Ein bisschen Mut, #hellsbells und Erinnerungen

Am Donnerstag ist es also soweit. Ich werde meine beiden ungeliebten Mitbewohner in meinem Bauch – aka #hellsbells los. Vorangegangen sind viele Monate Schmerzen und Leiden. Und nun soll ein minimalinvasiver Eingriff dem allem ein Ende bereiten.

Um es klar auszudrücken: Ich werde langsam alt. In meiner Gebärmutter haben sich seit bestimmt vier Jahren mindestens zwei Myome gebildet, die ziemlich nerven und mich bei der Ausübung meines Lebens immer mal wieder behindern. Sie drücken auf Blase und Rücken. Ich habe Schmerzen. Über meinen Eisenwert mag ich gar nicht sprechen.

Meine Frauenärztin meinte dazu sehr trocken: Ihre Gebärmutter versucht seit mehreren Jahren die #hellsbells loszuwerden. Es fühlt sich an wie Wehen. Und ja, vermutlich triffts dieser Ausdruck total. Ein bisschen ironisch bei jemandem wie mir.

Meine letzte Vollnarkose ist ziemlich genau 16 Jahre her. Da war ich gerade mal 29 Jahre alt. Aber irgendwie war damals alles anders. Meine Omi, meine Mutter und mein Vater haben noch gelebt und sich um mich gekümmert. Meine Omi, wie immer um mich besorgt, hat mich nach der OP sofort angerufen und gefragt: „Meitli, gohts dir guet? Isch bi dir alles in Orning? Söll ich verbi cho?“ Von soviel grossmütterlicher Liebe umgeben, ging es mir sofort besser. Denn Omi hat mit ihrer Energie immer alles ins Positive gelenkt.

Für meine Eltern waren meine Spitalaufenthalte, die ich seit frühester Kindheit kannte, Stress pur. Meine Mutter ertrug es nur schwer, mich in einem Spitalbett zu sehen. Als ich 1986 zum ersten Mal meine deformierten Hüften operieren liess, weinte sie. Mein Vater hingegen zeigte mehr Fassung, allerdings nur nach aussen. Auch ihm ging das alles sehr nahe. Er unterstützte mich mit aufmunternden, liebevollen Worte. „Du schaffsch da“, sagte er. Vermutlich hat meine Situation meine geliebten Eltern zu sehr an den Tod meines Bruders erinnert.

Ich verbrachte mehrere Ferien im Spital Frauenfeld, damals noch im grossen Bettenturm, der nun allerdings nicht mehr da ist und wo auch mein Bruder starb. In den 80ern waren die Vollnarkosen noch etwas anders und weniger leicht verdaulich als heute. Ich erinnere mich an Glasflaschen, gefüllt mit Blut, an meinen Beinen, starke Schmerzen. Übelkeit. Grosse Angst. Lange Nächte, in denen Bettnachbarinnen vor Schmerzen durchgeschrien haben. Meistens hatten sie Mandelentfernungs-OPs. Sie kriegten sehr viel Glacé in der Nachbehandlung.

Ich verbrachte jeweils mindestens zwei bis drei Wochen im Spital. Hatte Bücher und meine Barbies dabei. Ich erinnere mich an einen Dekubitus an meinen Fersen. Dekubitus ist das Schreckgespenst aller, die liegen müssen und tut höllisch weh. Ich hatte Physiotherapie bei holländischen Therapeutinnen, die immer sehr nett waren und deren Dialekt ich immer für sehr schweizerisch gehalten hatte.

Ich erinnere mich dunkel, dass mich irgendwelche Primarschullehrer*innen bei Pflichtbesuchen für meine Tapferkeit gelobt und gleichzeitig mich als Vorbild für andere meines Alters hervorgehoben haben. Das verstehe ich bis heute nicht: Warum sollte ein neunjähriges, gehbehindertes Mädchen Vorbild für andere, nicht gehbehinderte Kinder sein, die (zum Glück) null Wissen von Schmerzen, Mobilitätsproblemen und anderem haben?

In den Nächten im Spital ist jeder mit sich alleine. Das nimmt einem keiner ab. Der Umgang mit Schmerzen lässt einen altern und irgendwie einen Umgang mit Wut finden. Mir fehlen meine Eltern und Omi. Denn das ist nun das erste Mal, dass ich so einen Weg ohne sie gehe. Das fühlt sich ungewohnt schwer an.

Ich bin schon ein wenig neugierig, wie das so wird nächste Woche. Und wie sich das anfühlt, wenn ich – einmal mehr in meinem Leben – ohne Schmerz lebe.

Der letzte Garten

In diesem Jahr habe ich den Eindruck, dass unser Garten noch bunter, noch belebter ist als in den vergangenen Jahren. Ich entdecke immer wieder neue Vogelarten, Schmetterlinge, die ich noch nie zuvor gesehen habe und viele wundershcöne Wiesenblumen. Ich bemerke, wie glücklich mich der Garten macht und wie unglücklich ich im Winter ohne all diese Begegnungen und das Werken war.

Im Frühling bepflanze und besuche ich auch die Gräber meiner Familienangehörigen neu. In diesem Jahr sind es nun weniger; das Grab von Sven ist aufgehoben. Ich habe mich bisher nicht auf jenen Friedhof gewagt, aus Angst, dass ich sehr weinen muss. Ich will mich nicht mit dem verschwundenen Stein oder der Tanne auseinandersetzen. Zu sehr habe ich mich in den letzten fast vierzig Jahren daran gewöhnt. Opas Grab ist seit letztem September verschwunden. Ein Teil seines Grabsteins besteht nun in Omis Grabstein in Form eines Herzens weiter. Die Bildhauerin hat wunderbare Arbeit geleistet und ich bin ihr sehr dankbar, hat sie meinen Gefühlen im Stein Ausdruck verliehen.

Auch Mamis Grab will bepflanzt werden. Vor 10 Jahren pflanzte ich dunkelrot-schwarze-Tulpen ein. Diese stehen jeweils nach dem grossen Schnee da und heissen einen auf dem Friedhof willkommen.

Während ich Omis Grab jätete und mit neuen Blumen versah, ein Rosenstock und die Nelken haben den Toggenburger Winter überstanden, musste ich daran denken, dass ich nun Omis letzten Garten pflege. Sie war immer mit grossem Interesse dabei, wenn ich nach Mamis Tod Blümchen in die Erde tat, lobte mich mit leicht gebrochener Stimme: “Das machsch aber schööö. Do het s’Mami aber Freud. Und ich au.“** Und dann tätschelte sie mir sanft auf die Schulter und nahm mich in die Arme, wenn mich die Trauer mal wieder überkam. Diese Umarmungen von ihr vermisse ich sehr.

Irgendwie ist es ein schönes Gefühl, weiter für diese Gräber sorgen zu dürfen und mir zu überlegen, was ich pflanzen will. Es ist immer wie ein stilles Gespräch zwischen mir und meinen Toten. Sie fehlen, aber sie leben auch weiter in all diesen bunten Blumen, die von ihrer Asche genährt werden.

**“Das machst du aber schön. Da hat deine Mutter aber Freude. Und ich auch.“

Glück im Garten

Glücklich war Omi immer dann, wenn sie in ihrem Garten war. Irgendwie wuchs einfach alles, wenn sie es pflanzte. Erdbeeren, Bohnen, Kartoffeln, Salate, Johannisbeeren. Ihre Beete waren makellos.

Vielleicht hat es mich darum vor bald 12 Jahren so schockiert, als Omi von einem Tag auf den anderen einfach ihren Garten platt walzen liess. Die alten Terrassenmauern waren einfach weg. Ich verstand es nicht. Aber für Omi stimmte es. Heute denke ich, sie hat wohl gespürt, dass etwas nicht mehr mit ihr stimmt. Und weil sie ihren Garten so liebte, wollte sie ihn wohl nicht verkommen lassen.

Die Rosen blühen. Es ist, wie wenn nichts wäre. Ich hab heute fast geweint, als ich die vertrockneten Blüten wegschnitt. Ich dachte an Omi. Manchmal sitze ich in meinem Atelier und schaue zum Gartentor raus und denke: Sie kommt nicht mehr wieder. Ich vermisse ihre fröhliche Stimme. Ihr Gesicht, wenn sie mich erblickte und wenn wir uns in die Arme schlossen. Ich vermisse ihr krauses, grauschwarzes Haar, den gebückten, zarten Körper und ihre wunderbar langen Hände.

Ich habe weitere Rosen angepflanzt. Ich will, dass es in unserem Garten blüht. Der Garten soll ein Zuhause für Bienen, Hummeln und Vögel sein.

 

9. März 2017

Heute ist Omi acht Wochen tot. Es regnet in Strömen. Die Thur trägt ihr Wasser hoch und bei mir sind die Tränen zuvorderst. Das Vermissen ist stark. Ich sehne mich so sehr nach ihrer Stimme und ihrer Umarmung. Ich denke oft an unsere Treffen und worüber wir alles gesprochen haben.
Omi sagte oft: „Gell, du vergisst mich nicht.“
Nein. Das tue ich wirklich nicht.

Gestern las ich in der Zeitung, wie ein Mann eine Frau in Omis Alter schlecht behandelt hat und ich denke: „Zum Glück muss Omi sowas nicht erleben.“ Ich atme tief durch, denn ich bin froh, dass ich mir über solche Sachen keine Sorgen mehr machen muss.

Im Moment stricke ich viel. Irgendwie tut es mir gut, denn ich kann mich auf die Wolle und die Nadeln konzentrieren. Ich lese viel. Aber das Gefühl der Leere ist trotzdem stark. Ich denke oft: fast 40 gemeinsam Jahre sind nicht einfach in einem, zwei Monaten verschwunden. Es bleibt kompliziert.

So unsagbar

Omi ist jetzt einen Monat tot.
Ehrlich gesagt kommt es mir vor, als wäre es vor Jahrzehnten passiert. Oder gar nicht.
Ich vermisse sie so sehr.

Immer wieder verspüre ich den Wunsch, sie im Pflegeheim zu besuchen. Nur kurz reinschauen.
Dann fällt mir schmerzhaft ein, dass sie nicht mehr da ist.
Ich möchte so gerne ihre Fotoalben durchblättern. Aber dann fange ich wieder an zu weinen. Ich habe ihr liebes Gesicht ohnehin in meinem Herzen. Ihre Stimme fehlt mir so sehr. Ihr Lächeln. Das Streicheln ihrer zarten, langen Hände.

Schön sind die Begegnungen mit all jenen Menschen, die auch gerade jemanden verloren haben. Da braucht es so wenige Worte und man fühlt sich zugehörig und versteht einander. Es entstehen wirklich tiefgründige Gespräche fernab von Sätzen wie: „Es ging ihr doch gut, dass sie sterben konnte.“ oder „Sei doch froh, dass sie nicht mehr leiden musste.“

Einmal mehr fährt es mir ein, wie speziell die Lage von uns Angehörigen von Demenzkranken ist: Wir trauern jahrelang um den Menschen, der uns langsam vergisst und doch am Leben ist. Und wenn sie dann einmal tot sind, dann versucht man uns zu trösten, indem man unsere Trauer klein redet.

Omi hat mich oft gefragt: „Schämst du dich meinetwegen?“ Meine Antwort war immer: „Nein!“ Das ist auch jetzt so. Ich kann nicht aufhören, über sie zu sprechen und zu schreiben. Ich bin so stolz auf sie. So glücklich, dass ich ihre Enkelin bin. So unsagbar traurig, dass sie gegangen ist.

Schreibe.

Als ich nach Omis Tod ihre Sachen sortieren musste, fiel mir eine Kiste in die Hände.
Darin befanden sich Briefe und Postkarten, die ich Omi in den letzten Jahren geschrieben habe.
Es hat mich sehr berührt, dass sie alles von mir aufbewahrt hat.

Meine Kinderzeichnungen. Meine ersten Versuche als Schriftstellerin.
Ich war gerade mal sechs Jahre alt und schrieb mir die Buchstaben von der Seele.
Omi hat sich immer darüber gefreut und bestärkte mich darin, weiter zu machen.

Beim Durchschauen der Briefe und Karten entdecke ich mein eigenes Leben wieder.
Auf Ferienreisen oder Tagesausflügen schrieb ich Omi einige Zeilen.
Wenn ich irgendwo eine Postkarte mit einem Appenzeller Sennenhund sah, musste ich sie kaufen und sofort an Omi schicken. Omi liebte Hunde.

Auch ich habe Omis Briefe aufbewahrt.
Sie liebte es, auf kariertes Papier zu schreiben. Ihre Schrift war zart und edel.
Sie berichtete mir jeweils, wie es Opa und dem Hund ging.
Das tat sie auch lange nach deren Tod.

Beim Aufräumen im Haus entdeckte ich vor einigen Jahren einen Brief, den sie an meine Mutter geschrieben hat. Sie verfasste ihn wenige Tage nach dem Tod meines Bruders. Sie flehte meine Mutter darin an, nicht ihr Leben wegzuwerfen. Ich weiss nicht, ob meine Mutter diesen Brief je erhalten hat.

Nach Opas Tod schickte ich Omi jeden Freitag einen Brief oder eine Karte mit A-Post, damit sie am Samstag etwas Nettes zu lesen hat.
Dank der Unzuverlässigkeit der Post, manchmal kamen die Briefe am Mittwoch an, hörten wir irgendwann mit diesem Ritual auf.

Jetzt, wo Omi ist nicht mehr da ist, fehlt mir das Schreiben von Hand noch mehr als früher.
Dass ich die Dankesbriefe an die Trauergemeinde von Hand schreiben konnte, war befreiend.

Ich weiss nicht, ob Omi in ihren letzten Lebensjahren noch lesen konnte.
Aber das war mir egal.
Schreiben ist etwas, das man nicht nur mit den Händen tut und mit den Augen sieht.
Es ist Sprechen mit dem Herzen.
Der kurze Gedanke an den lieben Menschen ist wie eine Umarmung.
Sie ist zeitlos.

Lieber Sven

Lieber Sven

in ein paar Minuten würdest du 34 Jahre alt werden.
Ich höre mir Danyel Gerard an. Freddie Mercury
Zarah Leander. Die Rökk.
Nie hast du Gene Kelly gehört. Oder Caterina Valente

Oder Louis Armstrong

All diese Leute hast du nie singen gehört.
Deine Mutter und ich liebten sie.
Keinen meiner Freunde hast du kennengelernt.

Nicht mal mich.

Du fehlst.
Weisst du das?
Zu gerne würde ich wissen, wie deine Stimme klingt.
Ich vermisse dich.
Mein lieber Bruder.

melancholischer august

der tod gehört zum leben.
das sagt man so gemeinhin.
ich akzeptiere den tod, weil er das leben erst recht lebenswert macht.

als ich noch ein kind war, schien mir die welt nicht immer gewogen.
ich hatte oft angst.
ich hatte angst, meine mutter würde sterben. ich fürchtete oma und opa würde was schlimmes passieren. ich sorgte mich um meine kleine schwester.

dann wird man älter und man verliert seine lieben wirklich.
ich frage mich oft, ob es einfacher gewesen wäre, wenn ich meine mutter später verloren hätte.
würde sie mich bei der pflege von paula unterstützt haben?

ich vermisse meine mutter unsäglich bei gesprächen über männer.
wie oft rief sie mich an und erzählte mir von ihren sorgen und problemen mit den männern, die sie liebte. sie führte buch über sie. über jeden.

als ich ihre wohnung räumen musste, fand ich ihre notizen. ich brachte sie ihr, doch sie wollte sie nicht. sie meinte nur, ich soll ihre sachen nicht wegschmeissen. das habe ich auch nicht getan.
ihre notizbücher halte ich in ehren, auch wenn ich nicht jeden ihrer gedanken nachvollziehen kann.

wenn ich ihre schrift sehe und am papier rieche, kommt sie ein wenig zurück.
ich vermisse sie furchtbar.
gerade jetzt im august.
ich würde so furchtbar gerne mit ihr ein panache trinken gehen.
pommes essen.
ingrid bergman sehen.
mit ihr über männer sprechen.
über die liebe.
über mein leben.

stattdessen pflanze ich blumen auf ihr grab.