Der Hühnerflüsterer

Mein Vater war ein Hühnerflüsterer. Er liebte Vögel sehr.
Er züchtete Hühner, Enten und Tauben.
Er bewunderte diese gefiederten Lebewesen und gab mir diese Liebe weiter.

Wenn er sich zu ihnen setzte, kamen sie einfach, wurden ruhig, und liessen sich von seinen grossen Händen streicheln.

Ich wuchs als seine Tochter mit Vögeln auf. Die Hühner waren mir die liebsten. Ich mochte es, dazusitzen, und ihre Schnäbel auf meinen Händen zu spüren, wenn ich ihnen Körner zum Fressen hinhielt. Er züchtete, als ich elf oder zwölf Jahre alt war, Bartzwerge, Wyandotten und Seidenhühner. Die Bartzwerge und die Seidenhühner mochte ich am liebsten. Sie waren handzahm und ich redete mit ihnen, gab ihnen Namen.

Berta, ein stolzes Seidenhuhn, war mein liebster Vogel. Leider gibt es keine Fotos, wie ich sie umarme und überglücklich an mich drücke. Ihr Gockel, ein ebenso stolzer Hahn, ich nannte ihn Jonathan und Berto, hatte sie und die anderen Hühner des Hofes vor einem Rottweiler beschützt. Der Hund war wie ein blutrünstiger Irrer über unsere Tiere hergefallen und zerriss einige unserer Hühner in der Luft. Ich war starr vor Angst. Meine Mutter stürzte nach draussen und zog mich ins Haus. Sie hatte Angst, dass der Hund auch auf uns Kind losgehen würde. Vom Balkon aus sah ich mit, wie der Hund unsere Tiere tötete. Doch Jonathan stellte sich ihm in den Weg und griff ihn an. Der Hund liess schliesslich ab und rannte davon.

Jonathan bezahlte seinen Heldenmut mit dem Verlust einer Kralle, die ich später im Gras fand. Jonathan lebte danach noch viele Hühnerjahre.

Aber auch später, als Papi längst seinen Hühnerstall an einem anderen Ort aufgebaut hatte, war ich oft bei ihm und spielte und redete mit seinen Hühnern. Ich mag ihre Ruhe und ihre konzentrierte Aufmerksamkeit. Ihren Blick, wenn sie uns Menschen und das Umfeld taxieren, immer in Erwartung von Fressfeinden. Ich mag aber noch mehr ihre Ruhe, wenn sie sich wohl und sicher fühlen. Ich mag ihr warmes Gefieder, ihre Augen und die Schnäbel, ihre echsenhaften Beine, ihre Krallen und ihr zartes Federkleid.

Die Erinnerung an meinen Vater wird vermutlich immer mit den Hühnern, die längst nicht mehr da sind, verbunden sein.

Wurzeln

Am Freitag habe ich – mit etwas Verspätung – die Gräber meiner Mutter und meiner Grossmutter neu gestaltet. Das tue ich immer im Frühling, gerne um den Geburtstag meiner Omi, am 6.5.

Dieses Jahr habe ich das letzte Mal das Frühlingsgrab meiner Mutter neu gemacht. Am 17.10.2007 ist sie gestorben, bald wird ihr Grab aufgehoben. Die Gräber links neben ihrem sind bereits vor einem Jahr verschwunden.

Meine Mutter wollte nie ein Grab, dass sie eines bekam, ist meiner Oma geschuldet, die einen Ort brauchte, wo sie um ihre Tochter trauern konnte. Wir fanden es in Lichtensteig, wo Omi bis 2012 lebte.

Vor vielleicht 14 Jahren habe ich Tulpenzwiebeln auf Mamis Grab gepflanzt. Gestern habe ich die Zwiebeln ausgegraben und mit nach Hause genommen. Ich möchte sie gerne in unserem Garten pflanzen.

Wenn ihr Grab verschwindet, verschwindet auch ein weiterer Hinweis, das sie jemals gelebt hat. Dann existiert sie nur noch in meiner Erinnerung.