Herbstferiengefühl

Die Sonne scheint warm, obwohl es schon überall schattig ist. Ich fahre zu Paula. Sie sitzt vor dem Fernseher im Gemeinschaftsraum und döst zu Schawinski. Ich setze mich neben sie. Sie lächelt mich an.
„Schön, dass du da bist.“
Sie weiss nicht, wer ich bin. Ich streichle ihre Hand. Wir küssen uns nicht. Keine Umarmung.

Wir reden ein wenig. Ich frage. Sie antwortet. Aber nicht mit den Antworten auf meine Fragen. Sie redet. Singsang. Ersetzt Worte, die ihr nicht mehr einfallen durch „Dings“. Dings ist ein gutes Wort. Man kann nichts Falsches reininterpretieren. Wir singen gemeinsam. Sie fängt mit „Alli mini Entli“ an, ich mache weiter mit „Döt obe uf em Bergli“. Wir lachen.

Sie nennt mich Ursula. Das ist meine Mutter. Sie stellt mich auch den Pflegenden als ihre Tochter vor. Ich lächle dazu. Ich selber scheine verschwunden. Keiner fragt, wer ich wirklich bin. Alle sind sich gewöhnt, dass sie die betreuten Menschen ständig an irgendwen erinnern.

Paula erzählt mir schliesslich eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Sie wuchs neben einem Kapuzinerkloster auf. Die Mönche dort haben damals den Armen Essen gegeben. Für Omi war es gestern. Sie erzählt mir die Geschichte so, als wäre ich dabei gewesen. Dann verstehe ich. Ich erinnere sie an Hadj, meine tote Grosstante. Ich lächle wieder.

Dann gehe ich wieder. Ich muss Mamis Grab neu bepflanzen. Es ist Herbst und die Sommerblumen sind verblüht. Früher, also vor sieben Jahren, haben das Omi und ich gemeinsam getan. Wir fuhren gemeinsam in die Landi, haben uns beraten und gemeinsam gepflanzt. Omi stand meistens daneben und lobte meinen grünen Daumen. Sie sagte, Mami wäre bestimmt ganz stolz auf mich.

Ich bepflanze das Grab. Omi steht nicht neben mir. Ich aber denke nur: irgendwann werde ich ihr Grab bepflanzen. Aber meines wird wohl niemand mehr pflegen.

Wie weiter, Paula?

Nach einer wirklich heftigen Woche habe ich es heute nachmittag endlich geschafft, zu ihr zu gehen. Ihre Pflegenden informierten mich sehr lieb, wie es ihr geht. Paula hat ihr Schambein gebrochen und kann nicht mehr laufen. Aber sie kann sich zumindest hinsetzen und essen. Sie klopft noch immer ihre träfen Sprüche.

Als ich dieses Mal bei ihr war, war ich nicht geschockt. Sie ist blass geworden und sah sehr zerbrechlich aus. Sie redete mit uns, während sie in ihrem Bett lag, sah mich aber nicht an.
Sie trug auch ihre Brille nicht, was dazu beigetragen haben dürfte, dass sie alles sehr verschwommen erblickte.

Sie wirkte zufrieden und entspannt. Paula sprach sehr viel, das meiste verstand ich nicht.
Doch als Sascha nach draussen ging, um zu rauchen, redeten wir über die Arbeit.
Ich erzählte ihr, wie streng ich es habe. Sie meinte, dass das Leben erst mühsam und furchtbar langweilig wird, wenn man nichts mehr zu tun habe. So wie sie. Sie sei bereit.

Ich schluckte. Aber ich weinte nicht. Ich spürte es auch. Meine Paula ist tatsächlich bereit für alle Abenteuer und alles, was noch kommt. Ihre Gelassenheit, ihre freudige Zuversicht macht mich glücklich.

Als ich sie fragte, was mit ihrem Haus geschehen sollte, meinte sie, sie müsse es wohl verkaufen. Ich sagte, zum ersten Mal, ich würde es gerne kaufen, weil ich es liebe. Sie strahlte und meinte, es wäre schön, wenn ich da mal wohnen würde. Aber ich müsste es mir genau überlegen. Sie drückte meine Hand.

Nach einer dreiviertel Stunde gingen wir. Sie lag noch immer in ihrem Bett und strahlte uns an. Ich umarmte sie und streichelte ihr uraltes, wunderschönes Gesicht.