Wurzeln

Am Freitag habe ich – mit etwas Verspätung – die Gräber meiner Mutter und meiner Grossmutter neu gestaltet. Das tue ich immer im Frühling, gerne um den Geburtstag meiner Omi, am 6.5.

Dieses Jahr habe ich das letzte Mal das Frühlingsgrab meiner Mutter neu gemacht. Am 17.10.2007 ist sie gestorben, bald wird ihr Grab aufgehoben. Die Gräber links neben ihrem sind bereits vor einem Jahr verschwunden.

Meine Mutter wollte nie ein Grab, dass sie eines bekam, ist meiner Oma geschuldet, die einen Ort brauchte, wo sie um ihre Tochter trauern konnte. Wir fanden es in Lichtensteig, wo Omi bis 2012 lebte.

Vor vielleicht 14 Jahren habe ich Tulpenzwiebeln auf Mamis Grab gepflanzt. Gestern habe ich die Zwiebeln ausgegraben und mit nach Hause genommen. Ich möchte sie gerne in unserem Garten pflanzen.

Wenn ihr Grab verschwindet, verschwindet auch ein weiterer Hinweis, das sie jemals gelebt hat. Dann existiert sie nur noch in meiner Erinnerung.

Bäume meiner Kindheit

Wenn ich an die Wohnorte meiner Kindheit und Jugend denke, kommen mir weniger Häuser und Wohnungen in den Sinn als die Bäume, denen ich mich verbunden fühlte.

Ich wuchs in Wängi auf. Neben unserer Wohnung stand eine grosse alte Weide. Ein wunderbarer Baum. Ich liebte es, seine Rinde und seine Blätter zu berühren. Als ich noch ein kleines Mädchen war, brach eines Tages ein grosser Ast ab. Ich erinnere mich noch genau an das Tosen und die Schreie meiner Mutter. Die alte Weide ist längst verschwunden.

Am gleichen Ort wuchs eine Buche. Auch sie war ein grosser, starker Baum. Ich habe ihr als Kind Geschichten vorgelesen. Warum ich das tat, weiss ich nicht mehr, aber meine Eltern haben Fotos gemacht, während ich mit einem Buch vor dem Baum stand.

Im Bachtobel gab es einen sehr seltsamen Baum, den wir Kinder den „Tintenfischbaum“ nannten. Er war riesig und seine Wurzeln schlängelten sich wie Tentakel durch das Tobel.

Nach dem Tod meines Bruders hat mein Vater an diesem und am nächsten Wohnort Tannen gepflanzt. Es freut mich sehr, wenn ich auf google streetview schaue, dass diese Bäume noch immer da sind, selbst wenn mein Bruder nun über 42 Jahre tot ist.

In Hüttwilen, wo wir einige Jahre lebten, spielte ich oft auf zwei Ahornbäumen. Ich kletterte auf ihren Ästen herum und versteckte mich dort, wenn meine Mutter mal wieder sauer auf mich war. Letzthin habe ich bemerkt, dass sie längst nicht mehr da sind.

Als ich in Wellhausen lebte, gab es in der Nachbarschaft eine riesige Birke. Ich liebte es, ihr zuzusehen, wenn der Wind in ihren Ästen spielte. Die Krähen hatten diesen Baum ebenfalls auserkoren. An einem Samstagmorgen wurde die Birke gefällt. Ich habe furchtbar geweint. Noch Monate später beobachtete ich die Krähen, wie sie an dem Ort, wo die Birke stand, ins Leere flogen.

Neben meinem Haus steht eine alte Linde. Sie ist wohl einige Jahre älter als ich und ich habe sie „die vier Schwestern“ getauft. Sie besteht aus vier Hauptästen, die mich an meine Mutter, meine Omi und ihre Schwestern Bibi und Hadi erinnern. Die Linde ist Brutplatz für Vögel und im Frühling nähren ihre Blüten Bienen.

unsere alte Linde

Als mein Bruder beerdigt wurde, pflanzte mein Vater ein Nadelgehölz auf seinem Grab. Ich war zwei, als mein Bruder starb. Wenn ich den wachsenden Baum sah, dachte ich immer daran, wie es wäre, wenn mein Bruder noch leben würde, wie gross er jetzt wäre. Jahre später, als erwachsene Frau, berührte ich die Nadeln des Baumes, weil ich dachte, dass ein Teil meines Bruders in diesem Baum weiter lebt.

Einige Monate vor dem Tod meines Vaters wurde das Grab meines Bruders aufgelöst. Der Baum abgeholzt. Am Beerdigungstag meines Vaters besuchte ich den Friedhof, wo mein Bruder gelegen hatte. Lediglich ein Baumstrunk erinnerte noch daran, dass hier einmal ein Grab gewesen war. Ich weinte sehr.

Mein Vater wollte kein Grab mit Stein und so. Er liess sich auf einem Stück Wiese in einem Gemeinschaftsgrab, unter einem Baum beerdigen. Ich habe sein Grab seit der Beerdigung nicht mehr besucht, weil ich spürte, dass ich an jedem Baum, den ich mag, um ihn trauern kann. Wenn ich an einer Tanne vorbeilaufe, berühre ich ihre Rinde, atme ihren Geruch ein. Dann fühlt es sich wieder an, wie damals, als ich ein Kind war.

Weiterleben

Erinnerst du dich an die Zeit vor zwei Jahren?
Ich war so aufgeregt, dass ich fieberte. Erkältet war.
Nichts ging mehr.
Wir haben viel telefoniert.
„Du schaffst das“, hast du gesagt, mit fester Stimme, obwohl es dir schon nicht mehr wirklich gut ging.
Zuversicht. Das hast du verbreitet. Vertrauen.

Vor zwei Jahren war alles anders als jetzt. Und doch ähnlich.
Ich ahnte dein Sterben.
Es hat mir mehr als einmal die Tränen in die Augen getrieben.
Ich weiss, ich bin eine Vatertochter.
Du warst mir immer nahe.

Ich wusste, dass ich mit all meinen Sorgen immer zu dir kommen konnte.
Du hattest das offene Ohr für mich.

Als ich meine erste Prüfung geschafft hatte, hast du deinen Freunden gesagt:
„Von mir hat sie das nicht.“

Deine Prüfungen im Leben waren immer anderer Natur als meine.
Du hattest einen Vater, der nicht liebevoll, sondern gewalttätig war.
Du hast mit 31 Jahren deinen Sohn verloren.
Du wolltest immer eine Familie.

Oftmals hast du mich nicht verstanden.
Ich war dir ähnlicher, als du wahrhaben wolltest.
Wir sind beide Menschen, die Vögel lieben.
Die den Dingen auf den Grund gehen.

Präteritum.
Die Dinge sind vergangen.
Du bist nicht mehr da und ich bin nicht mehr die gleiche seit deinem Tod.
Du fehlst.

Heute hat mir dein Verlust einmal mehr die Tränen in die Augen getrieben.
Seit zwei Wochen bin ich berufshalber zum zweiten Mal geimpft.
Jetzt wäre der Moment da, wo wir uns wieder unverkrampft sehen könnten.
Doch seit bald einem halben Jahr liegst du da in deinem kalten Grab auf dem Friedhof.

Jetzt gerade bräuchte ich dich sehr, weil ich nämlich noch immer nicht den Unterschied zwischen Douglasie, Weisstanne und Fichte geschnallt habe.
Weil ich die Stauden im Winter nicht voneinander unterscheiden kann.
Du wüsstest das alles, weil du immer ein Mann der Pflanzen, der Bäume warst.

Als euer Sohn Sven, mein Bruder, starb, hast du auf seinem Grab einen Nadelbaum gepflanzt. Erst vor einigen Jahren wurde mir bewusst, was das bedeutet. Du hast ihn (für uns) weiterleben lassen.

Erst kurz vor deinem Tod wurde Svens Grabstein und der Nadelbaum entfernt.
Ich hätte mir gewünscht, dass der Baum noch steht. Damit ich etwas habe, was von unserer Familie weiterlebt.

Was uns verbindet

Ich erinnere mich an ihn und es tauchen so viele Geschichten auf, die wir gemeinsam erlebt haben, dass ich es nur schwer schaffe, sie in Worte zu fassen.

Mein Vater und ich waren einander in vielen Situationen des Lebens eng verbunden, so fühle ich es jedenfalls.
Alles, was ich über meinen Bruder weiss, weiss ich von meinem Vater.
Von meinem Vater habe ich erfahren, wie belastend der Tod und die Beerdigung meines kleinen Bruders war. Mein Vater beschrieb mir, was er damals erlebt hatte. Ich verstand, warum mein Vater so war, wie er war. Ein verletzlicher, liebender Vater.

Mein Vater pflanzte an der Stelle des Grabes einen Nadelbaum. Dieses Bild begleitete mich während meiner Kindheit und Jugend: Wenn etwas stirbt, kann auch neues entstehen. Immer wieder war das Grab meines Bruders für mich ein wichtiger Anlaufpunkt bei wichtigen Entscheidungen in den letzten 40 Jahren.

Als meine Mutter 2007 verstarb, war es an mir, ihre Urne von Frauenfeld Oberkirch nach Lichtensteig zu schaffen. Mein Vater, der zu dem Zeitpunkt schon lange von ihr geschieden war, erfuhr davon. Er fragte mich, wie die Urne vom einen Ort zum anderen Ort gelangen sollte. Als ich es ihm erklärte, fragte er mich: „Das machst du ganz alleine?“
Ich bejahte dies.
Er sagte: „Ich verbiete dir das.“
Nun, ich war zu dem Zeitpunkt um die 30 und ich war es mich nicht gewöhnt, dass er mir irgendwas verbot.
„Du kannst diese Urne nicht alleine irgendwo hin fahren. Ich fahre dich.

Nun, das war sein Liebesdienst an mich und vielleicht auch an meine Mutter. Die war nämlich, sicher in Urne und Karton verstaut, auf dem Rücksitz angeschnallt, derweil wir vom Thurgau ins Toggenburg fuhren. Mein Vater und ich redeten über vieles. Gemeinsam lieferten wir ihre Asche ab.

Dass er vor fast einem Monat verstarb, scheint mir auch jetzt noch absolut irreal. Ich kann es nicht glauben, auch wenn ich es weiss. Es ist kurz vor Weihnachten und eigentlich würden wir nun gemeinsam überlegen, in welches Restaurant wir am 25.12 gehen würden. Nun ja, lieber Papi: Dein Timing war und ist toll. Selbst wenn du noch leben würdest, würden wir in diesem Jahr nicht mehr miteinander essen gehen.

Was bleibt: meine Erinnerung an einen zutiefst empathischen, liebenswürdigen und guten Vater. Meine Trauer um den Menschen, der mir wohl neben meiner Omi am nächsten stand. Ich kann nur schwer glauben, dass er nicht mehr ist. Auch wenn ich es weiss.

Am Tag der Beerdigung meines Vater fuhr ich am Grab meines Bruders in Wängi vorbei. Der Grabstein ist verschwunden. Doch noch schlimmer: Der Nadelbaum ist einfach abgesägt. Tot. Ich stehe da und denke: Nun sind sie alle weg.

Sein 40ster

In einer perfekten Welt hätte ich am Dienstag, gemeinsam mit den Eltern, vielleicht den Grosseltern und meiner Schwester den 40sten Geburtstag meines Bruders Sven gefeiert. Doch die Welt, und vor allem das Leben, ist natürlich nicht perfekt.

Ich denke daran, dass meine Mutter vor bald 12 Jahren gestorben ist und dass ihr der Tod meines Bruders sehr nahe gegangen ist. Ich bin wehmütig, denn ich hätte furchtbar gerne einen coolen Bruder gehabt.

Mir wird in diesen Tagen einmal mehr bewusst, dass wir Menschen in den Erinnerungen derjenigen Menschen leben, die uns lieben. Manchmal denke ich daran, dass ich bald einmal die einzige meiner Familie sein werde, die noch weiss, dass Sven mal gelebt hat.

Es existiert ein Bild – ich denke, es ist ein Polaroidfoto – auf dem meine Eltern mit Sven abgebildet sind. Das Foto wurde kurz nach Svens Geburt aufgenommen. Meine Eltern wirken unglaublich jung und glücklich und müde, Sven blickt in die Kamera. Jedes Mal, wenn ich es in die Hand nehme, treten mir die Tränen ins Gesicht. Noch wissen sie nicht, was ihnen bevorsteht.

Ich fühlte schon als Kind durch diesen Verlust mit meiner Mutter verbunden. Zwar verstand ich nicht genau, was passiert war, doch die abgrundtiefe Trauer konnte ich spüren. Sie hat mir damals grosse Angst eingejagt. Erst gegen Ende von Mutters Leben wurde es für sie einfacher. Vermutlich ist dies einer der segensreichen Errungenschaften des Sterbens, dass man langsam alle Trauer und alles Leiden des eigenen Lebens hinter sich lassen kann.

Svens Grab existiert nicht mehr. Ich habe mir vorgenommen, dass ihm symbolisch bei meiner Mutter auf dem Grab einen Platz einrichte. Denn da gehört er hin: Zu ihr, der Frau, die ihm sein Leben geschenkt hat und die ihn so früh gehen lassen musste.

Frühling im Toggenburg

Frühling ist für mich dann, wenn die ersten Blätter aus halb erfrorenen Ästen spriessen. Wenn der letzte Schnee langsam hinderschi davonkriecht.
Wenn ich erkenne, wieviele Ziegel auf dem Dach abgesplittert sind.

Vor dem Osterfest räume ich die Grabstellen meiner Mutter und meiner Omi auf. Vorher macht es wenig Sinn, denn der Winter dauert hier oben im Toggenburg etwas länger an als unten im Thurgau.

Omi hat damals vor über 10 Jahren zugeschaut, wenn ich Mamis Grab neu bepflanzt habe. Sie stand neben mir, legte mir ihre Hand auf die Schulter und meinte: „Ich möchte, dass mein Grab auch so schön aussieht.“

Wenn ich ins Gartengeschäft gehe, denke ich ganz fest daran, was Omi und Mami wohl gefallen hätte. Ich lasse mich von Farben und Gerüchen treiben. Wenn ich meine Augen schliesse, sehe ich genau, wie das fertig bepflanzte Grab aussieht.

Ich bin heute weniger traurig, als noch vor zwei Jahren. Das ganze Leid, die Tränen, das Vermissen, haben sich verwandelt. Ich bin dankbar. Dankbar dafür, dass ich lebe, dass ich geliebt werde. Dass ich hier in diesem wunderbaren Ort eine erste Heimat gefunden habe. Tröstlich ist, dass ihrer beider Asche auf dem Hügel neben der Kirche begraben ist, so wie die Asche meiner Urgrosseltern. Ein Ort für alles.

Ich lief nach dem Bepflanzen der Gräber schliesslich an jenem riesigen Baum vor dem Friedhof vorbei, vor dem ich Omi und Mami vor 20 Jahren fotografiert habe. Omi trägt auf der Fotografie ihren Blazer, ihren hellblauen Wollpulli und eine dunkle Hose. Meine Mutter steht da in einem lässigen Pulli, einer ausgebleichten Jeans und Sneakers.

Sie lächeln mich beide an und ich halte jenen seltenen, intimen Moment zwischen Mutter und Tochter fest, ohne zu ahnen, dass ich zuerst meine Mutter und erst dann Omi verlieren werde.

Der Baum hat sich kein bisschen verändert. Für ihn sind wir Menschen wohl wie kleine Vögel, die sich an seinem Stamm verlustieren. Eine kleine Sekunde in einem langen Baumleben.

Viel Schnee und rote Rosen

Vor über zwei Jahren, es lag sehr viel Schnee, war Omis Beerdigung. Wir stapften über den Friedhof, versenkten Omis Urne und waren umgeben von Kälte und roten Rosen.
Omis letzter Weg auf dem Friedhof von Lichtensteig kommt mir unglaublich weit entfernt von meinen jetzigen Gedanken vor. Ihr Sterben ist mir präsent, als wäre es heute morgen gewesen.

Ich denke sehr oft an Omi, sei es, wenn ich im Winter durch den kalten Flur gehe und mich frage, wie sie das all die Jahre geschafft hat, hier im Haus zu leben. Tagtäglich fahre ich in Wil an ihrem Geburtshaus vorbei und denke an sie, meinen Opa und meine Mutter. Es ist ein seltsamer Weg, weil ich mich oftmals frage, was sie heute von mir denken würden.

Wären sie d‘accord mit meinen Entscheidungen? Würden sie mich kritisieren oder noch schlimmer: Ratschläge geben? Nichts würde ich mir sehnlicher wünschen als noch einmal ein tiefes Gespräch bei Milchkaffee und dem scheusslichen Stampfkuchen aus der Migros namens „Monte Generoso“, den ich seit Omis Tod nie wieder gegessen habe und wohl auch nie wieder essen werde.

„generoso“ bedeutet Grosszügigkeit, und das ist eine jener Charaktereigenschaften, die ich immer sehr an Omi bewundert habe. Wer es geschafft hatte, in ihr starkes Herz vorzudringen, wurde von ihr verwöhnt, geliebt und beschenkt.

Dann ist da aber auch mein aktuelles Leben. Die Begegnungen mit Menschen, die meine Omi Paula kannten. Eine liebe Freundin erzählte mir, dass sie hochschwanger an Omis Türe geklopft habe, weil sie so dringend auf die Toilette habe gehen müssen. Omi öffnete (natürlich) ihre Türe und liess sie ein.

Was von einem übrig bleibt, sind die Geschichten. Gerade hier in diesem wunderbaren Städtchen, wo die Verstorbenen weiterleben, in dem man sich erzählt, wie sie gelebt und geliebt haben.

Dann denke ich: Was verschwende ich Gedanken ans Sterben? Das Leben und das Lieben ist der Kern unseres Daseins. Carpe diem!

Herbstferien

Herbstferien bedeuten für mich Ausruhen, das schöne Wetter im Toggenburg geniessen, den Garten winterfest zu machen und die Gräber von Mami und Omi neu zu machen.

Etwas Gutes hat der schöne Sommer ja: Die Blumen blühen und die beiden Gräber brauchen noch gar keinen Allerheiligenflor, obwohl es in zwei Wochen schon soweit ist. Normalerweise habe ich um diese Zeit Mamis Grab neu gemacht. Es ist nur noch knapp eine Woche bis zu ihrem 11. Todestag.

Vor einigen Wochen ist unsere uralte Forsythie im Sturm umgefallen. Der Baum war bestimmt 50 Jahre alt. Er stand all die Jahre in jenem Blumenbeet neben dem Waschbärenstall. Alles hat seine Zeit und man kann sich fragen, wann die eigene abgelaufen ist.

Ich mag diese Zeit der bunten Farben, wenn die Blätter von den Bäumen fallen. Ich räume den Garten auf und verstaue alles, was wir den Winter über nicht mehr brauchen im Keller. Ich pflanze Tulpen und Narzissen und freue mich auf den Frühling, wenn sie ihre Köpfe aus dem kalten Boden recken. Die alten Rosen blühen noch immer und ich freue mich über jede Blüte wie ein Geschenk.

Vor sechs Jahren um diese Zeit bangte ich um Omi, die ins Altersheim ziehen würde. All das scheint mir elend weit weg und wenn ich nicht soviel darüber geschrieben hätte, wüsste ich es wohl nicht mehr.

Als meine Mutter im Sterben lag, telefonierten Omi und ich praktisch täglich. Wir waren beide durch den Wind und sehr traurig. Omi war der einzige Mensch, dem ich nichts vormachen musste. Wir wussten beide: Das ist nun das Ende. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass sie und ich Mami in den Tod begleitet haben. Omi und ich erlebten die Wochen vor Mamis Todestag jeweils sehr intensiv.

Das hat auch unsere restlichen gemeinsamen Jahre geprägt – bis Omi sich nicht mehr an meine Mutter erinnern konnte. Das war sehr schmerzhaft, denn es zeigte mir auf, dass menschliche Identität sich an den gemeinsamen Erinnerungen festmacht. Es tat mir weh, nicht mehr mit meiner Erinnerungsgefährtin reden zu können.

Doch all das hat auch etwas Gutes. Omis Demenz hat mich dazu gebracht, schreibend weiter zu denken, mich zu erinnern – und loszulassen. Das ist ein grosses Geschenk, trotz allem.

Der letzte Garten

In diesem Jahr habe ich den Eindruck, dass unser Garten noch bunter, noch belebter ist als in den vergangenen Jahren. Ich entdecke immer wieder neue Vogelarten, Schmetterlinge, die ich noch nie zuvor gesehen habe und viele wundershcöne Wiesenblumen. Ich bemerke, wie glücklich mich der Garten macht und wie unglücklich ich im Winter ohne all diese Begegnungen und das Werken war.

Im Frühling bepflanze und besuche ich auch die Gräber meiner Familienangehörigen neu. In diesem Jahr sind es nun weniger; das Grab von Sven ist aufgehoben. Ich habe mich bisher nicht auf jenen Friedhof gewagt, aus Angst, dass ich sehr weinen muss. Ich will mich nicht mit dem verschwundenen Stein oder der Tanne auseinandersetzen. Zu sehr habe ich mich in den letzten fast vierzig Jahren daran gewöhnt. Opas Grab ist seit letztem September verschwunden. Ein Teil seines Grabsteins besteht nun in Omis Grabstein in Form eines Herzens weiter. Die Bildhauerin hat wunderbare Arbeit geleistet und ich bin ihr sehr dankbar, hat sie meinen Gefühlen im Stein Ausdruck verliehen.

Auch Mamis Grab will bepflanzt werden. Vor 10 Jahren pflanzte ich dunkelrot-schwarze-Tulpen ein. Diese stehen jeweils nach dem grossen Schnee da und heissen einen auf dem Friedhof willkommen.

Während ich Omis Grab jätete und mit neuen Blumen versah, ein Rosenstock und die Nelken haben den Toggenburger Winter überstanden, musste ich daran denken, dass ich nun Omis letzten Garten pflege. Sie war immer mit grossem Interesse dabei, wenn ich nach Mamis Tod Blümchen in die Erde tat, lobte mich mit leicht gebrochener Stimme: “Das machsch aber schööö. Do het s’Mami aber Freud. Und ich au.“** Und dann tätschelte sie mir sanft auf die Schulter und nahm mich in die Arme, wenn mich die Trauer mal wieder überkam. Diese Umarmungen von ihr vermisse ich sehr.

Irgendwie ist es ein schönes Gefühl, weiter für diese Gräber sorgen zu dürfen und mir zu überlegen, was ich pflanzen will. Es ist immer wie ein stilles Gespräch zwischen mir und meinen Toten. Sie fehlen, aber sie leben auch weiter in all diesen bunten Blumen, die von ihrer Asche genährt werden.

**“Das machst du aber schön. Da hat deine Mutter aber Freude. Und ich auch.“

Frühlingswind

Nach einem langen Winter kehrt nun der Frühling ins Toggenburg ein. Er kommt sanft, wie ein schüchterner Liebhaber und taucht unsere Wiese in Pastelfarben. Überall blühen Primeln, Narzissen, orange und weiss-graue Krokusse regen ihre Gesichter, die Tulpen, die Forsythie.

Omi fehlt und doch habe ich das Gefühl, sie ist da. Es ist, als würde sie in diesem Garten weiter blühen. Die in den letzten Jahren frisch gepflanzten Bäume und Büsche wachsen. Der Bach sprudelt munter vor sich hin.

Vor einigen Tagen hat mir Omis Nachbarin ein Kompliment gemacht: Sie hat Omis Grabstein gesehen und findet ihn wunderschön und passend. Sie erzählt mir, wie Omi früher auf ihrer Gartenbank vor dem Haus gesessen ist und die Katzen des ganzen Quartiers angelockt hat.

Ich sah Omi grad vor mir. Um sie herum Röteli, Simeli und wie sie alle hiessen. Ob sie da wohl glücklich war? Die Katzen waren für sie wie Kinder. Sie störte es nicht, dass sie täglich anders und gleich hiessen, weil Omi sich nicht an sie erinnern konnte. Katzen sind diesbezüglich sehr tolerant, so lange es zu fressen für sie gibt.

Manchmal denke ich: Die Zeit vergeht so rasch. Eben noch war Weihnachten. Jetzt ist Ostern schon vorbei. Alles zerfliesst und schmilzt und wächst von neuem.