Mein Rückblick auf das Jahr 2021

Die letzten zwölf Monate in meinem Leben waren geprägt von der Trauer um meinen Vater und dem Lernen von neuen Dingen. Nachdem im November 2020 mein Vater verstarb, hatte ich mit der Verarbeitung dieses Verlusts hart zu kämpfen. Doch mit jedem Monat wurde es leichter. Es gab sehr viele Momente, wo ich an ihn gedacht habe und aus denen ich Kraft schöpfen konnte.

Im Januar startete ich mit dem letzten Teil meiner Jagdausbildung im Kanton St. Gallen. Über drei Monate lang besuchte ich jeden Montagabend – Corona geschuldet im online Unterricht – die theoretische Ausbildung. Die Auseinandersetzung mit den Gesetzen der Natur tröstete mich, gab mir Kraft. Im Frühling verbrachte ich viel Zeit im Wald, erkundete Pflanzen, bestimmte Blumen. Und als ich schliesslich im Juni an die Prüfung ging, spürte ich meinen Vater noch einmal sehr nahe. Ich bestand die Prüfung ohne Probleme. Das machte mich sehr glücklich.

Im Frühjahr begann ich mit meiner Fortbildung an der Berner Fachhochschule. Bis Juli besuchte ich die Module online – irgendwie fand ein Teil dieses Jahres vor dem Bildschirm statt – ab August dann in Bern selber. Als ich dann meine MitstudentInnen im real life kennenlernte, war das eine richtig schöne Sache. Berner und Bernerinnen sind einfach tolle, liebe Menschen! Dass ich in Bern alte Freundinnen und Freunde traf, tat mir sehr gut.

Literarisch wurden dieses Jahr zwei Texte von mir veröffentlicht. Der erste im Kulturblatt „Obacht“ des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Ich durfte über die Jagd und meine Liebe zum Wald schreiben.

Im Sommer 2021 erschien schliesslich das Buch „Bleib doch – komm wieder“ im Saatgut Verlag. Das Buch handelt vom Aufbrechen und Ankommen, vom Bleiben und Weiterziehen. Mein Textbeitrag handelt vom legendären „tapferen Thurgauer Meitli“, einem Mädchen, das in den Wirren des Schwabenkriegs schreckliche Dinge erlebt und überlebt.

Ich las in diesem Jahr zwar viele Bücher, allerdings nur wenige Romane. Ich befasste mich mit positiver Psychologie, Führungsthemen und Resilienz, schrieb weiterhin tapfer Tagebuch und gestaltete mein Bulletjournal. Etwas machte mich sehr glücklich: Ich fand in einer Kiste Omis handgeschriebene Rezepte, die ich verloren glaubte. Ich bin so auf ihr legendäres Gulasch-Rezept gestossen.

Ich fing wieder an mit Langlaufen und überhaupt liebe ich frühmorgendliche Spaziergänge und Wanderungen. Je früher desto besser. Hügel und Berge ziehen mich an.

Ich erhielt von der Frau meines Vaters viele Erinnerungsstücke an meinen Papi, unter anderem seinen legendären Humpen, der nie brechen durfte, seine Waffenlauf-Uhren und seine Sport-Collagen-Hefte aus den 60ern. In diesen Momenten ist er mir sehr nahe. Wir sind uns ähnlich, beide offenbar visuell geprägt, In diesem Jahr arbeitete ich an vielen Collagen, schrieb dafür weniger in meinen Blogs als in früheren Jahren.

Die gemeinsamen Essen mit der Frau meines Vaters machten mich glücklich. Ich verspüre ein tiefes Gefühl von Familie, von Zugehörigsein, gerade in Zeiten von Corona.

Für 2022 hege ich viele Wünsche: ab April werde ich mich an der Berner Fachhochschule weiterbilden. Ich möchte die Falkner-Ausbildung besuchen. Im Frühling 2022 wird das Dach unseres Hauses gedeckt.

Was von 2021 bleibt, sind viele Er-Innerungen, Trauer, ein Gefühl der Dankbarkeit und der Lebensfreude, Neugier und den Willen, die Natur zu erkunden. Meine Liebe gehört weiterhin den Geschöpfen des Waldes und den Vögeln. Darin bin und bleibe ich ganz die Tochter meines Vaters.

Opi Walter

Heute ist der 97. Geburtstag meines Opi Walter. Er ist der Sohn von Henri und Anna, der Stiefsohn von Rosa. Er lebte bis zum 7.Januar 1997 in diesem Haus, wo ich seit 2015 lebe.
Walter war das zweite Kind von Henri und Anna, seine ältere Schwester starb kurz vor seiner Geburt. Bei Walters Geburt war sein Vater Henri schon 35 Jahre alt. Heute finden wir das vielleicht genau das richtige Alter, um Vater zu werden. Aber 1924 bedeutete das, dass er einen alten Vater hatte.

Henri war 1914 bis 1918 im Militär. Seine Beziehung zu Anna ist in vielen Postkarten dokumentiert. Da ist von Armut und Hunger die Rede. Nach dem Krieg fröhnte Walter seiner Liebe zum Swing und Jazz. Er spielte in mehreren Formationen, trat an vielen Orten auf. Er war leidenschaftlicher Saxophonspieler.

Mein Opi lernte anfangs der 50er Jahre meine spätere Omi Paula kennen. Mit 27 Jahren wurde er Vater meiner Mutter Uschi. Er war ein leidenschaftlicher, junger Mann. Ein Künstler. Er war Musiker durch und durch.
Walter arbeitete in der Textilbranche. Glücklich wurde er wohl nicht damit. Ende der 70er wurde er arbeitslos, tingelte von Weberei zu Weberei. Am Ende seines Arbeitslebens arbeitete er bei Kägi.

Mein Opi war für mich als Kind ein grosses Geheimnis. Ich verstand nicht, was er für ein Mensch war. Ich trage ihn in meiner Erinnerung als ein vom Leben gebeugter Mensch, der sich oft im Keller des Hauses aufhielt. Der immer ein Glas Rosé in seiner Werkstatt stehen hatte.
Er lehrte mich vieles. Dass ich mich für Physik, Chemie und Geschichte interessieren soll, weil es wichtig ist. Er hatte nie einen Vorbehalt betreffend Bildung und Frauen. Ganz im Gegenteil. „Lerne!“, sagte er. Und: „Niemals vergessen“ und das im Bezug auf Hitler.

„Irgendwann laufen wir auf die Krinau hinauf und schauen uns den Sonnenaufgang an.“ Wir haben es nie getan. Aber manchmal verspüre ich die Lust, auf die Neu-Toggenburg zu steigen, frühmorgens, und mir den Sonnenaufgang anzuschauen.

Seine Beerdigung war sehr traurig. Ich weinte sehr, weil er mir so sehr fehlte. Meine Mutter, Omi, meine Schwester und ich standen an seinem Grab. Nur gerade 10 Jahre später würden Omi und ich an Mamis Grab stehen, nur wenige Meter von Omis Grab entfernt.

Vor 25 Jahren um diese Zeit lag mein Opi im Sterben. Er war seit Herbst 1996 an Leberkrebs erkrankt, bzw. diagnostiziert. Meine Omi erzählte mir, dass er genau gewusst hat, wie er sterben würde.
Er würde langsam innerlich ertrinken, sagte sie. Seine Pflegende hiess Schwester Paula, genau wie meine Omi.
Omi erzählte, dass sie sich am Ende ihres Lebens wieder geliebt hätten. Sie sagte: „Es war eine grosse Nähe zwischen uns.“

Nun sitze ich heute abend, an Opis 97. Geburtstag in der Stube, wo er gestorben ist. Und wo 1984 auch mein Urgrossvater verstarb. Alles sieht hier etwas anders aus als damals. Die klobigen Möbel sind fort. Wir fläzen uns auf den Möbeln aus den 70ern. Wir sitzen in einem Zimmer, das schon sehr alt ist und uns sehr viel erzählen könnte.

Heute abend erinnere ich mich an Walter, dessen junges Erwachsenenalter durch einen Krieg unterbrochen wurde, der mit 19 eingezogen wurde, unterernährt und krank.

Ich erinnere mich an einen Mann mit leuchtend blauen Augen, blondem Haar und dem Schalk im Gesicht. Einen Mann, der Spässe mochte und auch seine Enkelinnen liebte. Ich erinnere mich an einen mutigen Menschen, voller Liebe für seine Verwandten, seine Tochter.

Nicht jeder Todesfall sei eine Tragödie

Heute abend las ich ein Zitat einer Schweizer Politikerin. „Nicht jeder Todesfall ist eine Tragödie“. Ich fühlte mich von diesem Satz betroffen.

Es ist tatsächlich so, dass ich seit dem Tod meines Vater vor einem Jahr erleichtert bin, dass er gehen konnte. Es ist für mich nur schwer vorstellbar, wie er mit seiner Beeinträchtigung, der ständigen Bedrohung durch Erkrankung und Pflegeheim, seinem engagierten Streben nach Mitsprache und Teilhabe, nach Dabeisein so hätte friedlich weiterleben können. In dem Sinne ist für ihn sein Sterben wohl eine Erlösung.

Für uns als Hinterbliebene ist sein Tod hingegen eine Tragödie.

Er fehlt uns so sehr mit seiner leisen feinen Stimme. Er fehlt mit seiner Sanftheit und seinen klugen Bemerkungen.

Ich erinnere mich an so vieles.

Ich erinnere mich an die Kaninchenausstellungen, wo er aktiv mit dabei war und wir Mädchen Lose verkauften, sein Lob erhielten, weil wir wirklich gut waren. Er war ein grosser Tierfreund, ein Mann, der sich über so viele Jahre Wissen angeeignet hatte, das er auch weitergeben konnte.

Ich erinnere mich an jenen einen Volkslauf, wo er mich anfeuerte, dass ich schnell rannte, zwei Jahre nach meinen Hüft-OPs, nachdem ich wieder gelernt hatte zu laufen. Er liebte den Sport, selbst als er selber nicht mehr gehen konnte, hat er es geliebt, zuzusehen wie andere Höchstleistungen vollbrachten.

Ich erinnere mich daran, wie er mir geduldig zugehört hatte, wenn ich Sorgen hatte. Meist stand er dabei in seinem Kaninchenstall, fütterte die Tiere. Er nickte. Stellte Fragen. Er gab nie Ratschläge. Er ist für mich ein role model, was Vater und Mann sein angeht. Er war fair und liebevoll. Ich rechne es ihm hoch an, dass er bis zu seinem Tod dafür gesorgt hat, dass es seiner Frau gut geht.

Nun, er fehlt. Für uns Hinterbliebene ist sein Tod eine grosse Tragödie. Es hätte noch so viel mit ihm zu erleben gegeben. So vieles bleibt ungesagt und un-erlebt. Für ihn ist sein Tod bestimmt eine Erlösung gewesen. Er litt unsagbar. Für uns ist sein Tod ein Verlust.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen liebevollen, wunderbaren Menschen. Einen engagierten, liebenden Vater. Einen Geniesser. Einen Tierfreund, einen Naturliebenden. Er fehlt.