Heute in 2 Monaten ist mein Vater ein Jahr tot und es scheint mir, als wäre es ewig und gestern her. Auf meiner Fernsehkommode steht ein Foto in schwarzweiss von ihm. Er blickt interessiert sein Gegenüber an. Er strahlt wie immer von ihnen. Er ist ein schöner, alternder Mann.
Morgen ist es 42 Jahre her, dass mein Bruder Sven starb. Ich bin die letzte meiner Familie, die noch weiss, dass es ihn, wenn auch nur sehr kurz, gegeben hat.
Als mein Vater vor einigen Jahren an Krebs erkrankte, sprachen wir über Sven Geburt und seinen Tod. Zum ersten Mal überhaupt. Es war mir, als würden alle Wunden aufbrechen. Es schien mir, als müsste er reinen Tisch mit seinen Gefühlen und seiner Trauer um ihn machen. Ich konnte meinen Vater alles fragen, und ich bekam auf alles, was er wusste, eine Antwort. Es war für mich heilsam.
Meine Mutter war einige Jahre zuvor gestorben und mit ihr war ein tieferes Gespräch über den Tod meines Bruders nicht möglich. Über die Geburt schon. Doch sein Tod, damit verbunden ihre tiefen Verletzungen, blieb für den Rest ihres Lebens ein Tabu.
Für all diese Gespräche mit meinen Eltern bin ich dankbar. Doch ich bleibe zurück mit vielen Fragen, die wohl nie beantwortet werden. Die Frage nach dem Warum, dem Sinn des Lebens und dem Tod eines Säuglings. Ich habe darauf keine Antwort. Aber ich werde geduldig warten.
Nachtrag vom 20. September 2021: Schaue heute abend „Beginners“. Ein berührender Film übers Trauern und den Tod. Über unbändige Lebensfreude. Die Liebe zwischen Sohn und Vater. Erinnerungen.
Es gibt also keinen Moment meines Lebens, an den ich mich bewusst erinnere, wo meine Eltern nicht getrauert hätten. Die Trauer um meinen Bruder hat vieles erstickt. Es gibt ein Leben vor und nach dem Tod meines Bruders. Das zu anerkennen ist wichtig. Aber es hat nichts mit mir als Individuum zu tun.
Ich stelle mir vor, wie grauenvoll es ist, mit Ende 20 den Sohn zu verlieren. Ein Baby, einen Säugling, den man nicht beschützen konnte. Nicht vor dem Tod. Es ist die grösste Ohnmacht, die Eltern erfahren können. Dennoch haben sie es irgendwie geschafft, weiter zu leben. Auch wenn es nicht leicht für beide war.
Ich bin dankbar für meine Eltern. Und traurig, dass sie beide nicht mehr da sind
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