Auf ein Neues!

Geburtstag feiern ohne meine Eltern fällt mir schwer.
Geburtstage waren immer ein besonderer Feiertag, Tage an denen man sich trifft und freut, dass der andere da ist. Zurückdenken an die Geburt, Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Anekdoten.

Meine Omi hat meinen Geburtstag immer besonders zelebriert. Es gab Torte, Geschenke und viele Umarmungen und Küsse. Am Schluss ihres Lebens hat sie zwar nicht mehr immer gewusst, wer ich bin, aber den Tag hat sie im Gedächtnis behalten. Der war wie eingebrannt.

Ich verstand erst viel später, dass wir mit den Geburtstagsfeiern das Leben zelebrierten. Dankbar waren für alle, die (über-)lebten. Verbundenheit im Dasein.

Den Geburtstag meines Bruders Sven, der knapp zwei Jahre nach mir geboren wurde, feierten wir nicht. Sein Tod wiegte schwerer als sein Dasein für drei Tage. Auch heute noch verbinde ich mit dem 20. September 1979 ein Gefühl der tiefen Trauer und Verzweiflung.

Ohne meine Eltern ist Geburtstag anders. Sie fehlen mir sehr.

Vor vielen Jahren begannen mein Vater, seine Frau – und später auch ich – damit, den Geburtstag mit Freunden und der Familie zu feiern. Das war schön und ich fühlte mich mit ihnen verbunden. Ich war immer sehr stolz, wenn sie am Geburtstag zu mir kamen und wir ein paar Stunden feierten.

Feiern bedeutete in meiner Wahrnehmung, dass wir zusammen sassen, redeten und den Moment genossen. Das ist im Sommer etwas anders als im Winter. Der Geburtstag meines Vaters, am 19. Februar 2020 war das letzte Fest für lange Zeit, das wir feierten.

Als mein Vater nicht mehr in unser Haus gehen konnte, weil zuviele Treppen da waren, war ich unglücklich. Wir feierten den Geburtstag einfach auswärts und barrierefrei. Aber ich ahnte auch, dass unsere gemeinsamen Tage abgezählt waren, dass wir nicht mehr so oft zusammen sein würden wie bisher. Dieses Gefühl des baldigen Verlusts hat mich sehr traurig gemacht.

Das Pandemiejahr 2020 war rückblickend schrecklich. Ich hatte mich innerlich zurückgezogen und es ging mir sehr schlecht. Ich wusste, ich würde meinen Vater auch bald betrauern. Ihm nicht helfen zu können bei seiner Erkrankung, seinem schweren Leiden.

Vieles hat sich seither gewandelt. Seit mein Vater im November 2020 starb, bewege ich mich anders durch mein Leben. Manchmal scheint mir, als würde ein Teil fehlen, dann wieder spüre ich, wie ich weitergehe, ohne ihn, und es auch gut ist. Das Leben ist nun anders, seit er nicht mehr lebt.

Oftmals würde ich gerne wissen, was er über mein jetziges Leben denkt. Dass ich das tue, was keiner bisher in unserer Familie gemacht hat. Die Reaktion kann ich mir schon vorstellen. Er wäre stolz, würde es dezidiert und sehr pointiert zur Sprache bringen: „Da het sie nöd vo mir.“

Ich denke sehr oft an ihn, besonders wenn ich glücklich bin und das ist nicht selten. Ich frage mich oft: was würde Papi dazu sagen?
Ich weiss aber auch, dass er gar nicht gewollt hätte, dass ich in irgendeiner Art schwermütig wäre. Das Leben ist ein Kreislauf. Wenn ein Baum gefällt wird oder im Sturm umstürzt, wächst etwas Neues.

Auf ein neues Lebensjahr!

75

Heute wäre Papis 75. Geburtstag.

Als Kind lebte ich in dem Gedanken, dass mein Vater sehr alt werden würde. Er wäre weisshaarig, hätte einen langen weissen Bart und würde an einem Stock gehen. Er sähe ein wenig wie Dumbledore aus, würde reisen und Sport treiben und sein Leben geniessen.

In Wirklichkeit war er 72 Jahre alt, als er starb. Er hatte weissgraue Haare, einen Bart und vor allem einen Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.

Sein 72. Geburtstag war unser letztes, gemeinsames Familienfest. Vor der Pandemie, den Shutdowns.

Sein Tod ist für mich ein wunder Punkt. Ich schlage mich mit Verlustgefühlen herum. Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Ich hätte gerne mit ihm gemeinsam Vögel gepflegt, gerne mehr von ihm gelernt und von seinem Wissen profitiert, das mit ihm gestorben ist. Ich vermisse seine Umarmungen. Seinen Trost. Sein ruhiges Dasein. Ich vermisse seine Tränen. Seine emotionalen Momente in den letzten Monaten seines Lebens.

Mein Vater hatte sehr viel Gewalt in seinem Leben erlebt. Sein Vater war ein harter, verbitterter Mensch, ein Bauer. Er war ein Mann, der mit fast 40, nach dem Krieg zum ersten Mal Vater wurde. Der vermutlich lieber eine Tochter als zweites Kind gehabt hätte. Seine Mutter war liebevoll, aber auch depressiv. Das Elternhaus war typisch thurgauisch protestantisch, ja sogar calvinistisch. Das prägte ihn ein Leben lang. Diese Mischung, bestehend aus unbändigem Fleiss, Gehorsam, Dankbarkeit, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit hat ihn immer begleitet. Und vermutlich ist diese auch auf mich übergegangen. Dahinter steht der Gedanke, dass man dadurch einmal in den Himmel kommt. Das amüsiert mich sehr, denn weder ich noch mein Vater waren jemals gläubig.

Dem Verlust stehen jede Menge Erinnerungen gegenüber. Unsere Gespräche in seinem Kaninchenstall in Hüttwilen, unsere Telefonate während ich von Weinfelden aus ins Toggenburg fuhr. Unsere Ausflüge und Gespräche im Auto, Zug oder auf dem Schiff nach Schaffhausen. Erinnerungen an Theaterbesuche, Kinos und Filme im TV.

Mein Vater war mir sehr nahe. Er war, nach meiner Mutter, der erste Mensch in meinem Leben, der mich in die Arme genommen hat. Der mich geliebt und gefördert hat. Er war es, der mit mir gemeinsam die Urne meiner Mutter auf den Friedhof gefahren hat.

Durch ihn kam ich mit Themen in Verbindung, die ich zuvor anders wahrgenommen hatte, ganz gleich, ob sich es um Barrierefreiheit, den Wolf oder Landwirtschaftssubventionen handelte. Pauschale Urteile haben ihn wütend gemacht.

Seinen Geburtstag werde ich in der warmen Stube, am Laptop verbringen und arbeiten. Das hätte ihm bestimmt gefallen. Happy Birthday, Papi!

ein weiterer Geburtstag ohne ihn.

Das ist ein seltsames Gefühl, denn er war immer an meiner Seite, all die Jahre lang, all die Geburtstage. Sei es in meiner früher Kindheit oder aber später, wenn ich im Spital war oder älter war.

Ich erinnere mich an sein freundliches Gesicht, einen träfen Spruch.

Mein Vater war bei meiner Geburt dabei, und das war damals wohl sehr aussergewöhnlich. Er war neugierig. Lebensfroh. Er machte auch später immer mal wieder Witze darüber, dass er mich, frisch geboren, nackt, in seinen Händen gehalten hatte. Mich gewaschen hatte.

Er wirkt fröhlich, glücklich, wenn er mich auf den frühen Bildern ansieht. Ich bin seine erste Tochter, das erste Kind.

Wir waren uns all die Jahre nahe. Ich liebte ihn sehr. Er war mein wunderbarer Papi, mein Vater. Dä Debrunner. Chüngelizüchter. Sportler. Künstlerisch begabter Mensch. Sensibel. Liebevoll. Vogelflüsterer. Liebender. Gourmet. Reisefüdli. Begeisterter Autofahrer. Freund.

2018 ging es ihm sehr schlecht. Er sagte zu mir, wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet, hätte er in meinem Leben noch sehr viel mehr all das gemacht, was er sich nie getraut hätte.

Im Herbst 2018 meldete ich mich für die Jagdausbildung an. Ich startete im Februar 2019. Mein Vater hat mich von Herzen unterstützt und ermutigte mich all die Monate bis zu seinem Tod.

Wir haben viele Geburtstage und viele 1. August-Feiern zusammen erlebt und das macht mich glücklich. Er fehlt mir sehr. Gerade morgen wird er mir fehlen.

70.

Morgen, am 2. September ist der 70. Geburtstag meiner Mutter. Tot ist sie nun seit bald 14 Jahren. An ihren 40. Geburtstag kann ich mich noch sehr gut erinnern. Es war eine sehr seltsame Zeit. Ich war mitten in der Pubertät und kriegte mit, wie unglücklich meine Mutter war. Wie unglücklich mein Vater war. Was es bedeutet, wenn zwei Menschen miteinander verheiratet sind, die sich längst hätten trennen sollen, damit sie glücklich werden.

Mein Vater wurde es. Bei ihr bin ich mir unsicher.

Ihr Geburtstag war, solange ich mich erinnern konnte, der Startschuss für einen Monat voller Leiden. Am 17. September nämlich ist der Geburtstag meines Bruders, drei Tage später sein Todestag. Meine Mutter versuchte in jenen Tagen viele Jahre lang, auf irgendeine Art ihr Leben zu beenden. Es gelang ihr nicht.

Ich habe mein bisheriges Leben ganz anders als sie gelebt. Ich war nie Mutter eines Kindes, geschweige denn von drei Kindern, so wie sie. Ich war nie verheiratet. Nie geschieden. Vielleicht habe ich, im Gegensatz zu ihr, meine Träume verwirklichen können.

Manchmal wünsche ich mir, ihr Leben wäre anders weiter gegangen, hätte anders geendet. Aber dann denke ich, dass ihr früher Tod in meinem Leben vielleicht für etwas gut war. Dass ich dank dieser Erfahrung in der Lage war, mit Eltern und Trauernden zu arbeiten. Dass meine schwerste Zeit als Tochter für meine berufliche Tätigkeit ein wichtiger Wendepunkt war.

Unsere gemeinsame Zeit war schwierig. Die Wochen, in denen ich sie vor ihrem Tod begleitete, waren aber intensiv und wichtig. Ohne diese Zeit mit meiner sterbenden Mutter hätte ich wohl niemals Omi Paula begleiten können.

In meiner Erinnerung ist meine Mutter eine wunderschöne, dunkelhaarige grosse Frau. Ich liebte ihre braunen Augen und ihren schmalen dunkelroten Mund. Als junge Frau muss sie traumhaft schön ausgesehen haben.

Manchmal wünsche ich mir, ihr Leben wäre anders weiter gegangen. Dass wir morgen Abend miteinander das Leben feiern. Dass sie meine Freundinnen und Freunde kennengelernt hätte. Mit Rotwein auf ihren 70sten anstossen. Dass wir uns in die Arme nehmen und fest drücken und dabei Tränen der Rührung verdrücken, weil das Zusammensein so ein gutes Gefühl ist. Happy Birthday, liebes Mami, liebe Ursle, liebe Uschi. Du fehlst.

Der erste Mann.

Mein Vater war der erste Mann in meinem Leben.
Er bedeutete mir immer viel.

Als ich noch klein war, war er der Mensch, der mich auf Händen trug.
Er war immer stolz auf mich.
Es gibt Fotos, da schaut er mich einfach nur an.
Seine liebenden Augen vergess ich nie.
Wenn ich krank war und im Spital lag, dann litt er mit.
Doch er zweifelte nie daran, dass ich es schaffe, wieder laufen zu lernen.

Wir glichen uns immer sehr.
Er und ich waren Menschen, die die Natur liebten,
beobachteten und sich wohl fühlten im tiefsten Grün eines Waldes, einer Wiese oder hoch auf einem Berg.

Er war es, der mich auf den Kindersitz seines Militärvelos gesetzt hat und mit mir über Berge und durch Täler fuhr.
«Schneller, Papi, schneller!!» schrie ich wohl.

Mein erster Geburtstag ohne ihn. Es scheint mir so irreal, auch wenn er über ein halbes Jahr tot ist. Er war immer da und jetzt ist er es nicht mehr.
Sein Platz bleibt leer und gerade an diesem Tag tut es umso mehr weh, weil mir bewusst ist, was wir alles hatten.

Was bleibt ist jene Nähe zu ihm, wenn ich unter einem Baum sitze, wenn ich den Vögeln zusehe, die durch die Luft fliegen oder wenn ich zum Säntis schaue. Dann scheint es mir, als sitzt er schweigend neben mir und schaut mir lächelnd zu, wie ich mein Leben – ohne ihn – weiterlebe.

Sommer

Mein Vater liebte viele Jahre den Sommer. Es konnte ihm nie warm genug sein.
Ich liebe den Sommer und verleibe ihn mir ein. Ich liebe die Hitze, die Schwüle, das starke Grün der Blätter.

Der Sommer war immer meine liebste Jahreszeit. Sommer war für mich seit frühester Kindheit an eine absolut ambivalente Zeit: Es konnte kühl sein, so dass Omi Fondue auftischte oder so heiss, dass wir uns von Cipollata und Rösti ernährten. Ich liebte als Kind beides.

Die Erinnerungen an den Sommer mit Omi und Opi sind sehr präsent. Im Sommer waren wir uns immer nahe. Der Sommer 1996 war unser letzter als Familie. Danach entfernten wir uns langsam. Opi erkrankte an Leberkrebs, ich erholte mich von einer Kiefer-OP. Wir führten einige gute Gespräche, deren Wert ich erst nach Opis Tod erkannte.

Seit ich ca 32 Jahre war, feierte ich meine Geburtstage mit meinem Vater und seiner Frau. Wir waren uns immer nahe. Die Geburtstage taten ihr übriges, Wir feierten jeweils ein Fest des Lebens mit unseren Freunden. Das habe ich immer sehr schön gefunden, weil es mir aufzeigte, wie wichtig es ist, (als Kinderlose) ein Netz von Freunden um sich zu wissen.

Wir feierten einfach den jeweiligen Tag. Meine Eltern begingen ihre Geburtstage im tiefsten Winter, ich den meinen im Hochsommer.

In wenigen Tagen werde ich 44 Jahre alt und es wird der erste Geburtstag in meinem Leben ohne meinen Vater sein. Ich habe wenig Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Er fehlt mir einfach sehr. Vor einigen Tagen bekam ich von seiner Frau seinen ersten Ehering, seine Fischhalskette und seinen „Grabstein“. Jetzt bin ich Besitzerin von zwei solchen Relikten aus dem Militär.

Ich fühle mich reich beschenkt, weil ich einen liebenden, treusorgenden und sensiblen Vater an meiner Seite wusste. Ihn loszulassen kostet mich viel, weil seine Nähe, seine Liebe nicht missen mag. Ich wünschte mir sehr, dass er an meinem Geburtstag da wäre, aber ich bin auch dankbar, dass er gehen konnte in jener Zeit, wo er so sehr litt.

Diese Ambivalenz zwischen Leben und Tod, diese Lust am Leben und gleichzeitige Dankbarkeit gehen zu können, wenn das Leben zu schwer wird, macht mich demütig. Mein Vater war so lebenslustig, aber auch bescheiden. Er liebte das Leben sehr, hatte Freude an Begegnungen und Erfahrungen.

Mein Vater liebte viele Jahre den Sommer. Es konnte ihm nie warm genug sein.
Ich liebe den Sommer und verleibe ihn mir ein. Ich liebe die Hitze, die Schwüle, das starke Grün der Blätter.

Loslassen und träumen

Ein Freund hat mir vor einigen Tagen geraten, meinen Vater loszulassen. Ich war der Meinung, ich hätte längst losgelassen. Aber das ist, auch nach über einem halben Jahr nach seinem Tod, wohl erst langsam möglich.

Ich bin darüber nicht unglücklich, denn ich halte das erste Jahr nach dem Tod eines Menschen für meine Trauer und mein Abschied nehmen wichtig. Ich entdecke immer wieder aufs Neue, wie ich an meinen Vater denke und ihm den Platz in meinem Leben einräume, damit er danach wirklich gehen kann.

Ein Teil meiner Trauer besteht darin, dass ich meine eigenen Träume lebe. Dass ich das tue, was mich glücklich macht, gleichwohl, was andere denken. Das tut gut. Und ich denke, das ist auch dem langsamen Sterben meines Vaters zu verdanken. Ich will glücklich sein und ich bin es auch, am Ende jedes Tages. Seit vielen Monaten schreibe ich eine tägliche Dankbarkeitsliste, um mich an all das zu erinnern, was ich als schön erlebt habe.

Manchmal flammt Wut in mir auf, etwa wenn ich daran denke, dass Leute bei seiner Beerdigung so nebenbei gesagt haben, wir sollen froh sein, konnte er sterben. Ich sage nichts anderes: Ich bin froh, muss mein Vater nicht mehr leiden. Aber wenn mir das jemand anders sagt(e), dann trifft es mich. Und ich empfinde es als übergriffig. Viel schöner wäre das Leben, wäre er noch da.

In ungefähr einem Monat ist mein 44. Geburtstag. Ich hätte mir gewünscht, er wäre dabei. Seine Anwesenheit bei diesem Fest hat es immer besonders gemacht. Schliesslich ist er mein Vater und ich war ein Teil von ihm.

Manchmal wünschte ich, ich hätte ein Grab, das ich bepflanzen könnte. Aber dann denke ich: Es ist schon richtig so, wie es jetzt ist. Ein Stein auf deinen sterblichen Überresten hätte dich genervt. Du gehörst raus auf eine Blumenwiese, unter einen wunderschönen Baum, geliebter Vater.

Ich hätte mir für seine Beerdigung ein Fest gewünscht, wo die Menschen einander umarmen, gemeinsam weinen und lachen, essen und trinken. Ich war an dem Tag so verheult und damit beschäftigt, überhaupt jemanden hinter der Maske zu erkennen, dass es mich nur gestresst hat. Es macht mich traurig, konnte ich nicht gross mit seinen (mir nicht immer näher bekannten) Freunden sprechen. Das hätte mich getröstet.

Am Samstag habe ich ein Fotoalbum entdeckt, dass meine Mutter und er um 1974 angelegt haben. Damals waren sie frisch verheiratet und ich lerne meine jungen Eltern auf den Bildern nochmals ganz anders kennen. Sie sehen so glücklich und schön aus. Dennoch entdecke ich den ernsten Blick meines Vaters, wie er in die Kamera schaut, so als ob er spürt, was das Leben ihm alles anbieten wird. Er wird schöne und traurige Zeiten erleben. Und vor allem wird er viele Jahre später seine grosse Liebe treffen, die ihm bis zu seinem Tod zur Seite stehen wird. Das finde ich sehr tröstlich.

Was mich in den letzten Wochen erstaunt – und erfreut – hat, ist, dass ich von ihm träume. In meinen nächtlichen Spaziergängen ist er immer so um Mitte 40. Er wirkt kraftvoll und strahlt, weil er glücklich ist. Dieses Bild gefällt mir und so mag ich ihn gerne loslassen, weil ich weiss, dass ein Teil immer bei mir ist.

Processed With Darkroom

Das letzte Fest.

Dein 72. Geburtstag am 19. Februar 2020 war das letzte Fest, an das ich mich erinnern kann. Die Zahl 72 mochte ich immer sehr. Sie ist so harmonisch.
Deine Geburtstage in den letzten 25 Jahren waren immer sehr gesellig. All deine Freunde und Freundinnen trafen sich in eurer Stube. Es wurde gelacht, getrunken und fein gegessen. Deine Frau war immer eine wunderbare Gastgeberin.
Ich erinnere mich an so viele gute, tiefgründige Gespräche. An liebevolle, kritische und freundliche Menschen.

Die letzten paar Jahre hast du an deinem Geburtstag mit deinen Gefühlen nicht zurückgehalten. Du hast deine Mitmenschen fadegrad damit konfrontiert, wie es ist, seine Gesundheit und seine Selbständigkeit zu verlieren. Deine Ehrlichkeit hat mir imponiert. Die Zuneigung und Zärtlichkeit deiner Freunde und Freundinnen auch. Sie waren, mehrheitlich, bis zum Ende deines Lebens für dich da.

Natürlich gab es da auch die anderen, und unter denen hast du anfangs gelitten. Die Menschen, die einfach nur nehmen, andere ausnutzen und keine Empathie für andere aufbringen. Doch du hast das alles einfach stehen lassen. Du warst nämlich anders. Ich erinnere mich daran, wie du in den 90ern und 2000ern jeweils betagte Freunde mit Tierfutter beliefert hast. Es war dir wichtig und darum hast du es getan. Du hast keine grosse Sache draus gemacht, nur gemeint, es sei eben wichtig, dass die weiterhin ihre Tiere füttern und züchten können. Das fand ich immer lieb von dir.

Nun ist bald dein 73. Geburtstag. Das ist dein erster Geburtstag, der ohne dich stattfindet. Ich kann mir das nur schwer vorstellen. Du warst schliesslich immer da in meinem Leben. Du warst so ein liebenswerter, guter Mensch. Ich vermisse so sehr die Gespräche über die Natur und Tiere mit dir. Deine Sicht auf die Welt. Deine Sprüche. Ich wäre so gerne mit dir an eine Greifvogelschau, zu einem Falkner gefahren. Ich hätte so gerne gewusst, was du davon hältst.

Vor einigen Tagen sah ich einen Western mit Tom Hanks. Um zehn Uhr nachts griff ich zum Telefonhörer, um dich anzurufen und dir davon zu erzählen. Mit einem Mal war mir klar, dass ich dir nie mehr davon erzählen würde.
Ach, lieber Papi, ich hätte zu gerne noch mindestens ein Jahr mehr mit dir gehabt.

Die wilde 69

Es gibt Tage, da denke ich sehr oft an dich. Je älter ich werde, desto jünger sehe ich dich vor mir.
Du bist schön, gross, hast lange dunkle Haare und leuchtende braune Augen.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, warst du die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Du warst ein wenig wie Ava Gardner, ein wenig Jane Russell und sehr viel Ali MacGraw.

Ich weiss bis heute nicht genau, wieviel wir gemeinsam haben. Du hast mit mir alle Klassiker (und auch ganz viele Schundfilme) geschaut. Das Kino war eine gemeinsame Leidenschaft und ich bin dir auch heute noch dankbar dafür, dass du mir so viel erklärt und gezeigt hast.

Die Lebenszeit verkürzt sich sehr rasch und ich liebe das Leben genauso wie du. Dass du so jung verstorben ist, ist für mich auch heute noch ein Verlust. Ich hätte dich gerne besser kennengelernt.

Eine Sache habe ich dank dir schon früh gelernt: Das Leben ist ein Wunder und ein Geschenk. Viel zu schnell zerrinnt es einem zwischen den Fingern und man trauert dem ungelebten Leben nach. Du warst da anders: Du hast aus ganzem Herzen gelebt bist zu deinem letzten Tag. Ich bin sehr dankbar, dass ich bis zum Schluss dabei sein durfte.

Blut ist dicker als Wasser

Ich fand diesen Spruch schon als Kind blöd. Ich verstand ihn lange nicht. Als ich es tat, war es noch nicht zu spät.

Als ich mitten in der Betreuerinnenausbildung steckte, behandelten wir auch das Thema Sterben und Tod. In einem Gespräch mit einem Freund äusserte ich, dass ich meine Mutter niemals pflegen oder bis zum Ende begleiten würde. Ich war so voll kindischen Zorns auf sie, dass nur schon die Vorstellung mich auf sie einzulassen, unvorstellbar war.

Im Juli 2007, ich war gerade 30 Jahre alt geworden, erfuhr ich, dass sie todkrank war. Seltsamerweise musste ich nun keine Sekunde überlegen, ob ich mich um sie kümmern würde. Ich wusste es einfach.

Gestern hatte ich Geburtstag. Ich weiss nicht, ob meinem Vater bewusst war, dass ich 42 Jahre alt wurde. Er lächelte mich mit diesem liebevollen, weisen und auch kindlichen Blick an, der all die Trauer eines Lebens spiegelt. „Ich hoffe, du bekommst nie diese Krankheit“, flüsterte er.

Blut ist dicker als Wasser, im besten wie im schlimmsten Fall. Weinen und Traurigsein nützt nicht viel. Das braucht zu viel Energie und leider sind wir alle keine Alpensteinböcke. Ich rief mir das Bild vor Augen, wie sie in steilsten Wänden herumkraxeln und ihr Leben meistern: Man setzt einfach immer einen Schritt vor den nächsten, lässt sich vom Abgrund nicht gross beeindrucken. Und ab und zu knabbert man an Moos.