Wie weiter, Paula?

Nach einer wirklich heftigen Woche habe ich es heute nachmittag endlich geschafft, zu ihr zu gehen. Ihre Pflegenden informierten mich sehr lieb, wie es ihr geht. Paula hat ihr Schambein gebrochen und kann nicht mehr laufen. Aber sie kann sich zumindest hinsetzen und essen. Sie klopft noch immer ihre träfen Sprüche.

Als ich dieses Mal bei ihr war, war ich nicht geschockt. Sie ist blass geworden und sah sehr zerbrechlich aus. Sie redete mit uns, während sie in ihrem Bett lag, sah mich aber nicht an.
Sie trug auch ihre Brille nicht, was dazu beigetragen haben dürfte, dass sie alles sehr verschwommen erblickte.

Sie wirkte zufrieden und entspannt. Paula sprach sehr viel, das meiste verstand ich nicht.
Doch als Sascha nach draussen ging, um zu rauchen, redeten wir über die Arbeit.
Ich erzählte ihr, wie streng ich es habe. Sie meinte, dass das Leben erst mühsam und furchtbar langweilig wird, wenn man nichts mehr zu tun habe. So wie sie. Sie sei bereit.

Ich schluckte. Aber ich weinte nicht. Ich spürte es auch. Meine Paula ist tatsächlich bereit für alle Abenteuer und alles, was noch kommt. Ihre Gelassenheit, ihre freudige Zuversicht macht mich glücklich.

Als ich sie fragte, was mit ihrem Haus geschehen sollte, meinte sie, sie müsse es wohl verkaufen. Ich sagte, zum ersten Mal, ich würde es gerne kaufen, weil ich es liebe. Sie strahlte und meinte, es wäre schön, wenn ich da mal wohnen würde. Aber ich müsste es mir genau überlegen. Sie drückte meine Hand.

Nach einer dreiviertel Stunde gingen wir. Sie lag noch immer in ihrem Bett und strahlte uns an. Ich umarmte sie und streichelte ihr uraltes, wunderschönes Gesicht.

Schlechtes Gewissen meets Zora die Schreckliche

Heute vormittag stieg mein Handy aus.
Nichts schlimmes, mag man denken. Doch ich war danach geschockt.

Als das Ding wieder funktioniert, staune ich nicht schlecht.
Ich habe eine Sprachnachricht des Pflegeheims von Paula drauf.
Mir zittern die Knie, als ich sie abhöre.

Eine sehr nette Stimme informiert mich, dass Paula heute nacht aus dem Bett gefallen ist und sich verletzt hat. Mit Verdacht auf eine Bruchverletzung wurde sie ins Spital eingeliefert.

Mir laufen die Tränen aus den Augen.
Mit einem Mal fühle ich mich zurück versetzt in die Zeit vor sechs Jahren,
als man mich darüber informierte, dass meine Mutter todkrank im Spital liegt.

Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Stehe unter Schock.
Will alles hinwerfen, zu ihr fahren.
Dann wird mir klar, dass das jetzt nichts bringt.
Ich rufe im Heim an und die Pflegende erzählt mir, was passiert ist.
Ich danke ihr für alles.

Ich arbeite weiter, weil es heute viel zu tun gibt.
Als ich Feierabend mache, fahre ich nach Hause. Ich halte auf der geraden Strecke an und atme durch. Wieder weine ich.
Ich denke nach.

Ich bin erleichtert, dass dieser Unfall nicht in Paulas Haus passiert ist, wo sie stundenlang liegen geblieben wäre. Mein allergrösster Alptraum seit Jahren ist wahr geworden, aber er hat seine Schrecklichkeit verloren. Paula ist in guten Händen.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich seit einem Monat nicht bei ihr war, weil ich immer gearbeitet habe oder ihr Haus aufgeräumt habe. Ich fühle mich schrecklich.

Als ich am Abend wieder anrufe, ist Paula bereits wieder im Heim. Ich hoffe so sehr, dass sie da bleiben kann. Bis zum Ende ihres Lebens. Die nächsten drei Wochen werden schwierig. Sie ist schwer pflegebedürftig. Das wird meiner Paula nicht passen.

Seltsamer August. Teil 1

Der August ist ein seltsamer Monat. Als Kind mochte ich ihn ungemein, denn schliesslich fand ich den ersten August und den Schulanfang toll.

Seit sechs Jahren nehme ich den August anders war. Er hat von seinem kindlichen Glanz eingebüsst.
Sechs Jahre ist es inzwischen her, dass ich erfuhr, dass meine Mutter todkrank war und nicht mehr lange zu leben hatte. Ich war gerade 30 geworden und hatte keinen Plan, was nun werden würde.

Paula rief mich im Geschäft an. Das war das erste und einzige Mal. Sie sagte nur:
„Deine Mutter ist im Spital. Es geht ihr gar nicht gut.“
Also fuhr ich nach der Arbeit vorbei.
Ich war auf vieles vorbereitet, aber nicht auf das, was mich in ihrem Krankenzimmer erwartete.
In ihrem Bett lag nämlich ein total abgemagertes, senfgelb gefärbtes Etwas. Meine Mutter. Sterbend.

Ich war so geschockt, dass ich nichts sagen konnte. Ich ging wieder aus dem Zimmer, allerdings mit dem Gefühl, jetzt sofort und ohne jemals wieder aufhören zu können mich zu erbrechen. Die Pflegende reagierte mitleidig.
„Sie haben sie wohl schon länger nicht mehr gesehen?“

Nein. Das hatte ich nicht. Mir war jetzt nämlich auch klar, was da seit einigen Monaten zwischen mir und meiner Mutter gelaufen war. Natürlich wollte ich sie immer wieder besuchen, doch sie fand immer einen Grund, warum es genau jetzt nicht gehen würde. Mal hatte sie Besuch, mal wollte sie wen besuchen, mal war sie auf Jobsuche.

Sie wollte nicht, dass ich sie so sehe.
Ich weiss bis heute nicht, was sie sich dabei gedacht hat.
Hat sie wirklich gehofft, dass sie irgendwann tot in ihrer Wohnung herumliegen würde?

Ich wusste natürlich, dass sie einen Ikterus hatte. Ich wusste, was es bedeutete. Aber ich verstand es nicht. Es war, als wäre alles, was ich in meiner Ausbildung gelernt hatte, einfach weg. Die Ausbildung, die kam mir in dem Moment, als ich meine Mutter sah, in den Sinn.

Während jener Zeit, einige Jahre zuvor, schwor ich mir nämlich, meine Mutter niemals zu pflegen. Der blosse Gedanke daran erschütterte mich. Die Erinnerungen an meine Kindheit waren zu heftig.
Jemanden in den Tod begleiten, bedeutete Stärke und Liebe. All das traute ich mir nicht zu.

Bis zu jenem Moment, als ich sie da liegen sah. Da wusste ich es.
Ich konnte nicht weg.
Ich konnte meine Mutter nicht im Stich lassen.
Also blieb ich.

melancholischer august

der tod gehört zum leben.
das sagt man so gemeinhin.
ich akzeptiere den tod, weil er das leben erst recht lebenswert macht.

als ich noch ein kind war, schien mir die welt nicht immer gewogen.
ich hatte oft angst.
ich hatte angst, meine mutter würde sterben. ich fürchtete oma und opa würde was schlimmes passieren. ich sorgte mich um meine kleine schwester.

dann wird man älter und man verliert seine lieben wirklich.
ich frage mich oft, ob es einfacher gewesen wäre, wenn ich meine mutter später verloren hätte.
würde sie mich bei der pflege von paula unterstützt haben?

ich vermisse meine mutter unsäglich bei gesprächen über männer.
wie oft rief sie mich an und erzählte mir von ihren sorgen und problemen mit den männern, die sie liebte. sie führte buch über sie. über jeden.

als ich ihre wohnung räumen musste, fand ich ihre notizen. ich brachte sie ihr, doch sie wollte sie nicht. sie meinte nur, ich soll ihre sachen nicht wegschmeissen. das habe ich auch nicht getan.
ihre notizbücher halte ich in ehren, auch wenn ich nicht jeden ihrer gedanken nachvollziehen kann.

wenn ich ihre schrift sehe und am papier rieche, kommt sie ein wenig zurück.
ich vermisse sie furchtbar.
gerade jetzt im august.
ich würde so furchtbar gerne mit ihr ein panache trinken gehen.
pommes essen.
ingrid bergman sehen.
mit ihr über männer sprechen.
über die liebe.
über mein leben.

stattdessen pflanze ich blumen auf ihr grab.