25 Jahre.

Heute vor 25 Jahren starb mein Opi Walter. Er wurde 72 Jahre alt.
Opi war im Herbst 1996 Leberkrebs diagnostiziert worden. Er wusste, welches Ende ihn erwarten würde und entschied sich, zuhause zu sterben. Meine Omi hat ihn bis zu seinem Tod begleitet, ebenso eine Pflegende.

Omi berichtete, wie zerbrechlich Opi am Ende seines Lebens geworden war. Sie hielt seine Hand, als er am Morgen des 7. Januar 1997 um Punkt acht Uhr seinen letzten Atemzug tat. Omi war auch über 10 Jahre später an der Seite meiner Mutter, ihrer Tochter, als sie starb und hat auch damals ihre Hand gehalten.

Die Nachricht von Opis Tod erreichte mich am Arbeitsplatz. Ich arbeitete seit einigen Monaten in einem Ladengeschäft und war mehr oder weniger glücklich dabei. Meine Mutter hatte meine Chefin angerufen, die mich dann ins Büro zitierte. Meine Mutter weinte am Telefon und sagte, Opi wäre tot. Ich weinte kurz, ging dann wieder zur Arbeit.

Ich spürte damals, dass ich offenbar innerlich trauere. Ich muss weiter arbeiten können, in meinem gewohnten Umfeld funktionieren. Ich brauche keinen totalen Rückzug von allem.

Eine Woche später war Opis Beerdigung. Es war sehr kalt. In meiner Erinnerung liegt Schnee. Omi war sehr stark und tröstete uns alle. Meine Schwester und ich weinten.

Beim Trauermahl im Café Huber, wo Omis Geschwister, Mami, Opis Freunde aus der Aktivdienstzeit dabei waren, erzählten alle Erlebnisse mit Opi. Es schien mir, als würde er für einen Moment nochmals zwischen uns sitzen, ein dünner zierlicher Mann, mit stahlblauen Augen, die Zigarette zwischen den Fingern.

Erst nach seinem Tod, als ich mit Omi das Haus aufräumte, Fotos und Zeitungsberichte fand, lernte ich meinen Opi ganz anders kennen.

Er war sehr intelligent, an Politik, Physik und Chemie interessiert, gleichzeitig ein begabter Musiker, Jazz- und Swingliebhaber. Er interessierte sich für Geschichte, das Toggenburg und hatte den Zweiten Weltkrieg als Militärmusiker am eigenen Leib erlebt.

Er war das zweite Kind von Anna und Henri Mettler. Seine ältere Schwester Nelly war einige Jahre vor seinem Tod als Kleinkind verstorben. Henri war Veteran des Ersten Weltkriegs und wie er Fabrikarbeiter im Toggenburg.

Opi war während meiner Kindheit und Jugend mein freundlicher Begleiter. Er motivierte mich zu lernen, an mich zu glauben und das zu tun, was ich mir erträume.

Sein langsames Sterben war eine sehr traurige und zugleich schöne Erfahrung. Ich lernte von ihm, wie es ist, anderen zu vergeben und offen zu sein für den Übergang in den Tod. Opi war ein sehr besonderer Mensch und er fehlt mir, auch 25 Jahre später noch immer. Ich denke gerne an ihn zurück. Ich bin dankbar, dass ich seine Enkelin bin.

Warum Trauern kein „Quatsch“ ist.

Vor einem Jahr starb der erste Mensch an Corona in der Schweiz. Seither ist viel passiert. Über 9300 Menschen sind bis heute (5.3.2021) verstorben.

Der Tonfall in diesem Land hat sich verändert. Da sind die einen, die finden „Hey, die waren alt und eh am Ende des Lebens. Ist halt so.“ Und dann sind die da die anderen, die irgendwie das Leben wichtig finden, egal wie alt jemand ist. Ich zähle mich zu den letzteren. Ich bin der Meinung, dass ein Mensch auch hochbetagt oder erkrankt ein Recht auf Leben hat.

Das klingt jetzt vielleicht heftig. Aber es drückt das aus, was mir seit Monaten durch den Kopf geht: Ich bin genauso Corona-müde wie ihr anderen alle auch. Aber für mich ist es nicht einfach damit getan, alte und kranke Menschen weg zu sperren oder zu denken, die Impfung tut dann irgendwann schon den Rest. Ich weigere mich, anderen Menschen ihr Recht aufs Leben abzusprechen, nur weil ich mich in meinen Shopping-Lüsten eingeschränkt sehe. Oder ganz allgemein, sich einen Dreck um all jene zu foutieren, denen es aufgrund der Pandemie verschissen geht und ihnen die finanzielle Hilfe zu verweigern. Das überlasse ich sehr gerne gewissen PolitikerInnen in Bern. Denn offenbar ist Empathie in diesem Business nur hinderlich.

Ich blicke mit den Augen der Trauernden auf Corona. Mein Vater ist nicht an Covid19 gestorben. Aber traurig war dieses Jahr allemal. An seiner Beerdigung durften zwar bis 50 Menschen teilnehmen, aber das gemeinsame Trauern konnten wir nicht leben. Es gab kein Fest, kein sich fröhliches, gemeinsames Erinnern an ihn. Keine Umarmungen. Kein Streicheln. Vielleicht kann man einfach nicht auf Distanz zusammen trauern.

Ich schätze mich glücklich, denn wenn ich mir vorstelle, wie schrecklich es im Frühjahr 2020 gewesen sein muss, seinen liebsten Menschen zu beerdigen, wird mir übel. Das Loslassen, das Trauern, ist so wichtig. Vielen wurde es verwehrt. Dabei ist der Abschied nötig, um sein eigenes Leben gesund weiter zu leben.

Heute mittag läuteten die Glocken. Ich hielt inne und dachte an all die Menschen, die in diesem Jahr ihr Leben verloren haben, obwohl sie noch Wünsche und Träume und Liebe für die Zukunft in sich hatten. Ich dachte an jene Menschen, die von ihren Verstorbenen nicht angemessen Abschied nehmen konnten, an die Tränen, die geflossen sind oder eben vielleicht nicht. Ich dachte an jene Angehörigen, die ihren Sterbenden gar nicht mehr oder auf der Intensivstation besuchen konnten und schlimme Bilder in sich tragen. Ich dachte auch an meinen Vater, an dieses vermaledeite, verlorene Jahr.

Dann öffne ich Twitter und lese, wie sich Menschen über diese 10 Minuten Trauer lustig machen und sie als Quatsch bezeichnen. Ich bemerke, wie ich nicht mal mehr wütend werde, sondern den Kopf schüttle, über soviel Herzlosigkeit und emotionale Kaltschnäuzigkeit. Doch dann denke ich an all jene, die mit anderen trauern, die fähig sind, Mitgefühl zu zeigen. Diese Kraft rührt mich. Dieser Trost, der zwar nicht im RL gelebt werden kann, sondern in Worten ausgedrückt wird, ist wunderschön und lässt mich hoffen.

Vergangenheit und Zukunft

Was sind fast anderthalb Jahre, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat?
Ich lebe in Erinnerungen, wenn ich in den Garten trete. Wenn ich Beete aushebe und auf Überreste von Villiger-Kiel-Mundstücken stosse, die einst mein Urgrossvater geraucht hat. Dann sehe ich sie vor mir, wie sie hier lebten, glücklich und traurig waren. Gerade im Sommer, wenn alles so nach Erde und Leben riecht, dann erinnere ich mich gut an ihr Dasein.

Omi begleitet mich noch immer in meinem Alltag.
Der Garten macht mich glücklich. Hier bin ich Omi am nächsten. Hier kann ich mich entspannen und Kraft tanken.

Vorletzte Woche durfte ich in Rüsselsheim bei Frankfurt aus unserem Buch „Demenz für Anfänger“ lesen. Ich berichtete über unsere Erfahrungen, unsere Highlights und unsere Tiefschläge. Ich lernte neue Menschen kennen, die ich ohne das Buch, ohne den Blog, ohne Omi, nie kennengelernt hätte. Dafür bin ich dankbar.

Die Demenz lässt mich nicht los. Es scheint, als wäre sie für mich eine weitere, sichere Begleiterin in der Zukunft. Ich bin ihr nicht feindlich gestimmt. Verletzen tut mich ihr Dasein trotzdem. Sie macht mir dort Angst, wo sie meine Angehörigen einlullt. Niemand will vergessen werden. Vergessen ist trotz allem schmerzhaft. Vergessen macht Angst, denn es raubt einem die Vergangenheit und die Zukunft. Vergessen ist grausam. Es holt die tiefsten Ängste aus einem hervor und konfrontiert unbarmherzig. Vergessen ist eine Chance, die letzten unbezwungenen Hügel des Lebens zu besteigen.

Ich würde gerne mehr schreiben, über all das, was mich bewegt. Im Moment schaffe und will ich das nicht.

Was fehlt.

Mein Bruder Sven ist jetzt über 38 Jahre tot.
Er fehlt noch immer, obwohl er doch nur drei Tage gelebt hat.

1979 gab es wenig Unterstützung in der Schweiz für Eltern, die ein neugeborenes Kind verloren.
Ich spreche hier notabene nicht von finanzieller Hilfe, sondern von gesundem Menschenverstand.
Meine Eltern wurden im Spital Frauenfeld nach dem plötzlichen Kindstod meines Bruders Sven weder psychologisch noch sonst wie unterstützt. Der „professionelle“ Umgang mit meinen geschockten Eltern trug dazu bei, dass sie umso mehr traumatisiert wurden. Dieses Verhalten jener Ärzte ist auch heute noch absolut stossend.

Mein Vater erzählte mir Jahre später, dass er nie wegen Svens Obduktion gefragt worden war. Umso schrecklicher war für ihn, als er unerwartet meinen Bruder mit zerschnittenem Körper im Sarg sah. Meine Mutter konfrontierte man nach dem Tod meines Bruders mit Schuldzuweisungen, weil sie Raucherin gewesen war.

Im Nachlass meiner Mutter fand ich „Trauerkarten“, deren Inhalte zum Tode meines Bruders einfach nur fragwürdig waren. Ich frage mich ernsthaft, wie Menschen einander solche Dinge nach dem Tod eines neugeborenen Kindes schreiben können.

Heute sprechen wir sehr offen über Sternenkinder und stille Geburten.
Mein Bruder fiel in keine dieser Kategorien.

Braucht es wirklich solche Schubladen, wenn ein Mensch stirbt, um in Würde um dessen Tod trauern zu können?

Nicht mein Sohn

Jedes Jahr holen mich die Gedanken und Erinnerungen an meinen kleinen Bruder Sven von neuem ein. Manchmal ging es mir wirklich schlecht damit. Ich bin von einer tiefen Trauer überflutet und weiss doch ganz genau, dass es nicht meine Trauer sein kann. Als er geboren wurde und drei Tage später starb, war ich gerade mal zwei Jahre alt. Trotzdem kann ich mich an viele Dinge erinnern.

Meine Mutter war so glücklich. Ich erinnere mich voller Zärtlichkeit an den Moment, als ich meinen Kopf an ihren Bauch halten durfte. Sie trug eine geblümte Hippie-Bluse. Ihr Haar war kinnlang geschnitten. Ihre Hände waren weich und sie streichelte meinen Kopf. Auf dem Tisch vor uns standen grüne Gläser.

Dann erinnere ich mich, dass plötzlich, mitten in der Nacht, mein Vater verschwand und meine Omi in unserer Wohnung auftauchte. Sie weinte. Ich erinnere mich an verzweifelte Umarmungen und viele Tränen. Weitere Tage später ist meine Mutter wieder da. Sie kommt alleine, ihr Bauch ist leer und mein Bruder verschwunden. Sie weint. Ich finde sie auf dem Klo, wohin sie sich zurückgezogen hat, um hemmungslos zu weinen. Die Kacheln sind dunkelgrün.

Immer wieder weint sie. Einmal bemerke ich, wie ihr beim Abwaschen ein Glas zerbricht. Sie schneidet sich. Das Wasser färbt sich rot.

Ich wollte nie Kinder. Heute weiss ich wohl, warum das so ist. Für mich bedeutet in meiner Erinnerung Schwangerschaft nicht etwa Glückseligkeit, sondern letztendlich nur Verderben und Tod. Meine Mutter leiden zu sehen, hat mich geprägt. Ich mag nicht leiden. Meine Angst, ein Kind zu verlieren und daran zugrunde zu gehen, war und ist gross. Ich mag mich selber nicht verlieren.

Heute weine ich nicht um meine Mutter und meinen Bruder. Ich mag nicht mehr trauern um ein Kind, das nie meines war. Ich bin betroffen, wie dieser Teil meiner Kindheit verlief. Ich frage mich heute, wie ich all das überlebt habe. Antworten gibt es viele.

Vom Sterben auf eigene Kosten

Gibt es ein Recht auf den selbstbestimmten Tod?

Ich war schon als Kind irritiert von dem Gedanken, dass sich jemand einfach umbringt. Eine Schulfreundin von mir fand ihren Vater tot vor. Ich empfand dies als furchtbar gemein.

Jahre später brachte sich mein Kindergartenschatz um. Er wurde von einem Zug überrollt. Ich habe es nie verstanden. Es war für mich ganz und gar undenkbar, dass er, ausgerechnet er, sich so tötet.

Bis dahin empfand ich Suizid einfach als eigene Entscheidung. Niemand oder nur wenige waren in meinen Augen davon betroffen. Ich machte mir wenig Gedanken darüber.

In der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember 2006 wurde ich Zeugin eines Suizids. Während ich an der Seite meines damaligen Freundes und seiner Tochter über den Seedamm fuhr, stürzte sich vor meinen Augen ein Unbekannter von der Brücke in den See.

Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühlte. Ich wurde ganz kalt. Mir war klar, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Wir riefen die Polizei an. Ich musste den Mann beschreiben und später nochmals an die Stelle gehen, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte.

Sie suchten mit Booten nach ihm. Das Licht der Lampen liess Fische springen. Es war ein ganz seltsames Schauspiel in jener kalten Nacht. Die Fische sprangen munter herum, während irgendwo der Leichnam eines Mannes im Wasser trieb. Der Wind peitschte mir ins Gesicht. Den Rest der Nacht konnte ich nicht mehr schlafen. Auch später konnte ich nur noch mit Mühe in jenen Teil des Zürichsees springen. Der Gedanke an die Leiche, die nirgends mehr auftauchte, liess mich nicht los.

Es machte mich wütend, dass ich, ausgerechnet ich, Zeugin wurde. Ich wollte das nicht. Es hat mich nicht traumatisiert, denn ich musste seinen Körper ja nicht aus dem Wasser ziehen und anschauen. Dennoch fand ich es ungerecht.

Als meine Mutter fast ein Jahr später starb, war ich dankbar, dass sie keine Hilfe zum Sterben beanspruchte. Der Gedanke, dass meine Mutter mithilfe eines Medis in einem Auto auf einem verlassenen Parkplatz hätte sterben wollen, wäre unerträglich gewesen. Ich war dankbar für die Art und Weise wie sie starb.

Der Tod eines guten Freundes berührte mich. Er hatte sich ebenfalls umgebracht. Ich blieb mit lauter Fragen zurück. Ich versuche zu verdrängen, dass er nicht mehr da ist, denn sonst würde es mich verrückt machen. Ich versuche an die schönen Zeiten zu denken und wie sehr ich sein Lachen und seine lieben Augen gemocht habe.

Zum Thema Sterbehilfe stehe ich nach wie vor offen. Ich finde, es ist eine Entscheidung, die jeder selber trifft und treffen muss. Dennoch wünsche ich mir Bedingungen für Menschen, seien es schmerzlindernde Medikamente am Ende eines Lebens, eine gute Betreuung im Alter und Unterstützung im Umfeld. All dies kann man nicht gesetzlich regeln. Es liegt uns allen, dass wir mit offenen Augen und Herzen durchs Leben gehen.