Filme mit Paula

Paula war in den 80ern ein totaler Serienjunkie. Sie liebte Dallas, Denver-Clan, Gute Zeiten – Schlechte Zeiten, Lindenstrasse und den furchtbar botoxhaltigen California-Clan. Schon als Kind wusste ich, dass ich sie zu den Sendezeiten dieser Serien nicht anrufen musste. Sie ignorierte das Telephon.

Mit ihr über Serien zu diskutieren, war eine endlose Geschichte. Ihr Gedächtnis, was die Affären jeglicher Nebendarsteller anging, war unglaublich. Ich glaube, ein wenig habe ich diesbezüglich von ihr geerbt. Vielleicht war ich deshalb so irritiert, als ich ihre Demenz bemerkte.

Paulas erster Film im Kino war „Der Untergang der Titanic“ mit Barbara Stanwyck und Robert Wagner. Damals muss sie Mitte 20 gewesen sein. In den 90ern gingen wir sehr oft und mit sehr viel Enthusiasmus ins Kino. Wir beide haben gemeinsam die unglaublichsten Filme gesehen:

„Die drei Musketiere“ sahen wir an einem Wochenende, als ich vom Welschland für zwei Tage zurück kam. Ich war sofort verknallt in Tim Curry, was Paula sehr schräg fand. Sie mochte Charlie Sheen sehr viel lieber.

Warum wir „Junior“ mit Arnold Schwarzenegger anschauen gingen, entzieht sich meinen Kenntnissen. Ich vermute, es lag an meiner Schwärmerei für Emma Thompson. Jedenfalls sahen wir den Film im wunderbaren Schlosskino in Frauenfeld an, das damals noch mit pinken Plüschsesseln ausgestattet war. Paula schlief nach zehn Minuten ein und schnarchte sehr laut. Meine Schwester und ich versuchten vergebens, sie aufzuwecken. Als sie schliesslich die Augen öffnete, meinte sie: „Bei dem langweiligen Film kann man ja nur schlafen.“ Paula bekam Szenenapplaus.

Eines Tages rief mich Paula an und meinte, sie würde sehr gerne mit mir mal wieder ins Kino gehen. Ich sagte zu und fragte sie nach ihrem Wunsch. Sie meinte, sie würde gerne jenen neuen Film mit den weissen Ameisen sehen. Ich war überfordert. Der Name wollte ihr nicht einfallen.
Ich fragte sie aus.
Ameisen? Meinte sie „Antz“?
Sie verneinte. Nein, kein Zeichentrickfilm. Das waren echte Leute. Hrm. Ich war überfragt.
Dann begann sie: „Da waren auch noch Roboter.“
„Roboter?“
„Und bärtige Männer mit farbigen Neonröhren in den Händen.“
Ich war schockiert.
„Star Wars?“
„Genau!! Das Wort hat mir gefehlt.“

Und so schauten Paula und ich anno 1999 „Star Wars Episode I – Die dunkle Bedrohung“. Ich war anfangs 20 und Paula 71 Jahre alt. Sie war mit grossem Abstand die älteste Kinobesucherin an jenem Mittwochnachmittag. Sie hat jede Minute genossen und den tollen Ton gelobt. Und Liam Nessons Bart.

paula und das alter

es ist schon sehr seltsam.
während meiner und saschas grippe sind wir natürlich nicht ins toggenburg gefahren. nein! wir sind sogar danach mal wieder für zwei tage in unser lieblingshotel gereist und haben es uns gut gehen lassen. das war auch bitter nötig. ich fühle mich noch immer erschöpft. der gang in paulas haus fällt mir nicht leicht.

letzten montag jedenfalls gingen wir wieder bei ihr vorbei, nicht ohne sie vorher anzurufen, was sie noch bräuchte:

3 bananen
6 äpfel
1 pack incarom

„alles andere haben die hier. die verwöhnen mich. es hat immer genug zu essen. ich werde langsam dick.“
ich nicke durchs telephon.
ich kann nicht ausdrücken, wie froh ich bin, sie im altersheim zu wissen.
sie wird gepflegt, muss keine angst mehr haben, nachts.
keine fremden leute mehr ums haus.

sie zeigt uns ihr zimmer, als wäre es das erste mal.
„hier. das ist der barri. der ist so weich.“
sie zeigt auf den plüsch-sennenhund, den ich ihr vor jahren gekauft habe.

wir reden darüber, wie lange sie schon hier ist.
sie kann sich nicht mehr erinnern.
„weisst du denn, wie alt du im mai wirst?“
paula nickt eifrig.
„55.“
sie grinst.
„aber ich fühle mich wie 45.“

opa walter

heute ist also der 7. januar.
heute vor 16 jahren starb walter, mein opa.

ich bin natürlich nicht mehr so traurig wie damals.
walter war schwer krank. er litt an leber- und lungenkrebs und ist einfach so, ganz langsam, innerhalb von drei monaten gestorben. er wurde immer dünner, seine haut pergamentartig und am ende gelb. walter hatte strahlend blaue augen, ein wenig wie peter o’toole in „lawrence von arabien“. er hatte auch blondes haar.

walter bekam am ende morphium und ist, begleitet von paula, um punkt acht uhr morgens verstorben. paula war sehr verstört. sie und walter hatten jahrelang streit. zumindest hab ich es als das angeschaut. sie schrien sich gerne an. heute deute ich das als leidenschaftliches lieben.

paula sagte mir, am ende seien sie so nah beieinander gewesen wie damals, als sie sich in ihn verliebt hat und er sich in sie. sie sagte sogar, sie hätte sich wieder eine intime beziehung vorstellen können.

all das schwirrt mir heute durch den kopf.

ich denke an den schlichten, ja ärmlichen sarg, geschmückt mit gestanzten goldenen kartonblumen. wenig kränze. einige ältere herren, die mit ihm im aktivdienst waren,sind traurig. walter war ein lustiger, einer, der die musik im blut und den roséwein in den adern hatte. sie alle, die überlebt hatten, kamen an seine beerdigung. ich stehe zwischen meiner schwester und paula, meine mutter nebendran. meine schwester und ich weinen wie schlosshunde, als wir im trauerzug durch das städtchen laufen. ich weine, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass opa in dieser schäbigen kiste drin liegt. ich will mir nicht vorstellen, dass er nicht seinen blaumann trägt, sondern seinen anzug für den ausgang. das hier war alles andere, aber nicht ausgang.

für mich bleibt er mein lieber opa. schon früh hatte er wenig zähne. grauenvolle angst vor dem zahnarzt, weil ihm während des krieges einer wirklich weh gemacht hat. mit opa habe ich eisenbahn gespielt. über archäologie, physik, chemie und den zweiten weltkrieg diskutiert, werkzeuge geputzt und sortiert. geflucht. oh ja. wir beiden konnten wunderbar zusammen herumfluchen.

opa walter war wie alle männer meiner familie: sanft. lieb. friedlich. er hat uns kinder sehr gemocht. ich glaube, er war furchtbar stolz auf uns. am 25sten dezember 1996 bat er mich in die stube, wo er zwei wochen später sterben würde. er segnete mich und bat mich, alle meine träume zu leben. er sagte: „du kannst das. du bist wunderbar.“

dann ging ich. ich hab ihn nie wiedergesehen ausser in meinen träumen.