Silvester 2016

Als um halb vier heute nachmittag das Telefon klingelt, weiss ich genau, dass das nicht gut ist. Ich erkannte die Nummer des Pflegeheims und erwartete das Schlimmste.

Omi geht es sehr schlecht. Sie hat Fieber. Schmerzen. Mag nicht aufstehen. Nicht essen.
Die Pflegende hat Omi gesagt, dass sie mich anruft. Also mache ich mich auf ins Pflegeheim.

Der Gang ins Pflegeheim ist mir wohlbekannt. Ich bin, im Gegensatz zu 2007, als Mami im Pflegeheim lebte, nicht mehr voller Angst, wenn ich das Haus betrete. Mittlerweile kenne ich Omis Pflegeheim gut, bin gerne da und fühle mich fast wohl dort. Aber ich habe Angst, als ich Omis Zimmer betrete.

Omi hat sich sehr verändert. Man sieht ihr das Alter an. Sie ist ein sehr alter Mensch geworden. Sie ist dünn, wirkt zerbrechlich und ihre Hände gleichen zartem Holz, das von Adern wie Ranken durchzogen ist. Ihr Anblick erschreckt mich nicht so sehr wie jener von Mami, als ich sie damals vor bald 10 Jahren sterbend im Pflegeheim angetroffen hatte.

Omi liegt auf der Seite, den Blick an die Wand geheftet, wo Mamis Kinderfoto hängt. Ich begrüsse sie, doch Omi reagiert nicht. Ohne dass ich es will oder verhindern kann, laufen mir die Tränen herunter. Ich spüre eine unglaubliche Traurigkeit in meinem Körper.

Ich setze mich zu Omi hin, berühre sie sanft, fühle mich aber nur wie ein Fremdkörper.
Tausend Bilder fahren durch meinen Kopf. Vor zehn Jahren sassen Omi und ich genauso an Mamis Sterbebett. Ich streichle Omis grauweisses Haar und flüstere.

Ich sage ihr „Omi, ich hab dich sehr gerne.“ Meine Tränen laufen weiter.
Omi dreht sich leicht um, den Blick langsam auf mich richtend.
„Ich hab dich auch lieb.“
Ich kann Omi nicht mal umarmen, weil sie so zerbrechlich ist.

Die Pflegende kommt herein, schaut kurz zu Omi und meint dann, dass Omi den ganzen Tag nicht so fit ausgesehen hat wie jetzt, als ich da bin. Sie streichelt Omi liebevoll und geht wieder.

Ich setze mich an Omis Seite und streichle ihre Hand.
Omi spricht nicht, aber sie hält ganz sanft meine Hand.
Wieder läuft die Musigwälle, wie damals als meine Mutter starb. Ich ertrags nicht.

Ich lege mein Smartphone neben Omi und suche auf youtube Omis Lieblingslieder „Oma so lieb“ und „Mamatschi„.

Wir halten, während die Musik läuft, die Hände und ich kämpfe gegen die Tränen. Als die Lieder fertig sind, sage ich ihr nochmals, wie gerne ich sie habe. Sie lächelt mich an und ich hoffe, dass ich ihr eine kleine Freude gemacht habe. Ich wünsche Omi ein gutes neues Jahr und streichle zart über ihre Hände und ihr Haar, gebe ihr einen Kuss auf die Wange.

Ich bin ruhig, als wir gehen. Was soll ich sagen? Dass ich traurig bin, weil ich Omi nicht verlieren will. Nicht jetzt. Nicht heute. Eigentlich gar nie.

Sascha und ich laufen zu Fuss nach Hause. Es ist kalt draussen. Der Himmel ist klar. Die Luft riecht nach Wald und Bergen.
Alles wird gut.

Weihnachten in der Familie

Weihnachten ist für mich das Fest der Familie. Es gibt Geschenke. Gutes Essen. An Weihnachten sind alle Streite geschlichtet, alle haben sich gern.

In meiner Familie ist das nicht anders. Sascha, mein Vater und seine Frau und ich. Wir beschenken uns. Wir essen gemeinsam. Da wir nicht miteinander streiten, gibts auch keine Differenzen zu bereinigen. Es ist einfach friedlich. Für mich ist Weihnachten aber das Fest, wo ich an jene denke, die nicht mehr da sind und die fehlen.

Vor 20 Jahren feierte ich das letzte Mal Weihnachten mit meinem Opa. Am 7. Januar 1997 starb er mit 72 Jahren. Seine freundliche Art, seine Begeisterung für Musik und sein grosses Interesse an Politik und dem Weltgeschehen fehlt mir sehr. Zu gerne würde ich mit ihm darüber sprechen, wie sich die Welt in den 20 Jahren, wo er nicht mehr bei mir ist, verändert hat.

Meine Mutter fehlt mir auch sehr, denn ihre Art Weihnachten zu feiern, hat mich dann doch sehr geprägt. Ihre geschmückten Christbäume waren bunt und mit Schokolade behängt. Sie liebte Geschenke und Deko.

Mit Omi feiere ich im Pflegeheim.
Wobei jetzt alles anders ist als früher. Omi ist oft müde und erkennt mich nicht mehr. Ich kann sie nicht mehr einfach umarmen und küssen, so wie früher. Auch reden können wir nicht mehr miteinander. Ich streichle ihre Hand, so wie ich es früher immer getan habe.

Man hat mir gesagt, im Herzen erkennt sie mich noch. Aber das tröstet mich nicht in meiner Realität. Denn an Weihnachten, wenn sich alle umarmen und glücklich sind, ist mir mein Verlust noch bewusster. Es tut furchtbar weh.

Das fünfte Weihnachtsessen

Wieder ein Weihnachtsessen mit Paula im Pflegeheim.
Mittlerweile ist es das fünfte, das ich mit ihr in diesem Rahmen erleben durfte. Ich tue mich schwer mit diesem Abend. Das liegt wohl daran, dass das Essen immer am Mittwoch stattfindet, wenn ich meinen Bürotag und eigentlich erst um 16.30h Feierabend habe. Da ich eine knappe Stunde im Abendverkehr unterwegs bin, muss ich um 15h von der Arbeit gehen. Natürlich hat das gestern abend hinten und vorne nicht geklappt. Ich bin um 16.30 zuhause angekommen und hatte nicht mal Zeit, mich in Ruhe umzuziehen. Dass ich Frühdienst hatte und um 4.30 bereits aufgestanden war, machte die Sache nicht einfacher. Ich war wirklich müde.

Da der Anlass um 17h startet, sollte man meinen, man ist um 16.50h früh genug da. Aber natürlich sitzen alle anderen Gäste schon längst im Essraum. Omi wartet im Rollstuhl, mit dem Rücken gegen die Tür und ich fühle mich schlecht.

Omi sitzt da mit geschlossenen Augen. Ihr Gesicht sieht friedlich aus. Sie wirkt uralt, auch wenn ihre wunderschönen Wangen praktisch faltenlos sind. Ich setze mich neben sie. Die Pflegende ist sehr lieb und bittet mich, mich ja zu melden, wenn ich Omi das Essen nicht eingeben will. Sie würde sofort kommen und mir das abnehmen, damit ich in Ruhe das Essen geniessen kann.

Omi ist mittlerweile wohl die pflegebedürftigste Person dieses kleinen Heims.
Alle anderen Bewohner können selbständig essen. Omi aber weiss nicht mehr wie das Besteck halten. Ihre Finger sind sehr verkrümmt.

Ich zerschneide die Vorspeise und gebe Omi Bissen für Bissen ein. Sie isst langsam und mit geschlossenen Augen. Sie scheint das Essen sehr zu geniessen. Sie sitzt da und lächelt sanft. Ich bin ganz versunken in die Begegnung mit Omi, die schlafend kaut, dass ich die Pflegende gar nicht bemerke. Sie spricht mit einem warmen Berner Dialekt und strahlt mich an.

Sie spricht schliesslich über mein Buch und über die Impulse, die es ihr in der Arbeit mit Omi gegeben hat. Ich sitze da und höre zu und kämpfe mit den Tränen. Es ist ganz seltsam. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich bin sehr gerührt. Sie sagt, sie hätte in all den Jahren noch nie einen so besonderen Menschen wie Omi gepflegt. Das Buch hätte ihr sehr geholfen, Omi zu verstehen.

Eine andere Pflegende fragt Omi schliesslich, ob sie weiss, wer ich bin. Omi schaut mich müde an und schüttelt den Kopf. Diese Frage, die ich nie stellen mag, verletzt mich noch immer, auch wenn sie gut gemeint ist. Die Antwort ist für mich seit Jahren eine Ohrfeige. Omi weiss weder meinen Namen, noch meine Geschichte. Sie erinnert sich nicht mehr an meine Geburt, meine Narben oder unsere gemeinsamen Erlebnisse. Es ist, als wäre ich aus ihrem Leben gelöscht. Ich bin nicht mal mehr eine Fussnote in ihrem Leben, weil die Erinnerung daran längst zerronnen ist. Jemand, der das nicht erlebt hat, wird diese Verletzung nie nachvollziehen können.

Die Pflegende mit dem Berner Dialekt spricht mich schliesslich nochmals an. Sie erzählt mir, dass sie Omi am Vortag über das Weihnachtsessen und meinen Besuch informiert hat. Sie motivierte Omi, dass sie sich Kleider für dieses Fest aussucht und sich schön anzieht, wenn Sascha und ich mit ihr essen. Anders als gewöhnlich sei Omi sehr klar in ihrer Äusserungen gewesen. Sie hatte sich die weisse Spitzenbluse ausgesucht.

Wiederum bin ich den Tränen nahe. Omi hat sich für das Weihnachtsessen die Bluse ausgesucht, die sie immer dann getragen hat, wenn wir beide gemeinsam einkaufen oder in den Ausgang gegangen sind.

Ich denke, vielleicht bin ich ja trotzdem nicht weg aus ihrem Leben, auch wenn es meinen Namen, mein Gesicht und meine Stimme nicht mehr für sie gibt.

Weihnachtessenübermorgen

Nächsten Mittwoch sind wir bei Omi im Pflegeheim zum Weihnachtsessen eingeladen.
Ganz im Ernst: mir graut davor.

Ich mag das Pflegeheim wirklich sehr. Die Tradition des Weihnachtsessens ist super, dass Angehörige dabei sein dürfen, finde ich wunderschön. Aber irgendwie habe ich Mühe damit, mit Omi, die müde sein wird, wenig Appetit hat, da zu sitzen, sie zu überreden, dass sie essen oder ihre Medis nehmen oder den Lärm aushalten soll.

Unsere Weihnachtsfeiern zuhause waren immer still. Wir haben im allerkleinsten Familienkreis gefeiert. Es gab Geschenke, Omi kochte Voressen oder wir assen Fondue Chinoise oder Raclette. Wir waren nie mehr als sechs Personen.

Omi hat immer gerne gegessen. Sie hat mir einmal erzählt, dass ihre Eltern so arm waren, dass sie jeweils ins Kapuzinerkloster gehen musste, um dort um Suppe zu bitten. Omi hat nie Essen weggeschmissen. Das alte Brot hat sie, wenn es Resten gab, klein geschnitten und den Enten gefüttert.

Ich bin froh, dass Sascha an meiner Seite ist, denn alleine würde ich den Mittwochabend nicht durchstehen. Ich weiss, dass Omi gut gepflegt wird. Ich weiss, dass alle es gut meinen. Aber ich komme damit nicht klar, dass sie essen soll, auch wenn sie nicht mag.

Ich würde Omi gerne beschenken, so wie sie mich all die Jahre an Weihnachten, und vor allem das ganze Jahr, beschenkt hat. Aber jetzt machen grosse Geschenke keinen Sinn mehr. Sie mag zwar Schokolade und Plüschtiere, aber immer nur Plüschtiere schenken, scheint mir auch doof. Zeit ist das, was ich ihr schenken mag, aber auch das kann sie nur bedingt annehmen.

So bleibt mir nur ein Versprechen, nämlich jenes, das wir uns gegeben haben, als mein Mami vor neun Jahren starb.
„Bleibst du auch bei mir bis zum Ende?“
„Ja, Omi. Aber das Ende kommt hoffentlich weder heute noch morgen.“
„Nein. Aber übermorgen. Oder überübermorgen. Oder überüberübermorgen.“
„Ich habs verstanden, Omi.“
„Ich hab dich lieb.“
„Ich dich auch.“

Ungebetene Gäste

Plötzlich waren sie da.
Ich hatte sie nicht eingeladen. Die ersten beiden Tage nach ihrer Entdeckung konnte ich nicht darüber sprechen. Mit niemandem. Tausend Dinge schwirrten durch meinen Kopf.
Was ist, wenn…?
Was machst du jetzt? Wie soll dein Leben weiter gehen?

Vor zwei Wochen entdeckte ich Knoten in meiner Brust.
Uromi Anna, die 30 Jahre vor meiner Geburt verstarb, litt ebenfalls darunter. Sie wurde 56 Jahre alt.
Darüber nachzudenken, was nun passieren würde, fiel mir schwer. Frauenärztin. Ein Besuch. Die nächste Kontrolle war zwar erst für Februar 2017 geplant, aber dies war wohl eine andere Sache.

In der Phase des Nichtdarübersprechenkönnens musste ich an Omi Paula denken.
„Das kannst du Omi nicht antun!“ schrie eine Stimme in mir.
Ich musste lachen und weinen gleichzeitig. Omi würde nicht mal merken, wenn ich nicht mehr da wäre. Ich schob den Gedanken zur Seite.

Ich dachte an jene Menschen und Dinge, die mir Kraft gaben. Aber bei Omi ging ich nicht vorbei. Denn ich wusste genau, sie würde meine Traurigkeit spüren und es würde sie verwirren. Denn trotz Demenz würde sie noch immer direkt in mein Herz sehen können, so wie sie es immer getan hat, als ich noch ein Kind war und sie meine Oma.

Einige Tage zuvor hatte ich ein Referat übers Trauern gehalten. Dass ich mich nun damit auseinandersetzen musste, dass ich selber vielleicht sehr krank würde, befand ich als Ironie des Schicksals.

Der Termin bei meiner Ärztin verlief gut. Ein Ultraschall. Keine Tumoren. Kein Krebs. Lediglich eine Laune der Natur. Ich war erleichtert. Und dann dachte ich: mit 39 ist es verdammt noch Mal zu früh, um über das eigene Ende nachzudenken.