Panta rhei.

Am 11. Oktober 2012 startete ich, damals im Thurgau wohnhaft, mit meinem Blog „Demenz für Anfänger“. Ich beschrieb die Reise meiner Omi Paula ins Pflegeheim, hielt Rückschau auf unser familiäres Zusammenleben, unsere gemeinsamen Verluste. Omi und ich erlebten viel in jener Zeit. Sie verfolgte, so lange es ging, was ich schrieb, auch wenn sie nicht immer verstand, was das Internet ist und worum es in unserem Blog ging.

Was sie aber verstand und vor allem tief spürte, war, dass ganz viele Menschen sie ins Herz geschlossen hatten. Sie war eine sehr liebevolle, fröhliche und offene Persönlichkeit. Während ihrer Demenzerkrankung lernte sie viele neue Menschen kennen und konnte sich auch auf sie einlassen.

Mich hat die Arbeit am Blog durch halb Deutschland und ein wenig durch die Schweiz geführt. Als ich über uns schrieb, war Demenz „ein privates Problem“ und man hat mir mehr als einmal nahe gelegt, nicht so offen über unsere Erlebnisse und meine eigene Gefühlswelt zu schreiben. Das hielt mich aber nicht davon ab, über Demenz zu schreiben.

Nun, ziemlich genau 11 Jahre und 1 Buch später beende ich dieses Schreibprojekt. Omi ist mittlerweile über 6 Jahre tot, mein Vater bald 3 Jahre. Mein Leben hat sich stark verändert, ich bin beruflich und privat anders unterwegs. Was mich noch immer mit meiner Familie verbindet, ist unser Haus. Ich nenne es „Paulahaus“, weil sie 30 Jahre lang hier gelebt und den Jahreszeiten und der Kälte getrotzt hat. Hier möchte ich weiter leben, das Leben feiern und mich mit FreundInnen treffen.

Mein Leben nimmt nun weitere, neue Bahnen ein. Gerne werde ich in meinem Blog http://www.meineigeneshaus.wordpress.com darüber schreiben. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn du mich weiterhin auf meinem Weg begleitest.

Septemberrauschen

Am 2. September 2007 feierte meine Mutter ihren 56. Geburtstag. Sie lebte zu der Zeit bereits im Pflegeheim in Wil und wurde palliativ begleitet. Ich war gerade mal 30 Jahre alt und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie nicht mehr da wäre.

Ich weiss nicht mehr, ob Omi sie an dem Tag besuchte.
Wie feiert man den Geburtstag eines Menschen, wenn man weiss, dass es sein letzter in diesem Leben ist?
Meine Mutter liess sich von alledem nichts anmerken. Sie genoss ihren Ehrentag. Sie feierte mit Traubensaft und Spaghetti.

Zwei Wochen später würde die Zeit beginnen, die ich als Kind als schreckliche Tage wahrgenommen hatte. Am 17. September war der Geburtstag meines Bruders, drei Tage später sein Todestag. Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter jeweils versucht, sich an diesen Tagen das Leben zu nehmen. Es war ihr all die Jahre nicht gelungen, weil es vermutlich nicht sein sollte.

Nun sassen wir da, in diesem getäferten Zimmer des Pflegeheims. Sie lebte noch immer, aber nicht mehr lange. Der Tod meines Bruders war nicht mehr präsent. Ihr ging es nur noch ums Leben.
„Ich hätte gerne noch Enkel gehabt“, meinte sie lakonisch.
„Diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen“, antwortete ich.

Kinder zu haben war nicht mein Weg gewesen. Ich habe es nicht bereut. Nicht mal in dem Moment, als sie es kurz vor ihrem Tod ansprach. Hätte ich Kinder gehabt, hätte ich vermutlich ihre letzten Monate nicht begleiten können und wollen. Nicht in dem Masse, in dem ich es damals getan hatte.

16 Jahre nach diesem Geburtstag ist mein Leben komplett anders, als ich es damals gedacht und überhaupt je erwartet hätte. Ich bin froh darum, dass alles anders gekommen ist. Dass ich hier lebe, wo ich jetzt lebe, in Omis Haus. Dass ich den Garten habe, den ich zu bändigen versuche und der doch immer wieder grüner und wilder ist als früher.

Ihren Geburtstag habe ich mit Menschen verbracht, in der Natur, im Obertoggenburg. Ich war nicht traurig. Manchmal denke ich natürlich darüber nach, was sie jetzt über mein Leben sagen würde. Vermutlich wäre sie erstaunt. Oder auch nicht.
„Du machst ja eh, was du willst. Du hast, wie ich einen richtigen Mettler-Grind“. Ja. Das auch. Das Denken und Handeln von ihr und meinen Grosseltern mütterlicherseits und das Herz und den Körper der Debrunners, meines Vaters Seite. Eine explosive Mischung.

Ich habe viele Jahre mit ihr gefühlt. Ich glaube, ich habe nach der Erfahrung mit meinem kleinen Bruder früh entschieden, dass ich keine Kinder will und – erst recht kein Kind begraben. Ein Leben für ein Leben. Das ist nicht meine Sache.

Hirschtränke

In ein paar Wochen wird das Grab meiner Mutter Ursula Debrunner aufgelöst. Sie ist 2007 gestorben, damals war ich gerade mal 30 Jahre alt. Nun gilt es nach einer Lösung für ihren Grabstein zu suchen. Ihr Grabstein war mir all die Jahre tatsächlich Trost. Der Bildhauer hat seine eigene Hand in den Rheinstein gehauen als Zeichen dafür, dass über meiner Mutter immer eine beschützende Hand ruht.

Mein Nachname Debrunner bedeutet „Hirschbrunnen“ oder Hirschtränke. Der Hirsch ist quasi Teil unserer DNA. Mein Vater ist jetzt bald 3 Jahre tot. Er stammte aus Wetzikon TG, einem Ort mit vielen Wäldern und gefühlt grosser Dunkelheit.

Im Sommer 2023 traf ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einen Hirsch. Für mich war das eine der schönsten Begegnungen in meinem Leben.

Ich wurde nur auf den Hirsch aufmerksam, weil ich während der Jagd das Schrecken eines Rehs hörte und das über längere Zeit. Ich bewegte schliesslich mich langsam in dem Gelände fort, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde und weil ich unbedingt wissen wollte, was da los war.

Als erstes erblickte ich die Rehgeiss, die laut und klar mitten auf der Wiese ihren Unwillen klar tat, dass da ein Hirsch stand. Sie bellte ihn an. Er liess sich nicht davon stören. Ich sah ihn und mir stiegen die Tränen in die Augen. Er war wunderschön, stolz und gross. Er stand einfach da und äste, blickte mich und wieder an und liess sich nicht von mir oder irgendwem stören. Ich hatte bis anhin noch nie ein derart grosses Tier in freier Wildbahn gesehen. Ich setzte mich auf jene Wiese über der Stadt hin. Ich kostete jeden Augenblick unserer Begegnung aus. Irgendwann wurde es dunkel und er zog sich zurück in den Schutz des Waldes und ich ging meines Weges.

Was bleibt ist die Erinnerung an jenes wundersame Tier, ein paar Fotos und mein Gefühl, wie wunderbar behütet ich mich fühlte, wie sehr ich ein Teil der Natur war, wie tröstend diese Begegnung war.

Auf ein Neues!

Geburtstag feiern ohne meine Eltern fällt mir schwer.
Geburtstage waren immer ein besonderer Feiertag, Tage an denen man sich trifft und freut, dass der andere da ist. Zurückdenken an die Geburt, Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Anekdoten.

Meine Omi hat meinen Geburtstag immer besonders zelebriert. Es gab Torte, Geschenke und viele Umarmungen und Küsse. Am Schluss ihres Lebens hat sie zwar nicht mehr immer gewusst, wer ich bin, aber den Tag hat sie im Gedächtnis behalten. Der war wie eingebrannt.

Ich verstand erst viel später, dass wir mit den Geburtstagsfeiern das Leben zelebrierten. Dankbar waren für alle, die (über-)lebten. Verbundenheit im Dasein.

Den Geburtstag meines Bruders Sven, der knapp zwei Jahre nach mir geboren wurde, feierten wir nicht. Sein Tod wiegte schwerer als sein Dasein für drei Tage. Auch heute noch verbinde ich mit dem 20. September 1979 ein Gefühl der tiefen Trauer und Verzweiflung.

Ohne meine Eltern ist Geburtstag anders. Sie fehlen mir sehr.

Vor vielen Jahren begannen mein Vater, seine Frau – und später auch ich – damit, den Geburtstag mit Freunden und der Familie zu feiern. Das war schön und ich fühlte mich mit ihnen verbunden. Ich war immer sehr stolz, wenn sie am Geburtstag zu mir kamen und wir ein paar Stunden feierten.

Feiern bedeutete in meiner Wahrnehmung, dass wir zusammen sassen, redeten und den Moment genossen. Das ist im Sommer etwas anders als im Winter. Der Geburtstag meines Vaters, am 19. Februar 2020 war das letzte Fest für lange Zeit, das wir feierten.

Als mein Vater nicht mehr in unser Haus gehen konnte, weil zuviele Treppen da waren, war ich unglücklich. Wir feierten den Geburtstag einfach auswärts und barrierefrei. Aber ich ahnte auch, dass unsere gemeinsamen Tage abgezählt waren, dass wir nicht mehr so oft zusammen sein würden wie bisher. Dieses Gefühl des baldigen Verlusts hat mich sehr traurig gemacht.

Das Pandemiejahr 2020 war rückblickend schrecklich. Ich hatte mich innerlich zurückgezogen und es ging mir sehr schlecht. Ich wusste, ich würde meinen Vater auch bald betrauern. Ihm nicht helfen zu können bei seiner Erkrankung, seinem schweren Leiden.

Vieles hat sich seither gewandelt. Seit mein Vater im November 2020 starb, bewege ich mich anders durch mein Leben. Manchmal scheint mir, als würde ein Teil fehlen, dann wieder spüre ich, wie ich weitergehe, ohne ihn, und es auch gut ist. Das Leben ist nun anders, seit er nicht mehr lebt.

Oftmals würde ich gerne wissen, was er über mein jetziges Leben denkt. Dass ich das tue, was keiner bisher in unserer Familie gemacht hat. Die Reaktion kann ich mir schon vorstellen. Er wäre stolz, würde es dezidiert und sehr pointiert zur Sprache bringen: „Da het sie nöd vo mir.“

Ich denke sehr oft an ihn, besonders wenn ich glücklich bin und das ist nicht selten. Ich frage mich oft: was würde Papi dazu sagen?
Ich weiss aber auch, dass er gar nicht gewollt hätte, dass ich in irgendeiner Art schwermütig wäre. Das Leben ist ein Kreislauf. Wenn ein Baum gefällt wird oder im Sturm umstürzt, wächst etwas Neues.

Auf ein neues Lebensjahr!

Wurzeln

Am Freitag habe ich – mit etwas Verspätung – die Gräber meiner Mutter und meiner Grossmutter neu gestaltet. Das tue ich immer im Frühling, gerne um den Geburtstag meiner Omi, am 6.5.

Dieses Jahr habe ich das letzte Mal das Frühlingsgrab meiner Mutter neu gemacht. Am 17.10.2007 ist sie gestorben, bald wird ihr Grab aufgehoben. Die Gräber links neben ihrem sind bereits vor einem Jahr verschwunden.

Meine Mutter wollte nie ein Grab, dass sie eines bekam, ist meiner Oma geschuldet, die einen Ort brauchte, wo sie um ihre Tochter trauern konnte. Wir fanden es in Lichtensteig, wo Omi bis 2012 lebte.

Vor vielleicht 14 Jahren habe ich Tulpenzwiebeln auf Mamis Grab gepflanzt. Gestern habe ich die Zwiebeln ausgegraben und mit nach Hause genommen. Ich möchte sie gerne in unserem Garten pflanzen.

Wenn ihr Grab verschwindet, verschwindet auch ein weiterer Hinweis, das sie jemals gelebt hat. Dann existiert sie nur noch in meiner Erinnerung.

75

Heute wäre Papis 75. Geburtstag.

Als Kind lebte ich in dem Gedanken, dass mein Vater sehr alt werden würde. Er wäre weisshaarig, hätte einen langen weissen Bart und würde an einem Stock gehen. Er sähe ein wenig wie Dumbledore aus, würde reisen und Sport treiben und sein Leben geniessen.

In Wirklichkeit war er 72 Jahre alt, als er starb. Er hatte weissgraue Haare, einen Bart und vor allem einen Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.

Sein 72. Geburtstag war unser letztes, gemeinsames Familienfest. Vor der Pandemie, den Shutdowns.

Sein Tod ist für mich ein wunder Punkt. Ich schlage mich mit Verlustgefühlen herum. Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Ich hätte gerne mit ihm gemeinsam Vögel gepflegt, gerne mehr von ihm gelernt und von seinem Wissen profitiert, das mit ihm gestorben ist. Ich vermisse seine Umarmungen. Seinen Trost. Sein ruhiges Dasein. Ich vermisse seine Tränen. Seine emotionalen Momente in den letzten Monaten seines Lebens.

Mein Vater hatte sehr viel Gewalt in seinem Leben erlebt. Sein Vater war ein harter, verbitterter Mensch, ein Bauer. Er war ein Mann, der mit fast 40, nach dem Krieg zum ersten Mal Vater wurde. Der vermutlich lieber eine Tochter als zweites Kind gehabt hätte. Seine Mutter war liebevoll, aber auch depressiv. Das Elternhaus war typisch thurgauisch protestantisch, ja sogar calvinistisch. Das prägte ihn ein Leben lang. Diese Mischung, bestehend aus unbändigem Fleiss, Gehorsam, Dankbarkeit, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit hat ihn immer begleitet. Und vermutlich ist diese auch auf mich übergegangen. Dahinter steht der Gedanke, dass man dadurch einmal in den Himmel kommt. Das amüsiert mich sehr, denn weder ich noch mein Vater waren jemals gläubig.

Dem Verlust stehen jede Menge Erinnerungen gegenüber. Unsere Gespräche in seinem Kaninchenstall in Hüttwilen, unsere Telefonate während ich von Weinfelden aus ins Toggenburg fuhr. Unsere Ausflüge und Gespräche im Auto, Zug oder auf dem Schiff nach Schaffhausen. Erinnerungen an Theaterbesuche, Kinos und Filme im TV.

Mein Vater war mir sehr nahe. Er war, nach meiner Mutter, der erste Mensch in meinem Leben, der mich in die Arme genommen hat. Der mich geliebt und gefördert hat. Er war es, der mit mir gemeinsam die Urne meiner Mutter auf den Friedhof gefahren hat.

Durch ihn kam ich mit Themen in Verbindung, die ich zuvor anders wahrgenommen hatte, ganz gleich, ob sich es um Barrierefreiheit, den Wolf oder Landwirtschaftssubventionen handelte. Pauschale Urteile haben ihn wütend gemacht.

Seinen Geburtstag werde ich in der warmen Stube, am Laptop verbringen und arbeiten. Das hätte ihm bestimmt gefallen. Happy Birthday, Papi!

Von bunten Farben und der Pinkfalle

Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter ein Babykleidchen in Gelb in einem Schaufenster so schön gefunden hat, dass meine Omi es gekauft hat, Das war einige Zeit vor meiner Geburt. Ich weiss nicht mal mehr, wie dieses Kleidchen ausgesehen hat und ob es noch immer in jener Kiste ist, die ich von meiner Mutter geerbt habe.

Als kleines Mädchen hatte ich jede Menge Barbies in pinken Kleidchen. Die mochte ich wirklich sehr gern, weil sie so schön waren. Pink wurde nicht zu meiner Lieblingsfarbe in jenen Jahren. Blond nicht zu meiner Lieblingshaarfarbe.

Es gab tatsächlich eine Phase in meinem Leben, wo ich gerne ein Junge gewesen wäre. Ich wünschte mir, all die Trauer um meinen Bruder wieder gut zu machen. Ich wäre verdammt gerne ein mutiger Junge, ein braver Sohn für meine Eltern gewesen. Ich hätte sehr gerne jene eine Lücke in ihrem Leben ausgefüllt, weil ich gespürt habe, wie sehr sie ihn geliebt hätten. Aber das war keine Sache von Farben. Keine Macht der Welt hätte meinen Eltern meinen Bruder zurückgegeben, ganz egal, welche Farbe ich als älteste Tochter getragen hätte.

Jahrelang hatte ich weiss vor Augen, wenn ich an meinen toten Bruder dachte. Weiss ist die Farbe der Trauer und ich mag sie nicht besonders.

Als ich neun Jahre alt war, wurden grün und braun zu meinen Lieblingsfarben. Damals war ich unsterblich in Robin Hood verliebt und ich konnte mir gar nicht vorstellen, nicht wie ein Baum oder ein Gebüsch herum zu laufen. (Diese Liebe hält bis heute an. Grün ist meine absolute Lieblingsfarbe). In den 80er Jahren kam es allerdings eher schlecht an, wenn sich ein (gehbehindertes) Mädchen einen männlichen, englischen Volksrebellen als Vorbild nahm.

Irgendwann Ende der 90er war tiefblau meine Lieblingsfarbe. Yves Saint Laurent hätte seine helle modische Freude an mir gehabt.

Mitte der 2000er Jahre war meine Lieblingsfarbe schwarz. Und dunkelgrau. Das bewegte meine Mutter zu dem Satz: „Ich bi im Fall no nöd tot, gäll?“ Ich konnte mich nur schwer von schwarz trennen, weil ich sie die schönste der Nichtfarben betrachte.

Seit ihrem Tod wagte ich mich an farbigere Kleidung. An Gelb. Blau. Grün. Rot. An Schmuck. Je bunter desto besser. Ich wurde langsam selbstbewusster und mutiger, was meine Kleiderwahl anging.

Vor drei Jahren hatte ich keine Freude mehr an gefärbten Haaren. Ich musste an das ergraute, feine Haar meines Vater denken. Daran, wie lockig und ungezähmt meine Haare sind. Ich hörte also auf mit Anfang 40 meine Haare zu färben. Ich lasse sie wachsen. Die weisse Locke, die seit dem Tod meiner Mutter aus mir herauswächst, ist sichtbar, wenn man sie sehen will.

6 Jahre später

Am 9. Januar ist meine Omi 6 Jahre tot. 6 Jahre. Sie starb 20 Jahre nach meinem Grossvater und knapp vier Jahre vor meinem Vater. Was für ein Leben. Sie erkrankte 1940 an einer Hirnhautentzündung und ist daran fast gestorben. Sie kämpfte sich zurück ins Leben. Ganz langsam. Aber auch sehr stur. Wenn sie das alles nicht geschafft hätte, wäre ich heute nicht am Leben.

Omi begleitet mich nach wie vor in meinem eigenen Leben. Wenn ich fremde Städte erkunde oder in den Züri Zoo gehe. In Stein am Rhein und in Berlin. Vielleicht auch, wenn ich irgendwann mal in diesem Leben nach Lourdes oder nach Rom fahre. Wann immer ich durch Lichtensteig gehe. Oder durch Wattwil. Oder durch Wil, unsere gemeinsame Geburtsstadt.

Meine Omi würde sich wundern, wie warm das Haus – ihr Haus – nun ist, nachdem wir letzten Frühling das Dach renovieren liessen. Es fühlt sich alles anders an: starker Regen, Sturm und Schnee. Manchmal hören wir nicht mal mehr, wie stark es windet. Das war noch vor einem Jahr anders. Nachdem wir erfuhren, wie wenig Balken unser Dach hatte, ist es beruhigend.

Am 7.1. ist mein Opi Walter 26 Jahre tot. Als er starb, war ich knapp 20 Jahre alt, trug eine sehr grosse Spange und hatte keine Ahnung, was mich noch alles erwarten würde. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut, wenn er miterlebt hätte, dass ich nun ein Blasinstrument (leidlich) spielen kann.

Ich muss immer wieder mal daran denken, dass sich mein Vater und mein Grossvater einige Tage vor Opis Tod via mich ausgesöhnt hatten. Mein Opi war wütend auf meinen Vater gewesen, weil sich meine Eltern hatten scheiden lassen.

Ein heftiger, grosser Streit, der schlussendlich am Telefon geklärt werden konnte. Mein Opi sagte: „Ich bin nicht mehr wütend auf dich.“ Und mein Vater antwortete: „Ok.“

Das macht mir Hoffnung für alle weiteren Streitigkeiten im Leben. Miteinander reden, so von Mensch zu Mensch im Angesicht des Todes, öffnet Türen. Sterblich sind wir alle.

Der Weihnachtswunsch und die Jura-Frage

Seit ich mich erinnern kann, war mein Vater ein leidenschaftlicher Anhänger des Kantons Jura. Er sprach seiner Lebtage kein Wort Französisch. Aber das hielt ihn nicht davon ab, die Landschaft und die Menschen, die dort leben, sehr zu mögen. Ihm, dem Thurgauer Bauernsohn, gefiel ihr rebellischer Geist, ihr Kampf gegen den übermächtigen Kanton Bern. Die ewige Story von Klein gegen Gross.

Ich habe seine Liebe zum Kanton Jura immer mit dem Jahr 1979 verbunden. Der Kanton Jura wurde nämlich am 1. Januar 1979 souverän, dem Geburtsjahr meines verstorbenen Bruders. All die Jahre verfolgte er die Berichterstattung in den Medien und empfand grosse Sympathie für die „Separatisten“.

Im Sommer 2009 stellte er sich eine Fahnenstange in seiner Kleintieranlage auf. Dort hisste er die Schweizerfahne und die Fahne seines Quartiers, welcher er von seinen Freunden zur Einweihung der Stange erhalten hatte. Ich wurde von ihm zur Fahnengotte ernannt. Wenn ich ihn schüchtern fragte, ob es etwas gebe, das er sich zu Weihnachten wünsche, antwortete sofort: „Schenk mir mal eine Jura-Fahne. Die wünsch‘ ich mir.“
Nun, er hätte sie sich wohl selber kaufen können. Aber er tat es nicht. Ich verstand: Er wünschte sie sich von mir, seiner ältesten Tochter.

2010, einige wenige Tage vor Weihnachten machte ich mich schliesslich auf in ein Thurgauer Fahnengeschäft. Und oh Wunder: Es hatte dort genau eine einzige, vorrätige Jura-Fahne. Und die kaufte ich dann für ihn. Ich erinnere mich noch genau daran, wie er am Weihnachtsfeiertag die Schachtel, in die ich sie verpackt hatte, öffnete. Er strahlte wie ein kleiner Junge, lachte, die Tränen liefen ihm übers Gesicht und er zeigte voller Stolz allen Familienmitgliedern seine Fahne.

Vor zwei Jahren starb mein Vater. Einer der Gegenstände, die ich von ihm erben durfte, waren seine Schweizerfahne, die er als junger Mann jeweils an Formel1-Rennen in Monza schwenkte – und: die Jura-Fahne.

Heute morgen musste ich an genau diesen Moment denken. Ich sass in einer Sitzung, sah die Pushmeldung der Wahl von BR Baume Schneider aus dem Jura. Für einen Moment lief mir eine Träne übers Gesicht und ich lächelte.

Wenn mein Vater noch leben würde, dann würde er heute Abend demonstrativ und sehr stolz, mit Tränen in den Augen die geliebte Jura-Fahne hissen und mit uns auf die neue, erste jurassische Bundesrätin trinken.

Nun ist es wohl an mir, die Jura-Fahne im Garten zu hissen.

Lass los

Zwei Jahre ist er nun tot. 24 Monate ohne ihn.
Ich erlebte einen wunderschönen Herbst, die Trauer drückte nicht mehr so sehr wie noch vor einem Jahr. Ich pendelte zwischen Toggenburg, dem Thurgau und Bern und entdeckte so die sommerliche Schönheit unserer Hauptstadt.

Ich verbrachte nebst Arbeit und Studium sehr viel Zeit an der frischen Luft und konnte jede Menge Tiere beobachten. Das machte mich sehr glücklich.
Im Frühling wurde unser Haus frisch gedeckt und jetzt, im Spätherbst, können wir in warmen Räumen leben ohne so viel wie in den Vorjahren heizen zu müssen. Bei all dem Neuen in meinem Leben erkenne ich etwas: ich konnte meinen Vater loslassen.

Mitte November – am 2. Todestag meines Vaters – erlebte ich zwei wunderbare Tage im Greifvogelpark Buchs. Ich absolvierte zwei Ausbildungstage der FBA und – blickte zum ersten Mal in meinem Leben einem grossen Greifvogel in die Augen. Rojo heisst er und er ist ein Seeadler. Er ist ein wunderschönes, prächtiges, stolzes Tier.
Als ich ihn auf meinem Arm hielt, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Wie gerne hätte ich mit meinem Vater diesen einen Moment geteilt! Wie gerne hätte ich ihm davon erzählt, ihm Bilder gezeigt und mit ihm über diese wunderbare Begegnung gesprochen.

Doch im gleichen Moment, wie ich daran dachte, spürte ich, wie nah mir mein Vater in Gedanke und Gefühl ist. Dass ich nicht traurig sein brauche, weil all das, was er in jenem Moment gesagt und gedacht hätte, längst Teil von mir ist und bis zu meinem letzten Tag bleiben wird. So blickte ich in Rojos Augen, ächzte ein wenig, weil 3,750kg doch irgendwann ein bisschen schwer wiegen und freute mich einfach über diesen einen Moment.

Abends fuhr ich nach Hause, überglücklich. Reich beschenkt.