entscheiden konnte, wie es mit ihr weiter gehen würde. Selbst als sie im Pflegeheim war, hatte ich das Gefühl, dass es ihr gut geht und sie liebevoll gepflegt wird. Ich konnte sie so langsam loslassen, im Wissen, sie würde nicht alleine gehen müssen, wenn sie das nicht wollte. Meine Omi blühte im Pflegeheim nochmals so richtig auf: Sie genoss Besuche, sie liebte ihre Pflegenden und nahm jeden Tag aufs Neue an. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es für sie gewesen wäre, während der Corona-Massnahmen in einem (abgeschotteten) Heim zu leben. Ich bin froh und dankbar, dass sie vor vier Jahren gehen konnte. Ich spürte, dass sie jetzt genug hatte und bereit war, loszulassen. Die Trauer um meine Omi verlief, trotz oder wegen unserer engen Beziehung, sehr leicht. Ihr letzter Satz an mich, kurz bevor sie starb, lautete: „Warum bist du denn traurig?“. Das half mir, sie gehen zu lassen. Sie hatte ihr Leben gelebt. Es war ok, wenn sie nun starb.

Ganz anders verhält es sich bei der Trauer um meinen Vater. Er war für mich immer ein Quell von Leben und Energie gewesen. Er war sportlich, fit, unternehmungslustig. Seine Diagnose Kleinhirnatrophie bedeutete für ihn, dass er innerhalb weniger Jahre zu einem Pflegefall wurde. Mitanzusehen, wie aus meinem Vater, der Sport über alles liebte, plötzlich ein pflegebedürftiger, hoch verletzlicher Mann wurde, hat auch mich verändert. Zwei Herzen schlugen in meiner Brust: Vielleicht würde sich alles wieder zum Besseren kehren, er plötzlich wieder gesunden und gleichzeitig die Gewissheit, dass er in den sicheren Tod geht. Die Pandemie mit den verschiedenen Massnahmen und meine berufliche Situation führten dazu, dass wir uns nicht mehr oft sahen. Denn ich wusste eines: Er will nicht ins Pflegeheim. Eine Ansteckung hätte für ihn und seine Frau bedeutet, dass er ganz sicher ins Pflegeheim muss.
Mein helfendes Ich war angeknackst: Ich konnte ihm nur helfen, indem ich nichts tat, ausser die beiden anzurufen, an sie zu denken und selber gesund zu bleiben.
Ehrlich gesagt bemerkte ich in dieser Zeit, dass ich vorher nie gross überlegt hatte, dass mein Vater einmal sterben könnte. Das hat mich recht beschäftigt.

Ich hatte bei seinem Sterben erneut ein Geschenk erhalten: Ich durfte bis kurz vor seinem Tod bei ihm sein. Seine Hand halten. Ein letztes Mal die Tochter meines Vaters sein, im Wissen, dass nachher keiner mehr da sein würde, der mich seit meiner Geburt gekannt hat.

Die Trauer um meinen Vater gestaltet sich kompliziert. Sie kommt in Schüben. Nebst der Erleichterung, dass sein Leiden beendet ist, kommen Momente der Erinnerung, des Verarbeitens gelebter gemeinsamer Momente. Nun weiss ich glücklicherweise, dass mein Vater nie gewollt hat, dass man (ich?) lange um ihn trauert. Das Leben ist jetzt. Wenn er jetzt noch leben würde, könnte ich ihm entgegnen, dass Trauer Leben in reinster Form ist. Aber wie ich ihn kenne, würde er dann wohl sagen: *“Da muesch du sälber wüsse, wa’d du machsch.“ Da hat er wohl recht.

*Du musst selber wissen, was du machst.

Die 73.

Der erste 19. Februar ohne dich.
Wie soll das nur gehen?
Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen deiner Geburtstage ausgelassen zu haben. Ich kann mich an so viele erinnern.

Meist lag Schnee. Oder es regnete in Strömen.
Einmal gewann dein Kaninchen den Schweizer Titel.
Du warst sehr stolz. Und ich auf dich.

Immer waren Freunde von dir da und feierten mit dir.
Trotz deiner Krankheit waren es an deinem letztem Geburtstag nicht weniger.
Sie ertrugen deine starke Trauer und deine Tränen.
Es fielen viele liebe Worte an dich.
Voller Freundschaft und Liebe.

Aber beim letzten Kilometer sind all diese Freundschaften wohl nicht mehr so wichtig. Du hast dich nicht mehr an vieles erinnert.
Du hast viel mehr gefühlt.
Was dir wichtig war.

Ich erinnere mich an den letzten Kilometer.
Du hast so stark und schnell geatmet.
Du warst sehr konzentriert
und dennoch voll da.
Du hast meine Hand gedrückt,
als ich dir ein Märchen erzählte.
Es war, als würdest du mir einen letzten Hinweis geben.
Eine Korrektur. Einen Trost, bei alledem, was nun folgen würde.

In einigen Tagen ist dein 73. Geburtstag.
Ich weiss nicht, wie ich den feiern soll,
jetzt, wo du nicht mehr da bist.