6 Jahre später

Am 9. Januar ist meine Omi 6 Jahre tot. 6 Jahre. Sie starb 20 Jahre nach meinem Grossvater und knapp vier Jahre vor meinem Vater. Was für ein Leben. Sie erkrankte 1940 an einer Hirnhautentzündung und ist daran fast gestorben. Sie kämpfte sich zurück ins Leben. Ganz langsam. Aber auch sehr stur. Wenn sie das alles nicht geschafft hätte, wäre ich heute nicht am Leben.

Omi begleitet mich nach wie vor in meinem eigenen Leben. Wenn ich fremde Städte erkunde oder in den Züri Zoo gehe. In Stein am Rhein und in Berlin. Vielleicht auch, wenn ich irgendwann mal in diesem Leben nach Lourdes oder nach Rom fahre. Wann immer ich durch Lichtensteig gehe. Oder durch Wattwil. Oder durch Wil, unsere gemeinsame Geburtsstadt.

Meine Omi würde sich wundern, wie warm das Haus – ihr Haus – nun ist, nachdem wir letzten Frühling das Dach renovieren liessen. Es fühlt sich alles anders an: starker Regen, Sturm und Schnee. Manchmal hören wir nicht mal mehr, wie stark es windet. Das war noch vor einem Jahr anders. Nachdem wir erfuhren, wie wenig Balken unser Dach hatte, ist es beruhigend.

Am 7.1. ist mein Opi Walter 26 Jahre tot. Als er starb, war ich knapp 20 Jahre alt, trug eine sehr grosse Spange und hatte keine Ahnung, was mich noch alles erwarten würde. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut, wenn er miterlebt hätte, dass ich nun ein Blasinstrument (leidlich) spielen kann.

Ich muss immer wieder mal daran denken, dass sich mein Vater und mein Grossvater einige Tage vor Opis Tod via mich ausgesöhnt hatten. Mein Opi war wütend auf meinen Vater gewesen, weil sich meine Eltern hatten scheiden lassen.

Ein heftiger, grosser Streit, der schlussendlich am Telefon geklärt werden konnte. Mein Opi sagte: „Ich bin nicht mehr wütend auf dich.“ Und mein Vater antwortete: „Ok.“

Das macht mir Hoffnung für alle weiteren Streitigkeiten im Leben. Miteinander reden, so von Mensch zu Mensch im Angesicht des Todes, öffnet Türen. Sterblich sind wir alle.

Das Haus und wir.

Seit 70 Jahren ist das Haus im Besitz meiner Familie. Zuerst gehörte es meinen Urgrosseltern, dann meinen Grosseltern und seit November 2014 mir und meinem Freund

Das Haus ist alt, das wussten wir. Zwei Jahre stand es nach Omis Umzug ins Altersheim leer. Wir haben uns um Garten und das Haus gekümmert. Mir tat es in der Seele weh, den alten Kasten so einsam und verlassen zu sehen. Im Januar 2015 zogen wir schliesslich ein. Das war die beste Entscheidung unserer Leben. Wir fanden eine echte Heimat.

Über die Jahre haben wir verschiedene Räume renoviert, frisch gestrichen, die Elektrik wurde neu gemacht. Diesen Frühling schliesslich wurden Dach und Fassade saniert. Dabei erfuhren wir ganz nebenbei, dass das Haus vermutlich sehr viel früher als 1839 gebaut wurde, nämlich bereits im 18. Jahrhundert.

Das alles hat mich als Kind nicht gekümmert. Ich liebte das Haus von Anfang an. Es roch seltsam, sah aber schön aus. Mir gefielen die roten Fensterrahmen, die grünen Läden und die vanillefarbene Fassade sehr. Ich erinnere mich noch daran, als meine Urgrosseltern hier lebten. Beide starben zuhause. Dann erbten meine Grosseltern das Haus. Opi achtete darauf, dass nichts verändert wurde. Das war nicht nur gut. Das Haus wirkte zwar gepflegt, aber man sah ihm sein Alter an.

Nach Opis Tod hat meine Omi sehr viel renoviert und renovieren lassen. Die Kellerräume blieben mehrheitlich unverändert und wir haben in den ersten Jahren unseres Einzugs sehr viel altes Zeugs entsorgt. Opis Werkstatt war sehr feucht, Schimmel war den Wänden. Dieses Zimmer liessen wir dann sanieren, ebenso den Seitenkeller, wo vor vielen Jahren ein Webstuhl stand.

Überhaupt ist das ganze Haus von der Toggenburger Textilindustrie geprägt. Im Estrich fanden wir viele Fadenspulen, die dazugehörigen Strickmaschinen, sehr viele Stoffe, Einbauschränke und Laminate aus England.

Der grosse Keller war früher eine Waschküche. Der Boden ist leicht abfallend mit Steinplatten ausgelegt, der steinerne Waschtrog ist ebenfalls vorhanden, ebenso Wöschhänkeni aus Holz. Hinter dem Haus pflegte der Appenzeller Sennenhundmischling der Urgrosseltern und der der Grosseltern zu schlafen. Hier wurden Waschbären, Kaninchen und Hühner gezüchtet.

In diesem Haus fanden unsere Familienfeiern statt. Hier wurde gelebt. Auf Fotos sieht man meine frisch verlobten Eltern, die den Urgrosseltern (und dem Haus) ihre Aufwartung machen, Gäste aus dem Ausland, den wunderschönen Garten, den Hundezwinger. Dann meine Grosseltern, die vor dem Haus stehen, aus Fenstern schauen, winken. In diesem Haus wurde auch gestorben. Die Geschichten behält es für sich, denn es hat bestimmt viel gesehen in den letzten zweihundert Jahren.

Nun ist das alte Dach saniert und wir werden im Winter weniger frieren, denn eine moderne Heizung haben wir nicht. Die Fassade ist so schön, wie ich sie damals anfangs der 80er in Erinnerung habe. Ich liebe dieses Haus so sehr und bin glücklich, dass wir hier leben dürfen.

Das Paulahaus im Sommer 2022

ein weiterer Geburtstag ohne ihn.

Das ist ein seltsames Gefühl, denn er war immer an meiner Seite, all die Jahre lang, all die Geburtstage. Sei es in meiner früher Kindheit oder aber später, wenn ich im Spital war oder älter war.

Ich erinnere mich an sein freundliches Gesicht, einen träfen Spruch.

Mein Vater war bei meiner Geburt dabei, und das war damals wohl sehr aussergewöhnlich. Er war neugierig. Lebensfroh. Er machte auch später immer mal wieder Witze darüber, dass er mich, frisch geboren, nackt, in seinen Händen gehalten hatte. Mich gewaschen hatte.

Er wirkt fröhlich, glücklich, wenn er mich auf den frühen Bildern ansieht. Ich bin seine erste Tochter, das erste Kind.

Wir waren uns all die Jahre nahe. Ich liebte ihn sehr. Er war mein wunderbarer Papi, mein Vater. Dä Debrunner. Chüngelizüchter. Sportler. Künstlerisch begabter Mensch. Sensibel. Liebevoll. Vogelflüsterer. Liebender. Gourmet. Reisefüdli. Begeisterter Autofahrer. Freund.

2018 ging es ihm sehr schlecht. Er sagte zu mir, wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet, hätte er in meinem Leben noch sehr viel mehr all das gemacht, was er sich nie getraut hätte.

Im Herbst 2018 meldete ich mich für die Jagdausbildung an. Ich startete im Februar 2019. Mein Vater hat mich von Herzen unterstützt und ermutigte mich all die Monate bis zu seinem Tod.

Wir haben viele Geburtstage und viele 1. August-Feiern zusammen erlebt und das macht mich glücklich. Er fehlt mir sehr. Gerade morgen wird er mir fehlen.

25 Jahre.

Heute vor 25 Jahren starb mein Opi Walter. Er wurde 72 Jahre alt.
Opi war im Herbst 1996 Leberkrebs diagnostiziert worden. Er wusste, welches Ende ihn erwarten würde und entschied sich, zuhause zu sterben. Meine Omi hat ihn bis zu seinem Tod begleitet, ebenso eine Pflegende.

Omi berichtete, wie zerbrechlich Opi am Ende seines Lebens geworden war. Sie hielt seine Hand, als er am Morgen des 7. Januar 1997 um Punkt acht Uhr seinen letzten Atemzug tat. Omi war auch über 10 Jahre später an der Seite meiner Mutter, ihrer Tochter, als sie starb und hat auch damals ihre Hand gehalten.

Die Nachricht von Opis Tod erreichte mich am Arbeitsplatz. Ich arbeitete seit einigen Monaten in einem Ladengeschäft und war mehr oder weniger glücklich dabei. Meine Mutter hatte meine Chefin angerufen, die mich dann ins Büro zitierte. Meine Mutter weinte am Telefon und sagte, Opi wäre tot. Ich weinte kurz, ging dann wieder zur Arbeit.

Ich spürte damals, dass ich offenbar innerlich trauere. Ich muss weiter arbeiten können, in meinem gewohnten Umfeld funktionieren. Ich brauche keinen totalen Rückzug von allem.

Eine Woche später war Opis Beerdigung. Es war sehr kalt. In meiner Erinnerung liegt Schnee. Omi war sehr stark und tröstete uns alle. Meine Schwester und ich weinten.

Beim Trauermahl im Café Huber, wo Omis Geschwister, Mami, Opis Freunde aus der Aktivdienstzeit dabei waren, erzählten alle Erlebnisse mit Opi. Es schien mir, als würde er für einen Moment nochmals zwischen uns sitzen, ein dünner zierlicher Mann, mit stahlblauen Augen, die Zigarette zwischen den Fingern.

Erst nach seinem Tod, als ich mit Omi das Haus aufräumte, Fotos und Zeitungsberichte fand, lernte ich meinen Opi ganz anders kennen.

Er war sehr intelligent, an Politik, Physik und Chemie interessiert, gleichzeitig ein begabter Musiker, Jazz- und Swingliebhaber. Er interessierte sich für Geschichte, das Toggenburg und hatte den Zweiten Weltkrieg als Militärmusiker am eigenen Leib erlebt.

Er war das zweite Kind von Anna und Henri Mettler. Seine ältere Schwester Nelly war einige Jahre vor seinem Tod als Kleinkind verstorben. Henri war Veteran des Ersten Weltkriegs und wie er Fabrikarbeiter im Toggenburg.

Opi war während meiner Kindheit und Jugend mein freundlicher Begleiter. Er motivierte mich zu lernen, an mich zu glauben und das zu tun, was ich mir erträume.

Sein langsames Sterben war eine sehr traurige und zugleich schöne Erfahrung. Ich lernte von ihm, wie es ist, anderen zu vergeben und offen zu sein für den Übergang in den Tod. Opi war ein sehr besonderer Mensch und er fehlt mir, auch 25 Jahre später noch immer. Ich denke gerne an ihn zurück. Ich bin dankbar, dass ich seine Enkelin bin.

Opi Walter

Heute ist der 97. Geburtstag meines Opi Walter. Er ist der Sohn von Henri und Anna, der Stiefsohn von Rosa. Er lebte bis zum 7.Januar 1997 in diesem Haus, wo ich seit 2015 lebe.
Walter war das zweite Kind von Henri und Anna, seine ältere Schwester starb kurz vor seiner Geburt. Bei Walters Geburt war sein Vater Henri schon 35 Jahre alt. Heute finden wir das vielleicht genau das richtige Alter, um Vater zu werden. Aber 1924 bedeutete das, dass er einen alten Vater hatte.

Henri war 1914 bis 1918 im Militär. Seine Beziehung zu Anna ist in vielen Postkarten dokumentiert. Da ist von Armut und Hunger die Rede. Nach dem Krieg fröhnte Walter seiner Liebe zum Swing und Jazz. Er spielte in mehreren Formationen, trat an vielen Orten auf. Er war leidenschaftlicher Saxophonspieler.

Mein Opi lernte anfangs der 50er Jahre meine spätere Omi Paula kennen. Mit 27 Jahren wurde er Vater meiner Mutter Uschi. Er war ein leidenschaftlicher, junger Mann. Ein Künstler. Er war Musiker durch und durch.
Walter arbeitete in der Textilbranche. Glücklich wurde er wohl nicht damit. Ende der 70er wurde er arbeitslos, tingelte von Weberei zu Weberei. Am Ende seines Arbeitslebens arbeitete er bei Kägi.

Mein Opi war für mich als Kind ein grosses Geheimnis. Ich verstand nicht, was er für ein Mensch war. Ich trage ihn in meiner Erinnerung als ein vom Leben gebeugter Mensch, der sich oft im Keller des Hauses aufhielt. Der immer ein Glas Rosé in seiner Werkstatt stehen hatte.
Er lehrte mich vieles. Dass ich mich für Physik, Chemie und Geschichte interessieren soll, weil es wichtig ist. Er hatte nie einen Vorbehalt betreffend Bildung und Frauen. Ganz im Gegenteil. „Lerne!“, sagte er. Und: „Niemals vergessen“ und das im Bezug auf Hitler.

„Irgendwann laufen wir auf die Krinau hinauf und schauen uns den Sonnenaufgang an.“ Wir haben es nie getan. Aber manchmal verspüre ich die Lust, auf die Neu-Toggenburg zu steigen, frühmorgens, und mir den Sonnenaufgang anzuschauen.

Seine Beerdigung war sehr traurig. Ich weinte sehr, weil er mir so sehr fehlte. Meine Mutter, Omi, meine Schwester und ich standen an seinem Grab. Nur gerade 10 Jahre später würden Omi und ich an Mamis Grab stehen, nur wenige Meter von Omis Grab entfernt.

Vor 25 Jahren um diese Zeit lag mein Opi im Sterben. Er war seit Herbst 1996 an Leberkrebs erkrankt, bzw. diagnostiziert. Meine Omi erzählte mir, dass er genau gewusst hat, wie er sterben würde.
Er würde langsam innerlich ertrinken, sagte sie. Seine Pflegende hiess Schwester Paula, genau wie meine Omi.
Omi erzählte, dass sie sich am Ende ihres Lebens wieder geliebt hätten. Sie sagte: „Es war eine grosse Nähe zwischen uns.“

Nun sitze ich heute abend, an Opis 97. Geburtstag in der Stube, wo er gestorben ist. Und wo 1984 auch mein Urgrossvater verstarb. Alles sieht hier etwas anders aus als damals. Die klobigen Möbel sind fort. Wir fläzen uns auf den Möbeln aus den 70ern. Wir sitzen in einem Zimmer, das schon sehr alt ist und uns sehr viel erzählen könnte.

Heute abend erinnere ich mich an Walter, dessen junges Erwachsenenalter durch einen Krieg unterbrochen wurde, der mit 19 eingezogen wurde, unterernährt und krank.

Ich erinnere mich an einen Mann mit leuchtend blauen Augen, blondem Haar und dem Schalk im Gesicht. Einen Mann, der Spässe mochte und auch seine Enkelinnen liebte. Ich erinnere mich an einen mutigen Menschen, voller Liebe für seine Verwandten, seine Tochter.

Von der Liebe zum Wald

Ich wuchs in einer braven gemischt-konfessionellen Familie auf. Der allwöchentliche Sonntagsspaziergang gehörte zu meiner (protestantischen) Erziehung dazu.

Mein Vater liebte es, spazieren zu gehen und so liefen wir Kinder und die Mutter neben ihm her. Je steiler das Waldstück, desto besser gefiel es ihm. Er war, meiner Einschätzung nach, ein Waldliebender. Er pflanzte Tannen neben seinem Kaninchenstall, weil er diese Bäume so sehr liebte.

Als Kind hasste ich die Sonntagsspaziergänge. Sie waren mir viel zu hektisch. Ich liebte es, stehen zu bleiben, zu lauschen und dann weiter zu gehen. Leider gab es damals noch keine Digitalkameras, denn dann wäre ich noch langsamer gelaufen, weil ich noch sehr viel mehr durch die Linse gesehen und noch mehr Besonderheiten entdeckt hätte.

Heute ist alles anders. Ich liebe Spaziergänge, das Wandern frühmorgens bei leicht trübem Wetter. Die innere Ruhe, die einkehrt, sobald ich durch einen Wald laufe. Das Herzklopfen, wenn ich Geräusche höre, innehalte und warte, was um mich herum passiert. Die Ruhe, die über mich kommt, wenn ich mich konzentriere.

Es ist heute nicht viel anders, als ich noch ein kleines Kind war. Der Wald fasziniert mich. Ich muss und will leise durch ihn hindurch laufen, um all die anderen Bewohner nicht zu stören. Wenn ich einen von ihnen erblicke, halte ich inne, ganz gleich ob Amsel, Eichhörnchen oder Reh. Da fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind. Glücklich. Ganz bei mir.

Aber etwas fehlt mir, trotz meiner 43 Jahre: die starke Hand meines Vaters. Seinen lieben Blick, derweil er mir zuschaut, wie ich irgendwelche Büsche von nahem anschauen muss. Oder Losung fotografiere. Oder mich frage, welcher Berg nun welcher ist.

Manchmal denke ich, dass die Beeinträchtigung seiner Bewegungskompetenz durch seine Krankheit einfach nur schlimm und ungerecht war. Er hat es so sehr geliebt, zu laufen!

Doch gleichzeitig tröstet es mich, dass er bis fast zum letzten Tag seines Lebens so oft als möglich draussen war. An der Murg, an der Thur. Dass er Tiere beobachten konnte. Welche Freude es ihm bereitet hat, sie zu erkennen. Oder mit seiner geliebten Frau darüber zu sprechen, was sie beobachtet hatten.

Dieses Glück, als Kind der Natur begegnen zu dürfen, werde ich nie vergessen. Mein Vater hat mir sehr viel geschenkt. Ohne seine Liebe zur Natur wären für mich die letzten Monate sehr viel schwerer gewesen.

Ich wünschte mir, er würde er noch leben, um die nächsten paar Monate an meiner Seite zu sein.

Weihnachten mit der Tanne

Heute habe ich unseren Christbaum geschmückt. Vor einigen Tagen haben wir eine Nordmanntanne im Topf gekauft. Ich mag nämlich keine abgeschnittenen Tannen. Ich mag diese wunderbaren Bäume sehr viel lieber, wenn sie mitten im Wald stehen. Ich liebe ihren Geruch und die Verschiedenheit der einzelnen Nadeln.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, bin ich einmal mit meinem Vater in den tief verschneiten Wald gegangen, um eine Tanne zu holen. Es war – im Nachhinein – ein märchenhaftes Erlebnis. Es war kühl und hell und ich hoffte, Rehe zu sehen. Natürlich liessen sich diese scheuen Bewohner des Waldes nicht blicken.

Am 24. Dezember schmückten wir jeweils mit unserer Mutter den Christbaum. Das war eine schöne Szenerie: Der Baum war über und über mit Kugeln bestückt, zuletzt kam noch der Schokoladenschmuck an die Äste. Ich hatte derweil die Aufgabe, unsere alte Katze davon abzuhalten, im Baum herumzuklettern. Sie liebte es, die Kugeln zu schubsen, bis sie zu Boden fielen und zerbrachen.

Und nun sitze ich vor dem Baum, der mit den Christbaumkugeln meiner Urgrosseltern, meiner Grosseltern, meiner Eltern und meinen eigenen geschmückt ist. Einige der Kugeln sind uralt. Ich denke an unsere Weihnachtsfeste zurück; wie sie waren als ich noch ein Kind war und später, als sich unsere Eltern scheiden liessen, als Opi im Sterben lag und vor drei Jahren an das letzte Fest mit Omi. Unsere alte Katze findet Herumklettern im Baum eine eher doofe Sache.

So richtig Weihnachten feiern tue ich eigentlich, wenn ichs recht bedenke, nur noch an der Arbeit. Das wärmt mein Herz und ich freue mich jeweils sehr darauf, wenn unsere betreuten Menschen mit grosser Freude ihre Geschenke auspacken.

Dieses Jahr wird es etwas anders: ich hatte nach vielen Jahren wieder einmal Lust aufs Baum schmücken. Ich musste dran denken, dass wir vor fünf Jahren uns so sehr darauf freuten, endlich im Toggenburg zu leben. Es hat sich in so kurzer Zeit so vieles verändert und so vieles ist gut geworden. Und wenn ich dann Omis Krippenfiguren (und die psychedelischen Zwerge) aufstelle, ist es ein wenig, als wenn sie noch da wäre.

Schöni Wiehnacht und es guets neus Johr!

Wintergedanken

Seit über sieben Jahre schreibe ich dieses Blog und es gehört zu meinem Leben wie Herzschlag und Atmen. Wenig habe ich geschrieben während der letzten Monate, was nicht daran lag, dass nichts passiert wäre.

Ich schreibe nicht, wie es meinem Vater geht, weil er nicht will, dass ich mir darüber Gedanken mache. Sich nahe sein ist wichtiger als reden. Ich muss an den Spruch “sie ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten” denken und bemerke, wie unglaublich grausam dieser Satz ist, der doch so leicht in einem Gespräch fällt. Ich gleiche meinem Vater sehr. Äusserlich, und wahrscheinlich auch im Wesen.

Meine Trauer um Omi hat etwas anderem Platz gemacht. Sie ist nun bald drei Jahre tot. Ich bin ihr und Opi und meinen Urgrosseltern so dankbar, dass ich dank ihnen und dem Haus in diesem Städtli einen Ort gefunden habe, wo ich mich zuhause fühle. Ich bin angekommen. Ich bin daheim. Das ist ein Gefühl, das mir so lange in meinem Leben unbekannt war. Wenn ich abends nach Hause komme und das Haus im Dunkeln erblicke, bin ich glücklich.

Der Winter naht und ich kann die dunklen, weissen Tage kaum erwarten, so sehr freue ich mich. Ich liebe die Lichter in den alten Häusern und die Berggipfel im kalten Wind. Ich will zur Neu-Toggenburg aufsteigen und mir die Landschaft anschauen. Zu jeder Jahreszeit ist sie schön, doch im Winter sah ich sie noch nie von dort oben, diesen alten, magischen Ort.

Nun ja, ich habe mir natürlich überlegt, ob ich einfach aufhören soll mit “Demenz für Anfänger”. Es wäre eine logische, und wahrscheinlich auch kluge, Schlussfolgerung nach all den Jahren.

Aber ich mag nicht. Die Geschichte ist nicht fertig erzählt. Noch nicht.

Spielkindheit

Vor einigen Wochen hatte ich ein interessantes Gespräch mit meinem Vater. Ich erfuhr dabei, dass er es damals gar nicht so toll gefunden hatte, dass wir Kinder die ganzen Ferien bei Omi und Opa verbrachten.

Er beschrieb mir, wie sehr er es jeweils genossen hatte, mit uns Kindern etwas zu unternehmen, uns an Anlässe mitzunehmen, zu wandern oder Velo fahren zu gehen.
Meine Mutter hat ihn gar nie gross gefragt, ob er damit einverstanden war, dass wir zu Omi gingen. Es war einfach abgemachte Sache zwischen Omi und ihr, wobei er dazu meinte, dass meine Mutter wohl auch einfach froh war, uns mal nicht an der Backe zu haben.

Das hat mich irgendwie sehr gerührt, denn ich hatte als Kind nie das Gefühl, den Vater zuwenig zu haben. Er war beruflich zwar sehr eingespannt, aber auch immer präsent.
Vater und Mutter waren definitiv keine „Helikoptereltern“. Sie hatten den Anspruch an uns, an mich, dass wir uns selbständig beschäftigen. Sie fuhren uns nie an irgendwelche Kurse oder Anlässe, weil wir da gar nicht erst teilnahmen. Vermisst habe ich nichts. Im Gegenteil.

Als Kind verbrachte ich sehr viel draussen auf den Wiesen, unterwegs mit unseren beiden Katzen. Ich liebte es, an der Sonne zu liegen, Käfer, Schmetterlinge und Blumen zu erkunden und mir wunderbare Abenteuer auszudenken. Ich fühlte mich eins mit der Natur, als kleiner Teil, und das war wunderbar.

In den Ferien bei den Grosseltern habe ich jeweils an der Wöschhänki Zelte gebaut. Es war paradiesisch, denn es gab nur wenig Grenzen: Wir durften nichts kaputt machen. Wir sollten anständig sein. Wir durften uns nicht in Gefahr bringen. Aber sonst… Freiheit pur.

Als ich heute morgen aufwachte und zum Fenster hinaus schaute, musste ich an Omi denken, die uns Kindern soviel schöne Erlebnisse ermöglichte. Sie fehlt mir. In meinem Herzen ist noch immer jene kleine Stelle Erinnerung, wo ich auf der Schaukel sitze und sie mich anstösst.

20 Jahre

Gestern vor 20 Jahren habe ich als Praktikantin in einer sozialen Institution im Kanton Thurgau angefangen. Es kommt mir nicht so lange vor. Und doch ist so vieles passiert.

1998 hatte ich bereits 2 Jahre in einem Verkaufsgeschäft gearbeitet. Ich liebte diese Tätigkeit, die Beratung von Kunden, das Auffüllen von Regalen, Vitrinen schön einzurichten. Eine Freundin meinte schliesslich zu mir: „Und das willst du jetzt bis zur Pension machen?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Freundin sagte: „Begleite mich mal zu meiner Arbeit und mach dir selber ein Bild.“ Sie war Sozialpädagogin in Ausbildung und so ging ich mit.

Ich hatte bis dahin wenig Kontaktmomente mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Ich kannte zwar einige Leute vom Sehen, doch tiefer gingen diese Begegnungen nicht. Meine Freundin motivierte mich, mich als Praktikantin zu bewerben. „Du wirst schnell sehen, ob es dir gefällt oder nicht. Zurück kannst du immer wieder.“

Und so bewarb ich mich in drei Institutionen. Die ersten zwei Bewerbungsgespräche waren desaströs und ich bin heute noch froh, dass ich in jenen zwei Institutionen nie gearbeitet habe. Das dritte hingegen war schön. Ich durfte eine Wohngruppe für Erwachsene besuchen und fühlte mich sofort wohl. Vier Monate später würde ich meinen Dienst als Praktikantin aufnehmen.

An meinem Arbeitsplatz, einem Lebensmittelgeschäft, sorgte mein Entscheid zu kündigen und „mit Verrückten zu arbeiten“ für einigen Aufruhr. Meine Chefin beschied mir, dass dies eine vollends blöde Idee wäre und ich würde schon sehen, wie es mir dort erginge. Der Chef hingegen verabschiedete mich an meinem letzten Arbeitstag mit einem Blumenstrauss, einem Händedruck und seinem Respekt für meine Entscheidung. Das hat mich sehr gerührt.

Und so startete ich am 1. Februar 1999 in einem mir bis dahin völlig fremden Arbeitsbereich. Ich lernte Menschen zu pflegen, ihnen beim Essen behilflich zu sein, medizinische Hilfe zu leisten, sie in Krisen und Freuden zu begleiten, sie in ihrer Freizeitgestaltung zu unterstützen und vieles mehr.

Ich habe nicht gezählt, wie viele Menschen ich in den 20 Jahren kennenlernen durfte. Es waren nicht wenige. Zu Herzen gingen mir jene Beziehungen, die anfangs nicht leicht waren, wo sich Menschen weiter entwickelten oder ich den letzten Weg begleiten durfte.

Vieles hat sich in meiner Arbeit geändert. Heute, im Gegensatz zu vor 20 Jahren, schreiben wir Berichte und Tageseinträge am PC und nicht mehr von Hand. Doch etwas ist gleich geblieben: Im Zentrum unserer Arbeit steht der Mensch mit seinen Wünschen, Bedürfnissen und Zielen.

Gestern mittag dachte ich schliesslich: Du hast dich vor 20 Jahren richtig entschieden, dass du hier in dieser Institution angefangen hast zu arbeiten.

Als ich vor einigen Jahren mit Omi die Schränke und Bücherregale im Haus durchsah, fiel mir ein Buch meiner Uromi Anna in die Hand. Es war ein Buch über die Pflege von behinderten Kindern. Damals wusste ich noch nicht, dass Anna vor meinem Opa schon ein Kind gehabt hatte, Nelly. Nelly starb noch vor Opas Geburt und keiner weiss heute mehr, wer sie war.

Vielleicht hat Anna das Buch gekauft, weil Nelly mit einer Behinderung auf die Welt gekommen war. Einmal mehr fühlte ich mich meiner Uromi Anna, die 30 Jahre vor meiner Geburt an Brustkrebs verstarb, nahe. Man lebt immer nur das eigene Leben. Aber manchmal fliessen Lebenslinien von früher ins eigene Dasein, damit man sich weiter entwickelt und das zu Ende bringt, was einem anderen vielleicht nicht vergönnt war.