Ein bisschen Mut, #hellsbells und Erinnerungen

Am Donnerstag ist es also soweit. Ich werde meine beiden ungeliebten Mitbewohner in meinem Bauch – aka #hellsbells los. Vorangegangen sind viele Monate Schmerzen und Leiden. Und nun soll ein minimalinvasiver Eingriff dem allem ein Ende bereiten.

Um es klar auszudrücken: Ich werde langsam alt. In meiner Gebärmutter haben sich seit bestimmt vier Jahren mindestens zwei Myome gebildet, die ziemlich nerven und mich bei der Ausübung meines Lebens immer mal wieder behindern. Sie drücken auf Blase und Rücken. Ich habe Schmerzen. Über meinen Eisenwert mag ich gar nicht sprechen.

Meine Frauenärztin meinte dazu sehr trocken: Ihre Gebärmutter versucht seit mehreren Jahren die #hellsbells loszuwerden. Es fühlt sich an wie Wehen. Und ja, vermutlich triffts dieser Ausdruck total. Ein bisschen ironisch bei jemandem wie mir.

Meine letzte Vollnarkose ist ziemlich genau 16 Jahre her. Da war ich gerade mal 29 Jahre alt. Aber irgendwie war damals alles anders. Meine Omi, meine Mutter und mein Vater haben noch gelebt und sich um mich gekümmert. Meine Omi, wie immer um mich besorgt, hat mich nach der OP sofort angerufen und gefragt: „Meitli, gohts dir guet? Isch bi dir alles in Orning? Söll ich verbi cho?“ Von soviel grossmütterlicher Liebe umgeben, ging es mir sofort besser. Denn Omi hat mit ihrer Energie immer alles ins Positive gelenkt.

Für meine Eltern waren meine Spitalaufenthalte, die ich seit frühester Kindheit kannte, Stress pur. Meine Mutter ertrug es nur schwer, mich in einem Spitalbett zu sehen. Als ich 1986 zum ersten Mal meine deformierten Hüften operieren liess, weinte sie. Mein Vater hingegen zeigte mehr Fassung, allerdings nur nach aussen. Auch ihm ging das alles sehr nahe. Er unterstützte mich mit aufmunternden, liebevollen Worte. „Du schaffsch da“, sagte er. Vermutlich hat meine Situation meine geliebten Eltern zu sehr an den Tod meines Bruders erinnert.

Ich verbrachte mehrere Ferien im Spital Frauenfeld, damals noch im grossen Bettenturm, der nun allerdings nicht mehr da ist und wo auch mein Bruder starb. In den 80ern waren die Vollnarkosen noch etwas anders und weniger leicht verdaulich als heute. Ich erinnere mich an Glasflaschen, gefüllt mit Blut, an meinen Beinen, starke Schmerzen. Übelkeit. Grosse Angst. Lange Nächte, in denen Bettnachbarinnen vor Schmerzen durchgeschrien haben. Meistens hatten sie Mandelentfernungs-OPs. Sie kriegten sehr viel Glacé in der Nachbehandlung.

Ich verbrachte jeweils mindestens zwei bis drei Wochen im Spital. Hatte Bücher und meine Barbies dabei. Ich erinnere mich an einen Dekubitus an meinen Fersen. Dekubitus ist das Schreckgespenst aller, die liegen müssen und tut höllisch weh. Ich hatte Physiotherapie bei holländischen Therapeutinnen, die immer sehr nett waren und deren Dialekt ich immer für sehr schweizerisch gehalten hatte.

Ich erinnere mich dunkel, dass mich irgendwelche Primarschullehrer*innen bei Pflichtbesuchen für meine Tapferkeit gelobt und gleichzeitig mich als Vorbild für andere meines Alters hervorgehoben haben. Das verstehe ich bis heute nicht: Warum sollte ein neunjähriges, gehbehindertes Mädchen Vorbild für andere, nicht gehbehinderte Kinder sein, die (zum Glück) null Wissen von Schmerzen, Mobilitätsproblemen und anderem haben?

In den Nächten im Spital ist jeder mit sich alleine. Das nimmt einem keiner ab. Der Umgang mit Schmerzen lässt einen altern und irgendwie einen Umgang mit Wut finden. Mir fehlen meine Eltern und Omi. Denn das ist nun das erste Mal, dass ich so einen Weg ohne sie gehe. Das fühlt sich ungewohnt schwer an.

Ich bin schon ein wenig neugierig, wie das so wird nächste Woche. Und wie sich das anfühlt, wenn ich – einmal mehr in meinem Leben – ohne Schmerz lebe.

25 Jahre.

Heute vor 25 Jahren starb mein Opi Walter. Er wurde 72 Jahre alt.
Opi war im Herbst 1996 Leberkrebs diagnostiziert worden. Er wusste, welches Ende ihn erwarten würde und entschied sich, zuhause zu sterben. Meine Omi hat ihn bis zu seinem Tod begleitet, ebenso eine Pflegende.

Omi berichtete, wie zerbrechlich Opi am Ende seines Lebens geworden war. Sie hielt seine Hand, als er am Morgen des 7. Januar 1997 um Punkt acht Uhr seinen letzten Atemzug tat. Omi war auch über 10 Jahre später an der Seite meiner Mutter, ihrer Tochter, als sie starb und hat auch damals ihre Hand gehalten.

Die Nachricht von Opis Tod erreichte mich am Arbeitsplatz. Ich arbeitete seit einigen Monaten in einem Ladengeschäft und war mehr oder weniger glücklich dabei. Meine Mutter hatte meine Chefin angerufen, die mich dann ins Büro zitierte. Meine Mutter weinte am Telefon und sagte, Opi wäre tot. Ich weinte kurz, ging dann wieder zur Arbeit.

Ich spürte damals, dass ich offenbar innerlich trauere. Ich muss weiter arbeiten können, in meinem gewohnten Umfeld funktionieren. Ich brauche keinen totalen Rückzug von allem.

Eine Woche später war Opis Beerdigung. Es war sehr kalt. In meiner Erinnerung liegt Schnee. Omi war sehr stark und tröstete uns alle. Meine Schwester und ich weinten.

Beim Trauermahl im Café Huber, wo Omis Geschwister, Mami, Opis Freunde aus der Aktivdienstzeit dabei waren, erzählten alle Erlebnisse mit Opi. Es schien mir, als würde er für einen Moment nochmals zwischen uns sitzen, ein dünner zierlicher Mann, mit stahlblauen Augen, die Zigarette zwischen den Fingern.

Erst nach seinem Tod, als ich mit Omi das Haus aufräumte, Fotos und Zeitungsberichte fand, lernte ich meinen Opi ganz anders kennen.

Er war sehr intelligent, an Politik, Physik und Chemie interessiert, gleichzeitig ein begabter Musiker, Jazz- und Swingliebhaber. Er interessierte sich für Geschichte, das Toggenburg und hatte den Zweiten Weltkrieg als Militärmusiker am eigenen Leib erlebt.

Er war das zweite Kind von Anna und Henri Mettler. Seine ältere Schwester Nelly war einige Jahre vor seinem Tod als Kleinkind verstorben. Henri war Veteran des Ersten Weltkriegs und wie er Fabrikarbeiter im Toggenburg.

Opi war während meiner Kindheit und Jugend mein freundlicher Begleiter. Er motivierte mich zu lernen, an mich zu glauben und das zu tun, was ich mir erträume.

Sein langsames Sterben war eine sehr traurige und zugleich schöne Erfahrung. Ich lernte von ihm, wie es ist, anderen zu vergeben und offen zu sein für den Übergang in den Tod. Opi war ein sehr besonderer Mensch und er fehlt mir, auch 25 Jahre später noch immer. Ich denke gerne an ihn zurück. Ich bin dankbar, dass ich seine Enkelin bin.

Den Schalk in den Augen

Am nächsten Freitag ist mein Vater ein Jahr tot.
Ich kann es nur sehr schwer glauben, dass ich vor bald einem Jahr zum letzten Mal seine Hand hielt.

Meine Beziehung zu ihm war immer tiefer als zu meiner Mutter. Ich hatte das Gefühl, dass er mich wirklich versteht, auch wenn er nicht immer nachvollziehen konnte, was mich antrieb.

Er war für mich immer sehr wichtig. Ich liebte es, seine Stimme zu hören, seine Briefe zu lesen. Ich liebte sein Lachen.

Wir liebten Filme. Bud Spencer, John Wayne, Terence Hill und Robert Mitchum waren unsere Helden. Mein Vater hatte den Schalk in den Augen.

Mein Vater nahm in meinem Leben eine Vorbildrolle ein. Er war sehr aktiv in jenen Vereinen, die ihm wichtig waren. Er war einer, der Verantwortung übernahm. Er züchtete Kaninchen, Hühner, später im Leben setzte er sich für Vögel ein.

Vögel waren unsere gemeinsame Leidenschaft. Wir zogen gemeinsam eine Krähe auf. Das schweisste unsere Familie sehr zusammen.

Gleichzeitig war er aber auch ein sehr engagierter Vater. Er nahm mich mit, wenn er an Ausflüge und Tagungen ging. Er gab mir das Gefühl, wichtig zu sein. Ich liebte es, in seiner Nähe zu sein.

Im Gegensatz zu meiner Mutter hat er mir nie vorgehalten, dass ich keine Kinder hatte. Die Rolle als Grossvater hat er wohl nur sehr ambivalent gelebt. Vielleicht fühlte er sich für all das zu jugendlich.

Eine Freundin unserer Familie hat mir an seinem 60sten Geburtstag gesagt, wie sehr er um meinen Bruder getrauert hat. Sie sagte, dass sie nie einen Mann so sehr trauern sah.

Mein Vater wirkte nach aussen immer stark und hart. Doch ich wusste und spürte, wie verletzlich er war und es machte mir nichts aus. Er hat mein Männerbild geprägt.

Am nächsten Freitag ist er ein Jahr tot. Ich kann nur sehr schwer glauben, dass es nun ein Jahr her ist, dass er nicht mehr lebt. Er fehlt mir ungemein. Ich vermisse seine Stimme, seine Umarmungen, seine Ermutigungen und seine Liebe.

Gestern war ich im Wald und ich musste an ihn denken, inmitten der Bäume. In diesem Leben habe ich ihn verloren, doch ich finde ihn wieder, wenn ich in den Wald gehe.

Vom Sinn des Lebens

Als ich 30 Jahre alt wurde, lag meine Mutter im Sterben. Sie wurde gerade mal 56 Jahre alt. Ich begleitete sie die letzten Wochen ihres Lebens. Ich hatte damals einen neuen Job mit Leitungsfunktion angetreten und wusste nicht, wie ich diese Doppelbelastung unter einen Hut bringen sollte. Ich arbeitete sehr viel und versuchte – wann immer möglich – meine Mutter im Spital und danach im Pflegeheim zu besuchen.


Es riss mich fast entzwei. Ihr Sterben machte mich sehr betroffen und ich begriff, dass ich nun nur noch wenig Zeit hatte, mich mit ihr auszusprechen und mit mir selber, was sie betraf, ins Reine zu kommen.
Ich hatte einige Jahre in Wut auf sie verbracht, sie wegen ihres Alkoholproblems gehasst und verachtet. Die letzten drei Monate ihres Lebens waren für mich wohl dazu da, alles aufzuarbeiten.
Das tat ich. Und es tat furchtbar weh.
Doch am Ende konnte ich sie loslassen und durfte dabei anwesend sein, als sie starb.

Kurze Zeit später machten sich bei meiner Omi die ersten Anzeichen einer dementiellen Erkrankung bemerkbar. Ich wollte es erst nicht wahrhaben. Omi war immer an meiner Seite gewesen, hatte mit mir am Bett ihrer sterbenden Tochter gewacht. Irgendwie hatte ich den Gedanken gehabt, nun wenigstens noch einige Jahre mit Omi zu haben.

Ich hatte Übung, einen Menschen in seinen letzten Jahren und Monaten zu begleiten. Doch auch hier überwog der Schmerz. Ich verlor meine Omi Stück für Stück. Sie, die mich immer so geliebt und als Kind verwöhnt hatte, vergass mich nun langsam. Den Schmerz konnte ich nur angehen, indem ich über ihn schrieb und all das Unfassbare in Worte presste.

Der letzte Weg mit Omi war meine Auseinandersetzung mit einem guten, gelebten Leben. Ich war traurig, dass sie starb. Doch ich spürte auch, es ist gut so wie es ist.

An Omis Beerdigung weinte mein Vater. Er war lange Zeit ihr Schwiegersohn gewesen, nach der Scheidung von meiner Mutter aber war er für sie der Vater von Omis Enkeln. Wir ahnten damals nicht, dass nun Papis Sterben einen Anfang nehmen würden. Ich denke, er wusste da mehr.

Mein Vater litt plötzlich unter Gleichgewichtsstörungen, konnte kaum noch gehen. Von einem Tag auf den anderen gab er seinen Führerschein ab. Für ihn, den Bewegungsmenschen, war das ein grosser Einschnitt in seine Lebensqualität. Er verlor sehr viel Lebensmut, gleichzeitig wollte er alles tun, was in seiner Macht stand, um nicht an Kraft zu verlieren und weiter zu leben.

Sein Leiden berührte mich sehr. Ich konnte nur schwer zusehen und wusste nicht, wie ich noch Trost oder Mut spenden konnte. Ein Satz von ihm änderte schliesslich mein Leben. Er hatte gesagt: „Wenn ich mit Anfang 40 gewusst hätte, wie sich mein Leben mit 70 verändert, so hätte ich noch sehr viel mehr all das getan, was ich mich bis dahin nie getraut hätte.“

Ich dachte darüber nach, woran ich mich nie heran gewagt hätte, wären nicht diese Worte meines Vater gewesen. Mit einem Mal sah ich klar: Ich wollte mich mit der Natur, dem Leben und dem Tod auseinandersetzen. Ich wollte lernen.
So entschied ich mich, mich an die Jagdprüfung anzumelden.

Mein Vater reagierte erst verwundert, dann entschied er sich, mich bei meinem Vorhaben zu unterstützen. Er motivierte mich, freute sich über Erfolge und sprach mir Mut zu. Mit einem Mal sprachen wir wieder über andere Themen.

Dann kam Corona und unsere Verbindung wurde erneut auf die Probe gestellt. Ich besuchte ihn nicht mehr oft, aus Sorge, ihn oder seine Frau ungewollt mit Covid anzustecken.

Die letzten Monate seines Lebens telefonierten wir, sahen uns nicht mehr. Es war aber nicht so, dass wir uns von einander entfernten. Viel mehr spürte ich jedes Mal, wenn ich in den Wald ging und jagte, wie nahe er mir hier ist. Es fühlte sich an, als ob er immerzu an meiner Seite wäre. Ich fühlte mich gestärkt.

Im letzten November starb mein Vater. Ich war erleichtert, dass er loslassen konnte und dass sein Leiden ein Ende hatte. Die Trauer begleitet mich trotzdem. Er ist viel zu früh gegangen. Ich hätte ihn gerne noch länger an meiner Seite gehabt.

Doch da ist noch mehr: Ich trete sein Erbe an, widme mich der Natur. Tue Dinge, an die ich mich nie gewagt hätte. Ich gehe mutig in die Zukunft mit gefülltem Rucksack.

Scheiss Trauer-Arbeit

Meine Trauer verläuft, im Vergleich dazu, als meine Mutter und meine Omi starben, nun beim Tod meines Vaters ganz anders.

Als meine Mutter starb, war das für mich absolut zehrend. Ihr Verlust, das Mitleiden während mehrerer Monate, ihre Odyssee vom Spital, in die Psychiatrie, zurück ins Spital und schliesslich ins Pflegeheim, verbrauchten meine Kraft. Nach ihrem Tod fühlte ich mich ausgequetscht und tieftraurig. Als schönen Moment werte ich noch heute, dass ich mit meiner Omi in den letzten Minuten meiner Mutter dabei sein konnte. Das ist ein Geschenk vom Leben an mich, damit ich mit all den Erlebnissen weiter leben konnte. Meine Trauer zog sich allerdings über mehrere Jahre hin. Ich hatte schwer dran zu beissen.

Das Sterben meiner Omi zog sich über viele Jahre hin. Allerdings spürte ich, wie sie trotz ihrer Demenz viel Lebensqualität hatte und auch sehr lange selber entscheiden konnte, wie es mit ihr weiter gehen würde. Selbst als sie im Pflegeheim war, hatte ich das Gefühl, dass es ihr gut geht und sie liebevoll gepflegt wird. Ich konnte sie so langsam loslassen, im Wissen, sie würde nicht alleine gehen müssen, wenn sie das nicht wollte. Meine Omi blühte im Pflegeheim nochmals so richtig auf: Sie genoss Besuche, sie liebte ihre Pflegenden und nahm jeden Tag aufs Neue an. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es für sie gewesen wäre, während der Corona-Massnahmen in einem (abgeschotteten) Heim zu leben. Ich bin froh und dankbar, dass sie vor vier Jahren gehen konnte. Ich spürte, dass sie jetzt genug hatte und bereit war, loszulassen. Die Trauer um meine Omi verlief, trotz oder wegen unserer engen Beziehung, sehr leicht. Ihr letzter Satz an mich, kurz bevor sie starb, lautete: „Warum bist du denn traurig?“. Das half mir, sie gehen zu lassen. Sie hatte ihr Leben gelebt. Es war ok, wenn sie nun starb.

Ganz anders verhält es sich bei der Trauer um meinen Vater. Er war für mich immer ein Quell von Leben und Energie gewesen. Er war sportlich, fit, unternehmungslustig. Seine Diagnose Kleinhirnatrophie bedeutete für ihn, dass er innerhalb weniger Jahre zu einem Pflegefall wurde. Mitanzusehen, wie aus meinem Vater, der Sport über alles liebte, plötzlich ein pflegebedürftiger, hoch verletzlicher Mann wurde, hat auch mich verändert. Zwei Herzen schlugen in meiner Brust: Vielleicht würde sich alles wieder zum Besseren kehren, er plötzlich wieder gesunden und gleichzeitig die Gewissheit, dass er in den sicheren Tod geht. Die Pandemie mit den verschiedenen Massnahmen und meine berufliche Situation führten dazu, dass wir uns nicht mehr oft sahen. Denn ich wusste eines: Er will nicht ins Pflegeheim. Eine Ansteckung hätte für ihn und seine Frau bedeutet, dass er ganz sicher ins Pflegeheim muss.
Mein helfendes Ich war angeknackst: Ich konnte ihm nur helfen, indem ich nichts tat, ausser die beiden anzurufen, an sie zu denken und selber gesund zu bleiben.
Ehrlich gesagt bemerkte ich in dieser Zeit, dass ich vorher nie gross überlegt hatte, dass mein Vater einmal sterben könnte. Das hat mich recht beschäftigt.

Ich hatte bei seinem Sterben erneut ein Geschenk erhalten: Ich durfte bis kurz vor seinem Tod bei ihm sein. Seine Hand halten. Ein letztes Mal die Tochter meines Vaters sein, im Wissen, dass nachher keiner mehr da sein würde, der mich seit meiner Geburt gekannt hat.

Die Trauer um meinen Vater gestaltet sich kompliziert. Sie kommt in Schüben. Nebst der Erleichterung, dass sein Leiden beendet ist, kommen Momente der Erinnerung, des Verarbeitens gelebter gemeinsamer Momente. Nun weiss ich glücklicherweise, dass mein Vater nie gewollt hat, dass man (ich?) lange um ihn trauert. Das Leben ist jetzt. Wenn er jetzt noch leben würde, könnte ich ihm entgegnen, dass Trauer Leben in reinster Form ist. Aber wie ich ihn kenne, würde er dann wohl sagen: *“Da muesch du sälber wüsse, wa’d du machsch.“ Da hat er wohl recht.

*Du musst selber wissen, was du machst.

Das Familienfoto

Dieses eine Familienfoto zeigt alle Ebenen der Trauer und des Todes in meinem Leben auf. Ich mag es seit frühester Kindheit.

Auf dem Foto ist meine Kernfamilie zu sehen. Da ist meine Omi, meine Mutter, damals schwanger mit meinem Bruder, mein Vater und ich, mein Opi und meine Uromi zu sehen. Im Vordergrund sitzt mein Uropi. Dahinter der Hund meiner Urgrosseltern. Dort, wo mein Uropi sitzt, wächst nun ein Rosenstrauch. Ich sehe dieses Foto an und bin mir bewusst, dass ich die einzige bin, die von all jenen noch am Leben ist.

1979 trat der Tod zum ersten Mal wissentlich in mein Leben. Mein Bruder starb wenige Tage nach seiner Geburt. Ich war 2 Jahre alt, kann mich aber bis heute an Bruchstücke, an seinen kleinen weissen Sarg erinnern. Da war diese Beerdigung, dieses kleine Grab. Ich trug einen roten Mantel. Meine Eltern, meine Omi, weinten.

1983 starb Röös, meine Urgrossmutter. Auch an ihren Tod kann ich mich sehr gut erinnern. Sie wachte eines Morgens einfach nicht mehr auf. Ich war sechs Jahre alt, stand in der Stube neben dem antiken Buffet. Röös war sehr alt geworden. Ihr Tod fühlte sich logisch an. Es war eben an der Zeit.

Ein Jahr später starb mein Uropi Henri im Alter von 95 Jahren. Mein Opa hatte ihn und meine Urgrossmutter zuhause gepflegt. Erst viele Jahre später verstand ich die Tragweite von Opis Engagement. Mein Uropi war der erste Mensch, den ich tot gesehen habe. Er trug ein Totenhemd mit Spitze und sah aus wie ein schlafender, sehr alter Engel.

Dann hatte ich sehr lange Ruhe vor dem Tod. 1997, ich war knapp 20 Jahre alt, starb mein Opi an Leberkrebs. Er wusste nach der Diagnose, wie er sterben würde und hat mit niemandem gross darüber geredet. Ich bekam nur mit: „es würde heftig werden“. Opi erstickte langsam. Davor hatte er grosse Angst. ich nehme an, das hat auch mit seinen Kriegserfahrungen zu tun. Das langsame Sterben, der Verlust an Luft, hat ihm immer Angst gemacht. In Zeiten von Covid können wir das vielleicht alle gut nachvollziehen.

Nach Opis Tod dauerte es weitere zehn Jahre, bis der Tod wieder in mein Leben trat. Meine Mutter, damals 56 Jahre alt, litt an Leberzirrhose. Sie starb in einem Pflegeheim, in der Nähe des Ortes, wo sie geboren worden war, neben dem Spital, wo sie mich 30 Jahre zuvor geboren hatte.

Mutters Tod veränderte mein eigenes Leben total. Mit einem Mal war ich mit der Frage konfrontiert, was ich für eine Frau werden würde, jetzt nach Mutters Tod. Mir war klar, ich würde niemals heiraten, niemals Kinder kriegen, nie ein Leben führen, wie es vielleicht (für jemand anderen) angebracht wäre. Das war ein gutes, wenn auch wildes Gefühl. Es begleitet mich bis heute.

Als meine Mutter starb, war ich an ihrer Seite. Ich kriegte mit, wie es ist, wenn ein Mensch langsam stirbt. Wie es sich von aussen anfühlt, wenn ein Mensch geht. Das war eine absolute Grenzerfahrung, vielleicht vergleichbar mit der Geburt eines Kindes, nur einfach andersrum.

Es dauerte weitere zehn Jahre bis 2017. Dann starb meine Omi. Kurz nach Mutters Tod trat Omis Demenz in Erscheinung, so als hätte sie nur darauf gewartet, endlich schalten und walten zu können. Omis Geist tauchte ab. Sie war zwar immer noch der gleiche, liebevolle Mensch, doch all ihre Erinnerungen verschwanden. Für mich war das eine Katastrophe, denn ich begriff, wieviel sie mir bedeutete, wie stark sie mich all die Jahre begleitet hatte.

2020 verlor ich meinen Vater. Was soll ich dazu sagen?
Er fehlt. Sein Verlust ist eine offene Wunde an meinem Herzen.
Er war mir einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich habe ihn sehr geliebt. Ich war immer so stolz auf ihn. Ich sah ihn gerne an. Ich hatte ihn furchtbar gerne. Vielleicht dachte ich in meinem töchterlichen Kind-Ich: er ist unsterblich.

Das war er leider nicht. Ich weiss, dass er an seiner Krankheit unsagbar litt.
Dass sein Tod eine Erlösung für ihn war. Dass ich ihn sehr vermisse. Dass ich von ihm träume.

Mein Vater, der Eisvogel

Uns blieb unser letztes Jahr verwehrt. Dein Geburtstag im Februar 2020 war das letzte Fest unter Freunden, an das ich mich erinnern kann. Ich hätte nie gedacht, dass dies dein letzter Geburtstag sein würde und du genau neun Monate später tot sein würdest.

Wie viel an gemeinsamer Zeit und lieben Worten haben wir in diesem Jahr verloren?
Es war eines der härtesten Jahre meines Lebens, dieses verdammte 2020. Alles hat sich in meinem Leben verändert. Kein Stein blieb auf dem anderen. Doch dass ausgerechnet du am Ende nicht mehr da sein würdest, habe ich nicht erwartet.

Deine Krankheit war absolut unbarmherzig und grauenvoll. Von allen Dingen im Leben war sie das, was du nie im Leben wolltest. Du wolltest nie krank und auf Hilfe angewiesen sein, nicht bei vollem Bewusstsein die Kontrolle über deinen starken, sportlichen Körper verlieren. Es waren vier Jahre Qual, Leiden und Schmerzen.

Und ich war wenig bei dir, denn unsere Abmachung war: Freiheit ist das wichtigste. Keine Quarantäne riskieren, denn du wolltest täglich raus, in den Murg-Auen-Park, deine Singvögel beobachten. Den Eisvögeln zuschauen. Noch einmal eingeschlossen in ein Zimmer, wie damals im Pflegeheim, kam für dich nicht in Frage. „Isolationshaft“ hast du es genannt und du hattest wohl nicht ganz unrecht.

Rückblickend hätte ich vielleicht mutiger – oder je nach Sicht: rücksichtsloser – sein sollen. Meinem Herzen folgen, dich besuchen. Aber viel zu oft war ich müde, erschöpft, traurig oder einfach nur bestrebt danach, in den Wald zu gehen, abends zu schreiben, mir Ruhe zu gönnen.

Doch da war auch noch der Frühsommer 2019, als du mich batest, mit dir auszufahren und wir an alle für dich wichtigen Orte gefahren sind. Du hast mir sehr viel erklärt, vieles habe ich nicht auf Anhieb verstanden, aber ich habe dir zugehört. Schliesslich verstand ich, was du mir sagen wolltest. Du erzähltest mir Geschichten aus deiner RS, deiner Ehe mit meiner Mutter. Du hast quasi aufgeräumt und reinen Tisch mit dir (und mir) gemacht, derweil ich das Auto lenkte und dich dorthin fuhr, wo du es wünschtest. Irgendwann wurdest du müde und ich fuhr dich wieder nach Hause. Danach warst du seltsam zufrieden und ruhig.

Zu gerne hätte ich mit dir meinem 43. Geburtstag gefeiert. Aber dies blieb uns verwehrt, wie so vieles in diesem Jahr. Wenige Stunden vor deinem Tod sprach ich mit einer Begleitperson von dir, die dich lange Zeit zuhause betreut hat. Sie erzählte mir strahlend, dass sie bei einem Spaziergang mit dir zum ersten Mal im Leben einen Eisvogel gesehen hat. Dieses Strahlen werde ich nie vergessen.

Wenn ich dich suche, geliebter Vater, so gehe ich nicht auf den Friedhof, sondern an die Murg. Ich werde an deinem Ort sitzen und warten, bis ich die Eisvögel sehe und an dich denken, in der Hoffnung, dass du nun auch einer von ihnen geworden bist.

(k)ein Nachruf auf meinen Vater

Am Donnerstagabend ist mein Vater verstorben.

Die Beisetzung meines Vaters findet in einigen Tagen statt und ich darf seinen Nachruf verfassen. Dazu muss ich sagen, dass ich es liebe, gute Nachrufe zu lesen. Mein Vater und ich haben jahrelang den Appenzeller Kalender gelesen und uns darüber am Telefon ausgetauscht. Diese Lektüre prägt, wenn man selber in die Lage kommt, über einen lieben Verstorbenen zu schreiben.

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater führt einem immer wieder zu sich selbst zurück:
Wer bin ich? Woher komme ich?
Was ist mir wichtig? Wo will ich hin?

In meinem Fall ist es so: ich bin die Tochter meines Vaters. Er war federführend, was die Erziehung von mir und meiner Schwester betraf. Er hat uns geprägt mit seiner Liebe zur Natur, familiären Werten, der Liebe zum Kanton Thurgau (und auch zum Kanton Jura – aber das ist eine ganz andere Geschichte.) Ich verdanke meinem Vater die Fähigkeit zu fliegen: Er liess mich einfach ziehen, auch wenn ich weiss, dass es ihm fast das Herz gebrochen hat.

Mein Vater bemerkte vor einigen Jahren beiläufig, dass ich „es“ nicht von ihm hätte. Er meinte damit das Schreiben. Das mag vielleicht sogar stimmen. Er war eher ein Mann des Wortes. Mein Vater konnte, trotz seiner eher schüchternen, bescheidenen Art, vor Leute hin stehen und etwas sagen. Das habe ich immer sehr bewundert und ihn dafür geliebt. Ich war immer sehr stolz auf meinen Vater, weil er so ein guter Mensch war. Er fehlt mir so.

Während ich das hier schreibe und nachdenke, google ich meinen Vater.
Ich finde Fotos von ihm aus früheren Jahren, wie er sich kraftvoll und strahlend unter Menschen bewegt. Das Lachen habe ich zweifelsohne von ihm. Es gibt von ihm (und mir) kein Foto, wo wir lächeln. Entweder ganz oder gar nicht.

Wir haben die gleichen Gesichtszüge, sind aus einem Holz geschnitzt.
Wir waren es.

Bleiben Sie zuhause!

Nein, das habe ich definitiv nicht gemacht. Ich war, wie alle meine Berufskolleg*innen in der stationären Pflege, fleissig am Arbeiten. Hab mich zurückgezogen. Vor allem aus meinem Freundeskreis und meiner Familie. Dass ich das getan habe, war nur richtig.
Im Nachhinein, bzw. jetzt gerade, ist es ein Fehler. Ich bin keine Einsiedlerin. Ich kann zwar super gut mit mir alleine sein, besonders wenn ich draussen in der Natur bin, aber ich brauche menschlichen Kontakt.

Ich vermisse meine Familie sehr. Ich vermisse meinen Vater. Meine Stiefmutter. Wenn ich das so sagen darf: Ich leide wie ein Hund.
Ich bin einfach nicht dafür gemacht, nur für mich selber zu sein.
Das merke ich jetzt.

Mein Vater ist schwerkrank. Wie lange er lebt, weiss ich nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass sein Leben wohl nicht mehr lange dauert. Er ist schwerst beeinträchtigt. Er kann sich nicht mehr alleine bewegen, nur noch schwer sprechen, ist auf Hilfe angewiesen. Meine Stiefmutter pflegt ihn zuhause. Sie macht das alles hochprofessionell. Ich bewundere sie für ihre Ruhe und ihre Bedachtheit. Sie ist sein Fels und für mich die Mutter, die ich als Kind nicht hatte.

Ich habe mich abgegrenzt von ihnen, aber nicht, weil ich sie nicht mehr sehen wollte. Unser gemeinsamer, unausgesprochener, Grundsatz war, dass sie nicht meinetwegen plötzlich in ihrer Freiheit eingeschränkt sein sollten. Ich hatte Angst, weil ich sehr viel mehr (berufliche) soziale Kontakte habe als sie und sie nicht anstecken bzw. riskieren wollte, dass sie in Quarantäne gehen sollten.

Nun sah ich heute, nach vielen Wochen, endlich wieder meinen Vater. Ich trug eine Maske und ich weiss nicht mal, ob er mich erkannt hat. Doch fielen mir Steine vom Herzen. Ich erkannte, wie sehr es mir geschadet hat, sie nicht mehr zu sehen. Sie nicht mehr zu berühren. Zu umarmen.

Es geht ihm nicht wirklich gut. Er kann fast nicht mehr sprechen, schläft viel, hat Mühe mit Essen, verschluckt sich leicht. Ich muss ihn loslassen. Mein Herz tut sehr weh. Aber ich bemerke auch seine Ruhe. Seine Gelassenheit, nach so vielen Monaten des Leidens.

Ich bin meinem Vater so dankbar. Mütter nähren einen, aber Väter verleihen einem Kind Flügel. Mein Vater hat das von Anfang an getan. Er hat mich, trotz meiner früh erworbenen Gehbehinderung ermutigt und gedrängt, wieder laufen zu lernen. 2018 ging es ihm sehr schlecht. Er erzählte mir, dass er mit Anfang 40, also in meinem Alter, nie gedacht hätte, dass er mit 70 so schlecht zwäg sei. Er meinte damals zu mir, wenn er das gewusst hätte, hätte er noch sehr viel mehr seine Träume verwirklicht. Er hätte all das getan, was er sich nie gewagt hätte.

Das machte mich nachdenklich. Ich überlegte mir, welche unausgesprochenen Träume ich hegte. Damals wurde mir klar, dass ich Jagen lernen will. Ich weiss bis heute nicht, woher dieser Wunsch kam. Aber er war mit einem Mal so klar, so unausweichlich da, dass ich ihn leben wollte und musste. Ich meldete mich kurz darauf für die Jagdausbildung an und fing an zu lernen.

Die Jagd hat mein komplettes Leben verändert. Ich bin heute ein anderer Mensch. Gelassener. Lebensfroher. Ehrfürchtig gegenüber der Natur, ihren Schätzen, ihren Regeln. Ich habe eine komplett andere Welt kennen und schätzen gelernt. Ich bin, trotz Corona und all dem Scheiss, der um mich herum abgeht, glücklicher als je zuvor. Ich laufe mit Ausdauer steile Hügel hoch, was ich mir vor 30 Jahren nie hätte vorstellen können. Damals drohte mir der Rollstuhl.

Ich bin traurig, weil ich all dieses Glück, diese neue Chance im Leben, gerne mit meinem Vater teilen würde. Ich wünsche mir manchmal jene Sonntage im Wald zurück. Die Familienspaziergänge. Wie wir gemeinsam durch den Wald liefen, uns über Bäume und Vögel wunderten, uns wünschten, dass wir junge Füchse sehen würden.

Wir sahen uns heute. Mein Vater war sehr müde. Sein Zimmer ist voller Bilder von Füchsen. Ich erzählte ihm, dass ich morgen in den Wald gehen will. Er lächelte mich an. Seine Augen strahlten. In Gedanken ist er mit dabei, ganz gleich, wo er dann sein wird.

Ich bin dein Spiegel

Nein, du bist kein Kind. Du bist ein erwachsener Mensch.
Du sagst es nicht, aber es verletzt dich, wenn man dich, auch ungewollt, übergeht.
Es trifft dich, den ehemals gesunden Menschen, ins Herz.
Manchmal überflutet es dich und du weinst.

Deine Dämme brechen und es ist schwierig zu ertragen, dich so traurig zu sehen.
Dabei bist du sehr wach und aufmerksam.
Dir entgeht nur wenig, auch wenn du es dir nicht anmerken lässt.

Dein Körper mag alt geworden sein, doch in dir lebt (noch immer!) eine alterslose Seele.
Du bist neugierig und trotz deines Alters erkenne ich nun mehr denn je den jungen Mann in dir.
Du bist sensibel und möchtest nur das Beste für jene, die du liebst und die zu dir halten.
Das ist dir das Allerwichtigste. Nur niemandem zur Last fallen.
Ja, es ist hart für mich, dich so zu sehen.

Dein Älterwerden ist eine Sache, deine Verletzlichkeit zu akzeptieren eine andere.
Du bist stark, stärker, als du es selbst von dir erwarten würdest. Du hast so viel erlebt und überlebt und lebst noch immer. Dein Körper mag gebrechlich sein, dein Herz ist es nicht.