Kälte im Herzen

Diese Adventszeit ist noch seltsamer als jene der letzten Jahre.
Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich Omi an Weihnachten nicht mehr besuchen.

Dabei scheint mir Omi präsenter in meinem Leben als zuvor. Ihr Bild hängt in unserer Stube, mit gutem Blick auf den Fernseher. Ihre Lieblingsdinge sind sortiert und verstaut im Estrich. Das Gästezimmer ist bereit für Gäste, so wie sie es sich immer erträumt hat.

Beim Dekorieren des diesjährigen Adventsfensters habe ich Omis Lieblings-Baumschmuck genommen. Mein Atelier, das zu ihren Zeiten im Haus eine Abstellkammer war, ist nun ein heller, warmer Raum.

Dieses Jahr findet das Weihnachtsessen in Omis Pflegeheim ohne uns statt. Ich bin nicht traurig. Es war eine Belastung für mich. Vor einem Jahr sass Omi in ihrem Rollstuhl und war in einem Dämmerzustand, während ich ihr das Weihnachtsessen eingab. Ich glaube, sie hat es schon genossen. Aber mir war klar, dass das unser letztes gemeinsames Essen in diesem Leben ist. Ich hätte nie gedacht, dass Loslassen so sein würde.

Manchmal, denke ich, war es einfach zu viel. Ich bin nicht gut im Loslassen. Mein Herz reagiert mit Schmerzen. Natürlich ist es einfacher, nicht mehr zu lieben. Aber das wäre auch falsch.

Ich vermisse Omi in der Vorweihnachtszeit am meisten. Sie hat all die Jahre dafür gesorgt, dass Weihnachten in unserer Familie etwas besonderes war. Sie hat uns alle verwöhnt und beschenkt.
Am Ende des Lebens zählen die Umarmungen, die Momente, wo man einander die Hände reicht, man zueinander hält. Und jetzt fehlt Omi so sehr.

Das fünfte Weihnachtsessen

Wieder ein Weihnachtsessen mit Paula im Pflegeheim.
Mittlerweile ist es das fünfte, das ich mit ihr in diesem Rahmen erleben durfte. Ich tue mich schwer mit diesem Abend. Das liegt wohl daran, dass das Essen immer am Mittwoch stattfindet, wenn ich meinen Bürotag und eigentlich erst um 16.30h Feierabend habe. Da ich eine knappe Stunde im Abendverkehr unterwegs bin, muss ich um 15h von der Arbeit gehen. Natürlich hat das gestern abend hinten und vorne nicht geklappt. Ich bin um 16.30 zuhause angekommen und hatte nicht mal Zeit, mich in Ruhe umzuziehen. Dass ich Frühdienst hatte und um 4.30 bereits aufgestanden war, machte die Sache nicht einfacher. Ich war wirklich müde.

Da der Anlass um 17h startet, sollte man meinen, man ist um 16.50h früh genug da. Aber natürlich sitzen alle anderen Gäste schon längst im Essraum. Omi wartet im Rollstuhl, mit dem Rücken gegen die Tür und ich fühle mich schlecht.

Omi sitzt da mit geschlossenen Augen. Ihr Gesicht sieht friedlich aus. Sie wirkt uralt, auch wenn ihre wunderschönen Wangen praktisch faltenlos sind. Ich setze mich neben sie. Die Pflegende ist sehr lieb und bittet mich, mich ja zu melden, wenn ich Omi das Essen nicht eingeben will. Sie würde sofort kommen und mir das abnehmen, damit ich in Ruhe das Essen geniessen kann.

Omi ist mittlerweile wohl die pflegebedürftigste Person dieses kleinen Heims.
Alle anderen Bewohner können selbständig essen. Omi aber weiss nicht mehr wie das Besteck halten. Ihre Finger sind sehr verkrümmt.

Ich zerschneide die Vorspeise und gebe Omi Bissen für Bissen ein. Sie isst langsam und mit geschlossenen Augen. Sie scheint das Essen sehr zu geniessen. Sie sitzt da und lächelt sanft. Ich bin ganz versunken in die Begegnung mit Omi, die schlafend kaut, dass ich die Pflegende gar nicht bemerke. Sie spricht mit einem warmen Berner Dialekt und strahlt mich an.

Sie spricht schliesslich über mein Buch und über die Impulse, die es ihr in der Arbeit mit Omi gegeben hat. Ich sitze da und höre zu und kämpfe mit den Tränen. Es ist ganz seltsam. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich bin sehr gerührt. Sie sagt, sie hätte in all den Jahren noch nie einen so besonderen Menschen wie Omi gepflegt. Das Buch hätte ihr sehr geholfen, Omi zu verstehen.

Eine andere Pflegende fragt Omi schliesslich, ob sie weiss, wer ich bin. Omi schaut mich müde an und schüttelt den Kopf. Diese Frage, die ich nie stellen mag, verletzt mich noch immer, auch wenn sie gut gemeint ist. Die Antwort ist für mich seit Jahren eine Ohrfeige. Omi weiss weder meinen Namen, noch meine Geschichte. Sie erinnert sich nicht mehr an meine Geburt, meine Narben oder unsere gemeinsamen Erlebnisse. Es ist, als wäre ich aus ihrem Leben gelöscht. Ich bin nicht mal mehr eine Fussnote in ihrem Leben, weil die Erinnerung daran längst zerronnen ist. Jemand, der das nicht erlebt hat, wird diese Verletzung nie nachvollziehen können.

Die Pflegende mit dem Berner Dialekt spricht mich schliesslich nochmals an. Sie erzählt mir, dass sie Omi am Vortag über das Weihnachtsessen und meinen Besuch informiert hat. Sie motivierte Omi, dass sie sich Kleider für dieses Fest aussucht und sich schön anzieht, wenn Sascha und ich mit ihr essen. Anders als gewöhnlich sei Omi sehr klar in ihrer Äusserungen gewesen. Sie hatte sich die weisse Spitzenbluse ausgesucht.

Wiederum bin ich den Tränen nahe. Omi hat sich für das Weihnachtsessen die Bluse ausgesucht, die sie immer dann getragen hat, wenn wir beide gemeinsam einkaufen oder in den Ausgang gegangen sind.

Ich denke, vielleicht bin ich ja trotzdem nicht weg aus ihrem Leben, auch wenn es meinen Namen, mein Gesicht und meine Stimme nicht mehr für sie gibt.

Weihnachtessenübermorgen

Nächsten Mittwoch sind wir bei Omi im Pflegeheim zum Weihnachtsessen eingeladen.
Ganz im Ernst: mir graut davor.

Ich mag das Pflegeheim wirklich sehr. Die Tradition des Weihnachtsessens ist super, dass Angehörige dabei sein dürfen, finde ich wunderschön. Aber irgendwie habe ich Mühe damit, mit Omi, die müde sein wird, wenig Appetit hat, da zu sitzen, sie zu überreden, dass sie essen oder ihre Medis nehmen oder den Lärm aushalten soll.

Unsere Weihnachtsfeiern zuhause waren immer still. Wir haben im allerkleinsten Familienkreis gefeiert. Es gab Geschenke, Omi kochte Voressen oder wir assen Fondue Chinoise oder Raclette. Wir waren nie mehr als sechs Personen.

Omi hat immer gerne gegessen. Sie hat mir einmal erzählt, dass ihre Eltern so arm waren, dass sie jeweils ins Kapuzinerkloster gehen musste, um dort um Suppe zu bitten. Omi hat nie Essen weggeschmissen. Das alte Brot hat sie, wenn es Resten gab, klein geschnitten und den Enten gefüttert.

Ich bin froh, dass Sascha an meiner Seite ist, denn alleine würde ich den Mittwochabend nicht durchstehen. Ich weiss, dass Omi gut gepflegt wird. Ich weiss, dass alle es gut meinen. Aber ich komme damit nicht klar, dass sie essen soll, auch wenn sie nicht mag.

Ich würde Omi gerne beschenken, so wie sie mich all die Jahre an Weihnachten, und vor allem das ganze Jahr, beschenkt hat. Aber jetzt machen grosse Geschenke keinen Sinn mehr. Sie mag zwar Schokolade und Plüschtiere, aber immer nur Plüschtiere schenken, scheint mir auch doof. Zeit ist das, was ich ihr schenken mag, aber auch das kann sie nur bedingt annehmen.

So bleibt mir nur ein Versprechen, nämlich jenes, das wir uns gegeben haben, als mein Mami vor neun Jahren starb.
„Bleibst du auch bei mir bis zum Ende?“
„Ja, Omi. Aber das Ende kommt hoffentlich weder heute noch morgen.“
„Nein. Aber übermorgen. Oder überübermorgen. Oder überüberübermorgen.“
„Ich habs verstanden, Omi.“
„Ich hab dich lieb.“
„Ich dich auch.“

Omiomiomiomiomi!!!!

Das Weihnachtsessen im Pflegeheim. Seit 2012 ist es eine feste Grösse in meiner überfüllten Agenda. Es ist der Abend, an dem wir mit Omi Weihnachten feiern. Eigentlich ist es der Abend, an dem wir mit Omi zusammen sitzen, uns im Gesprächsgewirr rundum anbrüllen und Omi sehr klar zeigt, wie gerne sie Ruhe hat.

Omi zeigt zur Begrüssung auf mich und sagt zur Pflegenden: „Sie ist noch immer ledig.“ Dazu schüttelt sie den Kopf. Ich nicke.

Dieses Jahr sassen wir genau neben der Musik. Ein paar hochmotivierte, talentierte junge Damen der ansässigen Kantonsschule spielten mit ihren Querflöten Weihnachtslieder. Omi, die ich bisher nie für besonders musikalisch gehalten hatte, zuckt bei jedem krummen Ton zusammen. Es ist ihr zu laut. Es klingt fast ein wenig wie damals, als Opa Saxophon oder aber Klarinette gespielt hat.

Wir fangen an zu essen. Eine der Pflegenden fragt mich, ob ich Omi die Medis eingeben mag. Na klar, denke ich. Ist doch mein Beruf.

Noch im Frühling hatte ich Mühe damit. Dieses Mal geht es sehr viel besser. Ich kann auf Omis Mühen und Schluckbeschwerden eingehen. Sie braucht lange. Druck aufsetzen bringt nichts. Ein Sirup ist ihr zu bitter. Es schüttelt sie durch und mir tut es tief drin weh.

Ich denke darüber nach, dass es nicht schön ist, wenn man nicht mehr richtig schlucken kann. Das Problem ist bekannt bei Demenzkranken. Die Folgen sind nicht schön. Ich gebe Omi Löffel für Löffel ein, rede wenig, lächle. Sie wirkt auf mich wie ein sehr altes, grosses Baby. Sie lächelt, macht Witze. Nicht alles schmeckt ihr.

Ich setze keinen Druck auf. Sie muss nichts essen, wenn sie signalisiert, dass es nicht geht. Ich bin für einmal sehr dankbar für bald 17 Jahre Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Ich kann ihren Ausdruck lesen, erst recht, wenn es wenig Worte gibt dafür.

Ich bin 38 Jahre alt und muss daran denken, dass Omi in meinem Alter bereits eine 15jährige, schwer pubertierende Tochter hatte. Ich reiche Omi den nächsten Löffel. Von einer anderen Pflegenden erfahre ich dann, dass Omi fürs Leben gern vor dem Zubettgehen ein Bettmümpfeli isst. Ich lächle. Süsses. War ja klar.

Omi mochte den Hauptgang nicht besonders. Als die Pflegende weg ist, zieht sie eine Tomatenhaut aus ihrem Gebiss hervor. Ich kann ihr etwas Dessert, es gibt unter anderem ein köstliches Orangenmousse, anbieten. Sie liebt es!
Die Tomatenhaut drapiere ich unter dem Zuckerchristbaum, der ebenfalls auf dem Dessertteller ist. Omi quittiert dies mit einem schelmischen Lächeln und mit einem Mal habe ich das Gefühl, dass alles wie immer ist. Omi und ich. Pech und Schwefel. Ich lächle.

 

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Omi schaut mich an, lächelt auch und sagt: „Wer bist du denn?“

Weihnachtsessen und Zweisamkeit

Nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag fuhr ich mit Sascha ins Toggenburg. Weihnachtsessen im Pflegeheim mit Paula.

Der Abendverkehr ist träge. Es ist kalt.
Das Toggenburg aber ist in festliches Licht getaucht. Ich muss an all die Male denken, wo ich mit meinem Vater mitgefahren bin und wie meine Schwester und ich beleuchtete Christbäume gezählt haben. Heute sind da fast keine mehr.

Das Pflegeheim ist festlich geschmückt. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind wie immer gut gelaunt und hilfsbereit. Omi Paula sitzt auf einem Stuhl im Gang und sieht grau und traurig aus. Eine Pflegende tröstet sie. Als Omi uns erblickt, strahlt sie. Sie hatte Angst, wir würden sie vergessen. Welche Ironie.

Wir nehmen Platz. Reden. Trinken. Essen. Omi hat Mühe mit dem vielen Besteck vor sich. Zwei Messer. zwei Gabeln. Ein Löffel. Eine kleine Gabel. Ein Rotweinglas. Ein Weissweinglas. Ein Wasserglas. Es verwirrt sie.

Omi hat wenig Appetit. Zum Glück, denke ich. Letztes Jahr konnte sie sich kaum bremsen. Wir reden wenig. Omi schaut fasziniert einem anderen Bewohner zu, der mit starken Spasmen in seinem Stuhl sitzt.

Dann, mit einem Mal schaut sie Sascha und mich an und lächelt uns zu.
„Gell, ihr zwei, es wär schono schö, wenn ihr beidi mol zäme chönntet si und’s schö mitenand händ.“
Verschmitzt widmet sie sich wieder ihrem Essen.

 

Übersetzung:
„Nicht wahr, ihr beiden, es wäre wunderbar, wenn ihr zusammen wärt und Sex miteinander hättet.“