75

Heute wäre Papis 75. Geburtstag.

Als Kind lebte ich in dem Gedanken, dass mein Vater sehr alt werden würde. Er wäre weisshaarig, hätte einen langen weissen Bart und würde an einem Stock gehen. Er sähe ein wenig wie Dumbledore aus, würde reisen und Sport treiben und sein Leben geniessen.

In Wirklichkeit war er 72 Jahre alt, als er starb. Er hatte weissgraue Haare, einen Bart und vor allem einen Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.

Sein 72. Geburtstag war unser letztes, gemeinsames Familienfest. Vor der Pandemie, den Shutdowns.

Sein Tod ist für mich ein wunder Punkt. Ich schlage mich mit Verlustgefühlen herum. Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Ich hätte gerne mit ihm gemeinsam Vögel gepflegt, gerne mehr von ihm gelernt und von seinem Wissen profitiert, das mit ihm gestorben ist. Ich vermisse seine Umarmungen. Seinen Trost. Sein ruhiges Dasein. Ich vermisse seine Tränen. Seine emotionalen Momente in den letzten Monaten seines Lebens.

Mein Vater hatte sehr viel Gewalt in seinem Leben erlebt. Sein Vater war ein harter, verbitterter Mensch, ein Bauer. Er war ein Mann, der mit fast 40, nach dem Krieg zum ersten Mal Vater wurde. Der vermutlich lieber eine Tochter als zweites Kind gehabt hätte. Seine Mutter war liebevoll, aber auch depressiv. Das Elternhaus war typisch thurgauisch protestantisch, ja sogar calvinistisch. Das prägte ihn ein Leben lang. Diese Mischung, bestehend aus unbändigem Fleiss, Gehorsam, Dankbarkeit, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit hat ihn immer begleitet. Und vermutlich ist diese auch auf mich übergegangen. Dahinter steht der Gedanke, dass man dadurch einmal in den Himmel kommt. Das amüsiert mich sehr, denn weder ich noch mein Vater waren jemals gläubig.

Dem Verlust stehen jede Menge Erinnerungen gegenüber. Unsere Gespräche in seinem Kaninchenstall in Hüttwilen, unsere Telefonate während ich von Weinfelden aus ins Toggenburg fuhr. Unsere Ausflüge und Gespräche im Auto, Zug oder auf dem Schiff nach Schaffhausen. Erinnerungen an Theaterbesuche, Kinos und Filme im TV.

Mein Vater war mir sehr nahe. Er war, nach meiner Mutter, der erste Mensch in meinem Leben, der mich in die Arme genommen hat. Der mich geliebt und gefördert hat. Er war es, der mit mir gemeinsam die Urne meiner Mutter auf den Friedhof gefahren hat.

Durch ihn kam ich mit Themen in Verbindung, die ich zuvor anders wahrgenommen hatte, ganz gleich, ob sich es um Barrierefreiheit, den Wolf oder Landwirtschaftssubventionen handelte. Pauschale Urteile haben ihn wütend gemacht.

Seinen Geburtstag werde ich in der warmen Stube, am Laptop verbringen und arbeiten. Das hätte ihm bestimmt gefallen. Happy Birthday, Papi!

Von bunten Farben und der Pinkfalle

Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter ein Babykleidchen in Gelb in einem Schaufenster so schön gefunden hat, dass meine Omi es gekauft hat, Das war einige Zeit vor meiner Geburt. Ich weiss nicht mal mehr, wie dieses Kleidchen ausgesehen hat und ob es noch immer in jener Kiste ist, die ich von meiner Mutter geerbt habe.

Als kleines Mädchen hatte ich jede Menge Barbies in pinken Kleidchen. Die mochte ich wirklich sehr gern, weil sie so schön waren. Pink wurde nicht zu meiner Lieblingsfarbe in jenen Jahren. Blond nicht zu meiner Lieblingshaarfarbe.

Es gab tatsächlich eine Phase in meinem Leben, wo ich gerne ein Junge gewesen wäre. Ich wünschte mir, all die Trauer um meinen Bruder wieder gut zu machen. Ich wäre verdammt gerne ein mutiger Junge, ein braver Sohn für meine Eltern gewesen. Ich hätte sehr gerne jene eine Lücke in ihrem Leben ausgefüllt, weil ich gespürt habe, wie sehr sie ihn geliebt hätten. Aber das war keine Sache von Farben. Keine Macht der Welt hätte meinen Eltern meinen Bruder zurückgegeben, ganz egal, welche Farbe ich als älteste Tochter getragen hätte.

Jahrelang hatte ich weiss vor Augen, wenn ich an meinen toten Bruder dachte. Weiss ist die Farbe der Trauer und ich mag sie nicht besonders.

Als ich neun Jahre alt war, wurden grün und braun zu meinen Lieblingsfarben. Damals war ich unsterblich in Robin Hood verliebt und ich konnte mir gar nicht vorstellen, nicht wie ein Baum oder ein Gebüsch herum zu laufen. (Diese Liebe hält bis heute an. Grün ist meine absolute Lieblingsfarbe). In den 80er Jahren kam es allerdings eher schlecht an, wenn sich ein (gehbehindertes) Mädchen einen männlichen, englischen Volksrebellen als Vorbild nahm.

Irgendwann Ende der 90er war tiefblau meine Lieblingsfarbe. Yves Saint Laurent hätte seine helle modische Freude an mir gehabt.

Mitte der 2000er Jahre war meine Lieblingsfarbe schwarz. Und dunkelgrau. Das bewegte meine Mutter zu dem Satz: „Ich bi im Fall no nöd tot, gäll?“ Ich konnte mich nur schwer von schwarz trennen, weil ich sie die schönste der Nichtfarben betrachte.

Seit ihrem Tod wagte ich mich an farbigere Kleidung. An Gelb. Blau. Grün. Rot. An Schmuck. Je bunter desto besser. Ich wurde langsam selbstbewusster und mutiger, was meine Kleiderwahl anging.

Vor drei Jahren hatte ich keine Freude mehr an gefärbten Haaren. Ich musste an das ergraute, feine Haar meines Vater denken. Daran, wie lockig und ungezähmt meine Haare sind. Ich hörte also auf mit Anfang 40 meine Haare zu färben. Ich lasse sie wachsen. Die weisse Locke, die seit dem Tod meiner Mutter aus mir herauswächst, ist sichtbar, wenn man sie sehen will.

6 Jahre später

Am 9. Januar ist meine Omi 6 Jahre tot. 6 Jahre. Sie starb 20 Jahre nach meinem Grossvater und knapp vier Jahre vor meinem Vater. Was für ein Leben. Sie erkrankte 1940 an einer Hirnhautentzündung und ist daran fast gestorben. Sie kämpfte sich zurück ins Leben. Ganz langsam. Aber auch sehr stur. Wenn sie das alles nicht geschafft hätte, wäre ich heute nicht am Leben.

Omi begleitet mich nach wie vor in meinem eigenen Leben. Wenn ich fremde Städte erkunde oder in den Züri Zoo gehe. In Stein am Rhein und in Berlin. Vielleicht auch, wenn ich irgendwann mal in diesem Leben nach Lourdes oder nach Rom fahre. Wann immer ich durch Lichtensteig gehe. Oder durch Wattwil. Oder durch Wil, unsere gemeinsame Geburtsstadt.

Meine Omi würde sich wundern, wie warm das Haus – ihr Haus – nun ist, nachdem wir letzten Frühling das Dach renovieren liessen. Es fühlt sich alles anders an: starker Regen, Sturm und Schnee. Manchmal hören wir nicht mal mehr, wie stark es windet. Das war noch vor einem Jahr anders. Nachdem wir erfuhren, wie wenig Balken unser Dach hatte, ist es beruhigend.

Am 7.1. ist mein Opi Walter 26 Jahre tot. Als er starb, war ich knapp 20 Jahre alt, trug eine sehr grosse Spange und hatte keine Ahnung, was mich noch alles erwarten würde. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut, wenn er miterlebt hätte, dass ich nun ein Blasinstrument (leidlich) spielen kann.

Ich muss immer wieder mal daran denken, dass sich mein Vater und mein Grossvater einige Tage vor Opis Tod via mich ausgesöhnt hatten. Mein Opi war wütend auf meinen Vater gewesen, weil sich meine Eltern hatten scheiden lassen.

Ein heftiger, grosser Streit, der schlussendlich am Telefon geklärt werden konnte. Mein Opi sagte: „Ich bin nicht mehr wütend auf dich.“ Und mein Vater antwortete: „Ok.“

Das macht mir Hoffnung für alle weiteren Streitigkeiten im Leben. Miteinander reden, so von Mensch zu Mensch im Angesicht des Todes, öffnet Türen. Sterblich sind wir alle.

Der Weihnachtswunsch und die Jura-Frage

Seit ich mich erinnern kann, war mein Vater ein leidenschaftlicher Anhänger des Kantons Jura. Er sprach seiner Lebtage kein Wort Französisch. Aber das hielt ihn nicht davon ab, die Landschaft und die Menschen, die dort leben, sehr zu mögen. Ihm, dem Thurgauer Bauernsohn, gefiel ihr rebellischer Geist, ihr Kampf gegen den übermächtigen Kanton Bern. Die ewige Story von Klein gegen Gross.

Ich habe seine Liebe zum Kanton Jura immer mit dem Jahr 1979 verbunden. Der Kanton Jura wurde nämlich am 1. Januar 1979 souverän, dem Geburtsjahr meines verstorbenen Bruders. All die Jahre verfolgte er die Berichterstattung in den Medien und empfand grosse Sympathie für die „Separatisten“.

Im Sommer 2009 stellte er sich eine Fahnenstange in seiner Kleintieranlage auf. Dort hisste er die Schweizerfahne und die Fahne seines Quartiers, welcher er von seinen Freunden zur Einweihung der Stange erhalten hatte. Ich wurde von ihm zur Fahnengotte ernannt. Wenn ich ihn schüchtern fragte, ob es etwas gebe, das er sich zu Weihnachten wünsche, antwortete sofort: „Schenk mir mal eine Jura-Fahne. Die wünsch‘ ich mir.“
Nun, er hätte sie sich wohl selber kaufen können. Aber er tat es nicht. Ich verstand: Er wünschte sie sich von mir, seiner ältesten Tochter.

2010, einige wenige Tage vor Weihnachten machte ich mich schliesslich auf in ein Thurgauer Fahnengeschäft. Und oh Wunder: Es hatte dort genau eine einzige, vorrätige Jura-Fahne. Und die kaufte ich dann für ihn. Ich erinnere mich noch genau daran, wie er am Weihnachtsfeiertag die Schachtel, in die ich sie verpackt hatte, öffnete. Er strahlte wie ein kleiner Junge, lachte, die Tränen liefen ihm übers Gesicht und er zeigte voller Stolz allen Familienmitgliedern seine Fahne.

Vor zwei Jahren starb mein Vater. Einer der Gegenstände, die ich von ihm erben durfte, waren seine Schweizerfahne, die er als junger Mann jeweils an Formel1-Rennen in Monza schwenkte – und: die Jura-Fahne.

Heute morgen musste ich an genau diesen Moment denken. Ich sass in einer Sitzung, sah die Pushmeldung der Wahl von BR Baume Schneider aus dem Jura. Für einen Moment lief mir eine Träne übers Gesicht und ich lächelte.

Wenn mein Vater noch leben würde, dann würde er heute Abend demonstrativ und sehr stolz, mit Tränen in den Augen die geliebte Jura-Fahne hissen und mit uns auf die neue, erste jurassische Bundesrätin trinken.

Nun ist es wohl an mir, die Jura-Fahne im Garten zu hissen.

Lass los

Zwei Jahre ist er nun tot. 24 Monate ohne ihn.
Ich erlebte einen wunderschönen Herbst, die Trauer drückte nicht mehr so sehr wie noch vor einem Jahr. Ich pendelte zwischen Toggenburg, dem Thurgau und Bern und entdeckte so die sommerliche Schönheit unserer Hauptstadt.

Ich verbrachte nebst Arbeit und Studium sehr viel Zeit an der frischen Luft und konnte jede Menge Tiere beobachten. Das machte mich sehr glücklich.
Im Frühling wurde unser Haus frisch gedeckt und jetzt, im Spätherbst, können wir in warmen Räumen leben ohne so viel wie in den Vorjahren heizen zu müssen. Bei all dem Neuen in meinem Leben erkenne ich etwas: ich konnte meinen Vater loslassen.

Mitte November – am 2. Todestag meines Vaters – erlebte ich zwei wunderbare Tage im Greifvogelpark Buchs. Ich absolvierte zwei Ausbildungstage der FBA und – blickte zum ersten Mal in meinem Leben einem grossen Greifvogel in die Augen. Rojo heisst er und er ist ein Seeadler. Er ist ein wunderschönes, prächtiges, stolzes Tier.
Als ich ihn auf meinem Arm hielt, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Wie gerne hätte ich mit meinem Vater diesen einen Moment geteilt! Wie gerne hätte ich ihm davon erzählt, ihm Bilder gezeigt und mit ihm über diese wunderbare Begegnung gesprochen.

Doch im gleichen Moment, wie ich daran dachte, spürte ich, wie nah mir mein Vater in Gedanke und Gefühl ist. Dass ich nicht traurig sein brauche, weil all das, was er in jenem Moment gesagt und gedacht hätte, längst Teil von mir ist und bis zu meinem letzten Tag bleiben wird. So blickte ich in Rojos Augen, ächzte ein wenig, weil 3,750kg doch irgendwann ein bisschen schwer wiegen und freute mich einfach über diesen einen Moment.

Abends fuhr ich nach Hause, überglücklich. Reich beschenkt.

Zwei Jahre

Zwei Jahre ist er nun bereits tot. Es kommt mir vor wie gestern. Sein Tod war für ihn eine Erlösung. Für mich war und ist es einfach nur schrecklich und schmerzhaft. In den letzten zwei Jahren habe ich sehr viel versucht, um ihn loslassen zu können. Ich verbrachte viel Zeit draussen in der Natur, wo ich seine Nähe spüre. Doch auch dieses Gefühl verschwindet nun langsam. Das ist wohl gut so.

Diesen Sommer nahm ich am Literaturwettbewerb der Vortrags- und Lesegesellschaft Toggenburg teil und reichte einen Text ein, den ich in Erinnerung an meinen Vater geschrieben habe. Das Gefühl des langsamen (literarischen) Loslassens scheint ein weiterer Teil meines Trauerprozesses zu sein. Ich gehe jeden Schritt bewusst, auch wenn er noch so schmerzhaft ist.

Mein Vater mochte gute Geschichten. Eine davon hat er mir nie zu Ende erzählt.

Als er im 1969 Militär war – er war Rdf, also Radfahrer – entstand jenes Foto eines Brunnens. Dieses Foto hat mich seit frühester Kindheit fasziniert. Ich habe ihn immer wieder mal gefragt, wo es entstanden ist. Er hat nie gross darauf geantwortet. Ich stellte mir wahnsinnig spannende Begebenheiten vor: Der Brunnen stünde im Kanton Jura und aus seinem Wasser wurde viele Jahre lang Absinth gebraut, den mein Vater und seine Kollegen getrunken hatten. Darum hatte mein Vater sein Herz an den Jura verloren. Den Brunnen glaubte ich längst verloren.

Einige Monate vor seinem Tod erreichte mich dieses Foto. Mein Vater und seine Frau hatten eine Ausfahrt gemacht und er entschied, zumindest einen Teil des Rätsels, das mich so lange beschäftigt hatte, endlich zu lösen. Er schickte mir über seine Frau Fotos, die ihn an jenem Brunnen zeigte. Dieser hatte sich all die Jahre in meiner Nähe, im Toggenburg befunden. Warum seine Kompanie genau jenen Brunnen auserkoren hatte, um sich darauf mit einer Inschrift zu verewigen, hat er mir nie verraten.

Ich habe mich damals, es war einige Tage nach seinem 71. Geburtstag, sehr über dieses Foto und die Auflösung des Rätsels gefreut. Er lächelt, sieht glücklich aus. Ich war es auch.

Heute waren wir da an jenem Brunnen. Dreieinhalb Jahre nach jenem Foto meines Vaters, einen Tag vor seinem zweiten Todestag waren wir da. Im strömenden Regen stand ich an der Stelle, wo drei Jahre zuvor mein Vater stand. Jemand lief auf der anderen Strassenseite vorbei, und meinte: „Diä sind au nöd ganz butzt, de änne.“

Ja genau. Das trifft es auf den Punkt.

2007

Vor 15 Jahren erlebte ich den letzten September meiner Mutter. Am 2. September feierte sie ihren 56. Geburtstag und wir wussten beide, dass es ihr letzter sein würde. Wir sprachen nicht mehr über den Geburtstag und den Todestag ihres Sohnes, meines Bruders im gleichen Monat. Es war der 28. Es spielte keine Rolle mehr und das erleichterte mich irgendwie.

Das Sterbenwollen war kein Thema. Es ging nur noch ums Leben. Wir blätterten gemeinsam Strickzeitschriften durch. Meine Katze kam im Pflegeheim zu Besuch. Sie fand es nicht toll, dass ich schwarze Kleidung trug. „Ich bin im Fall noch nicht tot“, meinte sie vorwurfsvoll. Als ich meiner Mutter schliesslich mitteilen musste, dass ich ihre Wohnung auf Druck des Sozialamtes kündigen musste, schmiss sie mich aus ihrem Zimmer. Sie schrie: „Ich will dich nie mehr wieder sehen.“ Ich dachte: „Das dauert wohl nicht mehr lange.“

Ich war gerade 30 Jahre alt geworden. In dem Alter hatten Frauen meines Alters Kinder, ein neugebautes Haus, einen mehr oder weniger glücklichen Ehemann und schlecht erzogene Hunde.

Ich hingegen hatte einen Job, den ich über alles liebte, meine Omi, meinen Vater und seine Frau, die mich alle von Herzen unterstützten. Und meine Mutter, von der ich wusste, dass sie ihr Leben schnell verlebte. Zu schnell. Hätte ich damals eine eigene kleine Familie gehabt, hätte ich ihre Sterbebegleitung wohl nicht auf die Reihe gebracht.

In jenen letzten Wochen entdeckte ich eine neue Welt, jene des Pflegeheims. Lauter sehr alte Menschen, die geduldig auf das Ende ihres Lebens warteten. Dazwischen meine 56jährige Mutter, lebensfroh, todkrank, neugierig und frech. Sie liebte Sudoku, zweideutige Sprüche, schöne Menschen und Rotwein. Letzteren konnte sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr geniessen. Alles andere dafür umso mehr.

Der letzte September meiner Mutter war sehr sonnengeflutet. Ich arbeitete viel, schaute nach der Arbeit – ich arbeitete als Gruppenleiterin mit mehrfach beeinträchtigten, jungen Menschen – bei ihr vorbei und holte in jenem Monat all das nach, was wir in meiner Kindheit miteinander verpasst hatten. Ich hatte tiefgründige und rauschfreie, schöne Gespräche mit ihr. Ich lernte sie komplett neu kennen, schätzen und – lieben. Das Loslassen ging viel zu schnell.

Einige Tage vor ihrem Tod telefonierten wir. Es war bereits Oktober geworden. Der Zuckerrübennebel herrschte über dem Thurtal, als sie mir sagte, wie sehr sie es schätzte, dass ich die letzten Wochen an ihrer Seite gewesen war. Ich glaube, im Radio lief Grönemeyers „Der Weg“. Ich weinte, weil ich wusste, dass wir nun gemeinsam auf ihren Endspurt zusteuern würden.

ein weiterer Geburtstag ohne ihn.

Das ist ein seltsames Gefühl, denn er war immer an meiner Seite, all die Jahre lang, all die Geburtstage. Sei es in meiner früher Kindheit oder aber später, wenn ich im Spital war oder älter war.

Ich erinnere mich an sein freundliches Gesicht, einen träfen Spruch.

Mein Vater war bei meiner Geburt dabei, und das war damals wohl sehr aussergewöhnlich. Er war neugierig. Lebensfroh. Er machte auch später immer mal wieder Witze darüber, dass er mich, frisch geboren, nackt, in seinen Händen gehalten hatte. Mich gewaschen hatte.

Er wirkt fröhlich, glücklich, wenn er mich auf den frühen Bildern ansieht. Ich bin seine erste Tochter, das erste Kind.

Wir waren uns all die Jahre nahe. Ich liebte ihn sehr. Er war mein wunderbarer Papi, mein Vater. Dä Debrunner. Chüngelizüchter. Sportler. Künstlerisch begabter Mensch. Sensibel. Liebevoll. Vogelflüsterer. Liebender. Gourmet. Reisefüdli. Begeisterter Autofahrer. Freund.

2018 ging es ihm sehr schlecht. Er sagte zu mir, wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet, hätte er in meinem Leben noch sehr viel mehr all das gemacht, was er sich nie getraut hätte.

Im Herbst 2018 meldete ich mich für die Jagdausbildung an. Ich startete im Februar 2019. Mein Vater hat mich von Herzen unterstützt und ermutigte mich all die Monate bis zu seinem Tod.

Wir haben viele Geburtstage und viele 1. August-Feiern zusammen erlebt und das macht mich glücklich. Er fehlt mir sehr. Gerade morgen wird er mir fehlen.

Ein bisschen Mut, #hellsbells und Erinnerungen

Am Donnerstag ist es also soweit. Ich werde meine beiden ungeliebten Mitbewohner in meinem Bauch – aka #hellsbells los. Vorangegangen sind viele Monate Schmerzen und Leiden. Und nun soll ein minimalinvasiver Eingriff dem allem ein Ende bereiten.

Um es klar auszudrücken: Ich werde langsam alt. In meiner Gebärmutter haben sich seit bestimmt vier Jahren mindestens zwei Myome gebildet, die ziemlich nerven und mich bei der Ausübung meines Lebens immer mal wieder behindern. Sie drücken auf Blase und Rücken. Ich habe Schmerzen. Über meinen Eisenwert mag ich gar nicht sprechen.

Meine Frauenärztin meinte dazu sehr trocken: Ihre Gebärmutter versucht seit mehreren Jahren die #hellsbells loszuwerden. Es fühlt sich an wie Wehen. Und ja, vermutlich triffts dieser Ausdruck total. Ein bisschen ironisch bei jemandem wie mir.

Meine letzte Vollnarkose ist ziemlich genau 16 Jahre her. Da war ich gerade mal 29 Jahre alt. Aber irgendwie war damals alles anders. Meine Omi, meine Mutter und mein Vater haben noch gelebt und sich um mich gekümmert. Meine Omi, wie immer um mich besorgt, hat mich nach der OP sofort angerufen und gefragt: „Meitli, gohts dir guet? Isch bi dir alles in Orning? Söll ich verbi cho?“ Von soviel grossmütterlicher Liebe umgeben, ging es mir sofort besser. Denn Omi hat mit ihrer Energie immer alles ins Positive gelenkt.

Für meine Eltern waren meine Spitalaufenthalte, die ich seit frühester Kindheit kannte, Stress pur. Meine Mutter ertrug es nur schwer, mich in einem Spitalbett zu sehen. Als ich 1986 zum ersten Mal meine deformierten Hüften operieren liess, weinte sie. Mein Vater hingegen zeigte mehr Fassung, allerdings nur nach aussen. Auch ihm ging das alles sehr nahe. Er unterstützte mich mit aufmunternden, liebevollen Worte. „Du schaffsch da“, sagte er. Vermutlich hat meine Situation meine geliebten Eltern zu sehr an den Tod meines Bruders erinnert.

Ich verbrachte mehrere Ferien im Spital Frauenfeld, damals noch im grossen Bettenturm, der nun allerdings nicht mehr da ist und wo auch mein Bruder starb. In den 80ern waren die Vollnarkosen noch etwas anders und weniger leicht verdaulich als heute. Ich erinnere mich an Glasflaschen, gefüllt mit Blut, an meinen Beinen, starke Schmerzen. Übelkeit. Grosse Angst. Lange Nächte, in denen Bettnachbarinnen vor Schmerzen durchgeschrien haben. Meistens hatten sie Mandelentfernungs-OPs. Sie kriegten sehr viel Glacé in der Nachbehandlung.

Ich verbrachte jeweils mindestens zwei bis drei Wochen im Spital. Hatte Bücher und meine Barbies dabei. Ich erinnere mich an einen Dekubitus an meinen Fersen. Dekubitus ist das Schreckgespenst aller, die liegen müssen und tut höllisch weh. Ich hatte Physiotherapie bei holländischen Therapeutinnen, die immer sehr nett waren und deren Dialekt ich immer für sehr schweizerisch gehalten hatte.

Ich erinnere mich dunkel, dass mich irgendwelche Primarschullehrer*innen bei Pflichtbesuchen für meine Tapferkeit gelobt und gleichzeitig mich als Vorbild für andere meines Alters hervorgehoben haben. Das verstehe ich bis heute nicht: Warum sollte ein neunjähriges, gehbehindertes Mädchen Vorbild für andere, nicht gehbehinderte Kinder sein, die (zum Glück) null Wissen von Schmerzen, Mobilitätsproblemen und anderem haben?

In den Nächten im Spital ist jeder mit sich alleine. Das nimmt einem keiner ab. Der Umgang mit Schmerzen lässt einen altern und irgendwie einen Umgang mit Wut finden. Mir fehlen meine Eltern und Omi. Denn das ist nun das erste Mal, dass ich so einen Weg ohne sie gehe. Das fühlt sich ungewohnt schwer an.

Ich bin schon ein wenig neugierig, wie das so wird nächste Woche. Und wie sich das anfühlt, wenn ich – einmal mehr in meinem Leben – ohne Schmerz lebe.

Von Trauer und U-Booten

Vor einigen Tagen kaufte ich in Bern, wo ich mich aktuell häufiger aufhalte, das Buch „Das Jahr magischen Denkens“ von Joan Didion aus dem Jahr 2006. In diesem Buch schreibt Didion über den Tod ihres Ehemannes und ihrer Tochter, überhaupt über Trauer. Ihr Umgang mit dem Verlust geliebter Menschen, wie sie dies alles analysiert und schmerzhaft genau beschreibt, war für mich nur langsam lesbar.

Beim Lesen dieses Buches kommen Erinnerungen und starke Emotionen auf. Joan Didions Text ermöglicht all diese Gefühle, weil sie autobiographisch schreibt. Sie scheut sich nicht vor Gefühlen, sondern stellt sich ihnen tapfer. Sie bereitet einen Weg für offenes, ehrliches Schreiben vor.

Sie zitiert in ihrem Buch einen Freund: „Der Tod eines Elternteils stört trotz unserer Vorbereitungen , ja trotz unseres Alters Dinge tief in uns auf, er löst Reaktionen aus, die uns überraschen und Erinnerungen und Gefühle hochkommen lassen, von denen wir annahmen, sie wären längst auf den Grund gesunken.“ (Didion, S. 33).

Der Tod meines Vaters bewegt mich, auch wenn er nun über 18 Monate tot ist. Didion schreibt: „Es ist, als würden wir uns in dieser unbestimmten Periode, die man Trauer nennt, in einem U-Boot befinden, still auf dem Meeresboden, der Untiefen bewusst, man näher, mal entfernter, hin und her geworfen von Erinnerungen.“

Sein Gesicht, seine Stimme fehlen mir. Seine Umarmungen. Sein Geruch. Sein Bart. Das Gefühl, wenn ich mich an seine Brust drücke und er mich auch fest an sich drückt. Seinen Mund an meine Stirn drückt. Die liebevollen Berührungen, wenn er mit Tieren arbeitete, sei es mit Kaninchen, Hühnern, Katzen oder der Krähe. Mir fehlt sein strahlendes Gesicht, sein Lächeln. Seine Fähigkeit, ein gutes Essen zu geniessen. Mit anderen Menschen zusammen zu sein. Seine grossen Ohren, mit denen er sogar wackeln konnte.

Ich erinnere mich an Ausfahrten auf dem Militärvelo, auf dem weissen Schalensitz, vorne auf dem Lenker. Ohne Helm. „Schneller, Papi! Schneller!!“, soll ich gerufen haben.

Dann sehe ich ihn vor mir, wie er Tiere in den Händen hält, streichelt. Immer ruhig, nie gestresst. Er hatte auf Tiere immer eine unglaubliche Wirkung, vor allem auf Vögel.

Der Tod meines Vaters ist für mich offenbar nur schwer verdaulich. Ich leide phasenweise stark, dann wieder nicht. Es fühlt sich zeitweise an, wie wenn ich die Füsse ins Meer stupfe, warm, tröstend. Dann wieder wegreissend, intensiv und tieftraurig. Kalt.

Manchmal sitze ich da, ganz alleine, im Wald. Mit einem Mal laufen mir die Tränen übers Gesicht, weil ich glücklich bin, zu leben, gesund zu sein. Wenn auch ohne ihn.