Am 9. Januar ist meine Omi 6 Jahre tot. 6 Jahre. Sie starb 20 Jahre nach meinem Grossvater und knapp vier Jahre vor meinem Vater. Was für ein Leben. Sie erkrankte 1940 an einer Hirnhautentzündung und ist daran fast gestorben. Sie kämpfte sich zurück ins Leben. Ganz langsam. Aber auch sehr stur. Wenn sie das alles nicht geschafft hätte, wäre ich heute nicht am Leben.
Omi begleitet mich nach wie vor in meinem eigenen Leben. Wenn ich fremde Städte erkunde oder in den Züri Zoo gehe. In Stein am Rhein und in Berlin. Vielleicht auch, wenn ich irgendwann mal in diesem Leben nach Lourdes oder nach Rom fahre. Wann immer ich durch Lichtensteig gehe. Oder durch Wattwil. Oder durch Wil, unsere gemeinsame Geburtsstadt.
Meine Omi würde sich wundern, wie warm das Haus – ihr Haus – nun ist, nachdem wir letzten Frühling das Dach renovieren liessen. Es fühlt sich alles anders an: starker Regen, Sturm und Schnee. Manchmal hören wir nicht mal mehr, wie stark es windet. Das war noch vor einem Jahr anders. Nachdem wir erfuhren, wie wenig Balken unser Dach hatte, ist es beruhigend.
Am 7.1. ist mein Opi Walter 26 Jahre tot. Als er starb, war ich knapp 20 Jahre alt, trug eine sehr grosse Spange und hatte keine Ahnung, was mich noch alles erwarten würde. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut, wenn er miterlebt hätte, dass ich nun ein Blasinstrument (leidlich) spielen kann.
Ich muss immer wieder mal daran denken, dass sich mein Vater und mein Grossvater einige Tage vor Opis Tod via mich ausgesöhnt hatten. Mein Opi war wütend auf meinen Vater gewesen, weil sich meine Eltern hatten scheiden lassen.
Ein heftiger, grosser Streit, der schlussendlich am Telefon geklärt werden konnte. Mein Opi sagte: „Ich bin nicht mehr wütend auf dich.“ Und mein Vater antwortete: „Ok.“
Das macht mir Hoffnung für alle weiteren Streitigkeiten im Leben. Miteinander reden, so von Mensch zu Mensch im Angesicht des Todes, öffnet Türen. Sterblich sind wir alle.
Zwei Jahre ist er nun bereits tot. Es kommt mir vor wie gestern. Sein Tod war für ihn eine Erlösung. Für mich war und ist es einfach nur schrecklich und schmerzhaft. In den letzten zwei Jahren habe ich sehr viel versucht, um ihn loslassen zu können. Ich verbrachte viel Zeit draussen in der Natur, wo ich seine Nähe spüre. Doch auch dieses Gefühl verschwindet nun langsam. Das ist wohl gut so.
Diesen Sommer nahm ich am Literaturwettbewerb der Vortrags- und Lesegesellschaft Toggenburg teil und reichte einen Text ein, den ich in Erinnerung an meinen Vater geschrieben habe. Das Gefühl des langsamen (literarischen) Loslassens scheint ein weiterer Teil meines Trauerprozesses zu sein. Ich gehe jeden Schritt bewusst, auch wenn er noch so schmerzhaft ist.
Mein Vater mochte gute Geschichten. Eine davon hat er mir nie zu Ende erzählt.
Als er im 1969 Militär war – er war Rdf, also Radfahrer – entstand jenes Foto eines Brunnens. Dieses Foto hat mich seit frühester Kindheit fasziniert. Ich habe ihn immer wieder mal gefragt, wo es entstanden ist. Er hat nie gross darauf geantwortet. Ich stellte mir wahnsinnig spannende Begebenheiten vor: Der Brunnen stünde im Kanton Jura und aus seinem Wasser wurde viele Jahre lang Absinth gebraut, den mein Vater und seine Kollegen getrunken hatten. Darum hatte mein Vater sein Herz an den Jura verloren. Den Brunnen glaubte ich längst verloren.
Einige Monate vor seinem Tod erreichte mich dieses Foto. Mein Vater und seine Frau hatten eine Ausfahrt gemacht und er entschied, zumindest einen Teil des Rätsels, das mich so lange beschäftigt hatte, endlich zu lösen. Er schickte mir über seine Frau Fotos, die ihn an jenem Brunnen zeigte. Dieser hatte sich all die Jahre in meiner Nähe, im Toggenburg befunden. Warum seine Kompanie genau jenen Brunnen auserkoren hatte, um sich darauf mit einer Inschrift zu verewigen, hat er mir nie verraten.
Ich habe mich damals, es war einige Tage nach seinem 71. Geburtstag, sehr über dieses Foto und die Auflösung des Rätsels gefreut. Er lächelt, sieht glücklich aus. Ich war es auch.
Heute waren wir da an jenem Brunnen. Dreieinhalb Jahre nach jenem Foto meines Vaters, einen Tag vor seinem zweiten Todestag waren wir da. Im strömenden Regen stand ich an der Stelle, wo drei Jahre zuvor mein Vater stand. Jemand lief auf der anderen Strassenseite vorbei, und meinte: „Diä sind au nöd ganz butzt, de änne.“
Seit 70 Jahren ist das Haus im Besitz meiner Familie. Zuerst gehörte es meinen Urgrosseltern, dann meinen Grosseltern und seit November 2014 mir und meinem Freund
Das Haus ist alt, das wussten wir. Zwei Jahre stand es nach Omis Umzug ins Altersheim leer. Wir haben uns um Garten und das Haus gekümmert. Mir tat es in der Seele weh, den alten Kasten so einsam und verlassen zu sehen. Im Januar 2015 zogen wir schliesslich ein. Das war die beste Entscheidung unserer Leben. Wir fanden eine echte Heimat.
Über die Jahre haben wir verschiedene Räume renoviert, frisch gestrichen, die Elektrik wurde neu gemacht. Diesen Frühling schliesslich wurden Dach und Fassade saniert. Dabei erfuhren wir ganz nebenbei, dass das Haus vermutlich sehr viel früher als 1839 gebaut wurde, nämlich bereits im 18. Jahrhundert.
Das alles hat mich als Kind nicht gekümmert. Ich liebte das Haus von Anfang an. Es roch seltsam, sah aber schön aus. Mir gefielen die roten Fensterrahmen, die grünen Läden und die vanillefarbene Fassade sehr. Ich erinnere mich noch daran, als meine Urgrosseltern hier lebten. Beide starben zuhause. Dann erbten meine Grosseltern das Haus. Opi achtete darauf, dass nichts verändert wurde. Das war nicht nur gut. Das Haus wirkte zwar gepflegt, aber man sah ihm sein Alter an.
Nach Opis Tod hat meine Omi sehr viel renoviert und renovieren lassen. Die Kellerräume blieben mehrheitlich unverändert und wir haben in den ersten Jahren unseres Einzugs sehr viel altes Zeugs entsorgt. Opis Werkstatt war sehr feucht, Schimmel war den Wänden. Dieses Zimmer liessen wir dann sanieren, ebenso den Seitenkeller, wo vor vielen Jahren ein Webstuhl stand.
Überhaupt ist das ganze Haus von der Toggenburger Textilindustrie geprägt. Im Estrich fanden wir viele Fadenspulen, die dazugehörigen Strickmaschinen, sehr viele Stoffe, Einbauschränke und Laminate aus England.
Der grosse Keller war früher eine Waschküche. Der Boden ist leicht abfallend mit Steinplatten ausgelegt, der steinerne Waschtrog ist ebenfalls vorhanden, ebenso Wöschhänkeni aus Holz. Hinter dem Haus pflegte der Appenzeller Sennenhundmischling der Urgrosseltern und der der Grosseltern zu schlafen. Hier wurden Waschbären, Kaninchen und Hühner gezüchtet.
In diesem Haus fanden unsere Familienfeiern statt. Hier wurde gelebt. Auf Fotos sieht man meine frisch verlobten Eltern, die den Urgrosseltern (und dem Haus) ihre Aufwartung machen, Gäste aus dem Ausland, den wunderschönen Garten, den Hundezwinger. Dann meine Grosseltern, die vor dem Haus stehen, aus Fenstern schauen, winken. In diesem Haus wurde auch gestorben. Die Geschichten behält es für sich, denn es hat bestimmt viel gesehen in den letzten zweihundert Jahren.
Nun ist das alte Dach saniert und wir werden im Winter weniger frieren, denn eine moderne Heizung haben wir nicht. Die Fassade ist so schön, wie ich sie damals anfangs der 80er in Erinnerung habe. Ich liebe dieses Haus so sehr und bin glücklich, dass wir hier leben dürfen.
Vor zehn Jahren entschloss sich meine an Demenz erkrankte Omi dazu, dass nun Zeit wäre, ein Pflegeheim zu suchen. Es fiel ihr sehr schwer, sich von dem Haus, wo sie seit den 80er Jahren gelebt hatte, zu trennen. So viel hatte sie hier erlebt.
Opi war 1983 hierher gezogen, um seine hochbetagten Eltern zu pflegen. Omi arbeitete weiter in ihrem Kiosk, um Geld zu verdienen. Als meine Urgrosseltern um 1984 verstorben waren, lebten Omi und Opi gemeinsam hier. Sie pflegten einen grossen Garten, sorgten für Barri, den Berner Sennenhund der Urgrosseltern.
Doch das Schönste war, dass meine Schwester und ich von da an alle Ferien hier verbringen konnten. Das Haus wurde zu einem sicheren Hafen in einer Kindheit, die nicht einfach war. Wir liebten es, das Haus zu erkunden, uns in Seitenschränken oder im Keller zu verstecken und mit dem Hund zu spielen.
Mein Grossvater bläute mir und meiner Mutter ein, dass wir uns immer um das Haus kümmern sollten. Es war alles, was unserer Familie gehörte. Es war sozusagen der Fels in der familiären Brandung. Das Haus war ein fester Wert – und das über Generationen.
Opi starb 1997. Omi erbte das Haus und tätigte erste Renovationen. Sie liess die uralten Fenster und undichte Türen auswechseln. Der alte Hundezwinger wurde abgebrochen. Es gab Spannteppich in der Stube und das Parkett im Gang wurde kurzerhand überklebt. Omi und das Haus blühten auf.
Das Haus wirkte immer etwas verwunschen und geheimnisvoll. Ich war nicht erstaunt, als ich von Einheimischen hörte, dass sie es „Hexenhüsli“ nennen. Vielleicht ist es das wirklich.
2007 starb meine Mutter. Nun folgte eine sehr schwere Zeit für meine Omi. Immer mehr zog sie sich zurück, liess sogar den schönen Garten dem Erdboden gleich machen. Schritt für Schritt wurde das Haus mit seinen vier Wänden zum Kosmos meiner Omi. Am Schluss verbrachte sie ihr Leben in drei Zimmern: der Küche, der Stube und dem kleinen Schlafzimmer. Omi stellte sich den Geistern der Vergangenheit, kämpfte mit ihren Erinnerungen an ihre Schwiegermutter und all dem Plunder, von dem sie sich nie trennen konnte.
Omi zog im Herbst 2012 in ein kleines, wunderbares Toggenburger Pflegeheim. Vielleicht hat sie dieses Haus an ihr eigenes – und an ihre Kindheit – erinnert. Jedenfalls war sie dort bis zu ihrem Tod noch einmal glücklich.
2014 konnten wir Omi das Haus, das seit den 1950er Jahren in der Familie war, abkaufen. 2015 zogen wir hier ein.
Vor einigen Tagen nun konnten wir mit der Renovation des Daches beginnen.
Manchmal denke ich daran, wie gerne ich diesen Moment mit Omi (und mit meinem Papi) geteilt hätte. Ich würde gerne wissen, was sie darüber denken würden. „Dasch aber tüür“, würde Omi wohl sagen. „Oh ja, Omi, aber es lohnt sich“ wäre meine Antwort.
Ich freue mich darauf, dass unser Haus, das wir seit vielen Jahren „Paulahaus“ nennen, zu neuem Glanz erblüht. Es wird mich immer an jene Menschen erinnern, die hier gelebt haben. Von den einen weiss ich viel, von den anderen nur wenig oder gar nichts. Das Haus ist alt, älter als der Eintrag im Grundbuchamt von 1839.
Das Paulahaus gehörte verschiedenen Personen bzw. sogar Firmen. Es ist eng verbunden mit der Textilvergangenheit des Toggenburgs. Gleichzeitig finden sich im Haus Spuren aus England. Im einen Schrank ist eine Edinburgh press, die Laminate sind aus Lancaster.
Der Kellerboden ist felsig, leicht abschüssig. Das kommt daher, dass sich hier mal eine Wäscherei befand. Später war hier die Werkstatt meines Grossvaters.
Es ist ein seltsames Gefühl, im Schlafzimmer zu liegen und zu wissen, dass über einem kein Dach mehr ist. Ich bin sehr gespannt, wie das Haus nachher aussieht. Wie es sich anfühlt, wenn nachher alte Wunden geheilt und neu verputzt sind.
Ich glaube ganz fest daran, dass alte Häuser eine Seele haben. Mehr als einmal habe ich 2014 gehofft, dass wir „unser Haus“ kaufen können. 2022, alles ist nun anders, bin ich noch immer glücklich, dass wir hier leben, an diesem wunderbarsten Ort in meinem Leben. In dieser alten Stadt, an diesem Ort am Lederbach, in diesem einen Haus, das ich seit bald 40 Jahren liebe. Das mir Trost war, wenn das Leben schwierig war.
Ich bin glücklich über das neue Dach, das nun über uns entsteht. Die Fassade, die in einigen Tagen Stück für Stück renoviert wird. Ich denke dabei an all meine Altvorderen, die hier gelebt haben und das Haus mit Leben und Glück erfüllt haben. Ich bin dankbar, dass sie da waren, weil sie allesamt ein Teil meines bisherigen Lebens waren.
Aber ich denke auch an meinen Vater, der „das Haus“ immer sehr kritisch beäugt hat. „Willst du das wirklich? Bist du dir sicher?“, fragte er jeweils. Ich antwortete mit „Ja. ich will.“
unsere alte LindeHenri und Röös in der KücheOmi, Opa und meine Mutter vor dem HausUromi RöösPapi und ich am Bach
Heute vor 25 Jahren starb mein Opi Walter. Er wurde 72 Jahre alt. Opi war im Herbst 1996 Leberkrebs diagnostiziert worden. Er wusste, welches Ende ihn erwarten würde und entschied sich, zuhause zu sterben. Meine Omi hat ihn bis zu seinem Tod begleitet, ebenso eine Pflegende.
Omi berichtete, wie zerbrechlich Opi am Ende seines Lebens geworden war. Sie hielt seine Hand, als er am Morgen des 7. Januar 1997 um Punkt acht Uhr seinen letzten Atemzug tat. Omi war auch über 10 Jahre später an der Seite meiner Mutter, ihrer Tochter, als sie starb und hat auch damals ihre Hand gehalten.
Die Nachricht von Opis Tod erreichte mich am Arbeitsplatz. Ich arbeitete seit einigen Monaten in einem Ladengeschäft und war mehr oder weniger glücklich dabei. Meine Mutter hatte meine Chefin angerufen, die mich dann ins Büro zitierte. Meine Mutter weinte am Telefon und sagte, Opi wäre tot. Ich weinte kurz, ging dann wieder zur Arbeit.
Ich spürte damals, dass ich offenbar innerlich trauere. Ich muss weiter arbeiten können, in meinem gewohnten Umfeld funktionieren. Ich brauche keinen totalen Rückzug von allem.
Eine Woche später war Opis Beerdigung. Es war sehr kalt. In meiner Erinnerung liegt Schnee. Omi war sehr stark und tröstete uns alle. Meine Schwester und ich weinten.
Beim Trauermahl im Café Huber, wo Omis Geschwister, Mami, Opis Freunde aus der Aktivdienstzeit dabei waren, erzählten alle Erlebnisse mit Opi. Es schien mir, als würde er für einen Moment nochmals zwischen uns sitzen, ein dünner zierlicher Mann, mit stahlblauen Augen, die Zigarette zwischen den Fingern.
Erst nach seinem Tod, als ich mit Omi das Haus aufräumte, Fotos und Zeitungsberichte fand, lernte ich meinen Opi ganz anders kennen.
Er war sehr intelligent, an Politik, Physik und Chemie interessiert, gleichzeitig ein begabter Musiker, Jazz- und Swingliebhaber. Er interessierte sich für Geschichte, das Toggenburg und hatte den Zweiten Weltkrieg als Militärmusiker am eigenen Leib erlebt.
Er war das zweite Kind von Anna und Henri Mettler. Seine ältere Schwester Nelly war einige Jahre vor seinem Tod als Kleinkind verstorben. Henri war Veteran des Ersten Weltkriegs und wie er Fabrikarbeiter im Toggenburg.
Opi war während meiner Kindheit und Jugend mein freundlicher Begleiter. Er motivierte mich zu lernen, an mich zu glauben und das zu tun, was ich mir erträume.
Sein langsames Sterben war eine sehr traurige und zugleich schöne Erfahrung. Ich lernte von ihm, wie es ist, anderen zu vergeben und offen zu sein für den Übergang in den Tod. Opi war ein sehr besonderer Mensch und er fehlt mir, auch 25 Jahre später noch immer. Ich denke gerne an ihn zurück. Ich bin dankbar, dass ich seine Enkelin bin.
Meine Omi liebte Katzen nicht. Ich erinnere mich dunkel an jene eine Katze, die meine Uromi Rosa 1983 hinterliess. Sie war getigert, mit weisser Brust. Omi befürchtete, dass ihr ein solches Viech die Strümpfe und Beine zerkratzen würde.
Als ich 2002 auf mein Dreizehntel traf und diese auch zu Omi mitnahm, wurde vieles etwas anders. Omi entdeckte, dass sie Katzen sehr wohl mochte.
Einige Jahre später brach Omis Demenz vollends aus. Alles veränderte sich, vor allem ihre Beziehung zu Tieren. Nach Opis Tod 1997 war Omi einsam.
Meine Mutter starb 2007. Danach war meine Omi nicht mehr der gleiche Mensch. Zwar war sie noch immer zärtlich und liebevoll, doch sie veränderte sich. Omi entdeckte ihre Liebe zu Katzen.
Ich erinnere mich noch an jenes eine Mal, wo ich eine rote Katze in ihrer Stube antraf, umhüllt von Küchentüchern, damit sie es weich und warm hätte. Omi nannte sie „Röteli“.
Es gab verschiedene „Röteli“, eine davon war Janice.
Ich lernte Janice so um 2009 kennen, als ich Omi intensiver begleitete. Sie war eine stattliche, schöne Katze, die laut miaute und etwas scheu war. Oftmals lag sie dösend in der Stube, zärtlich behütet von meiner demenzkranken Omi, die ihr liebe Koseworte flüsterte. „Das ist der Röteli“, sagte Omi. „Aber das ist doch nicht deine Katze!“, antwortete ich ihr. „Sie ist einfach da“, entgegnete meine Omi. „Aber du kannst sie doch nicht einfach füttern. Sie gehört doch jemandem!“ Omi zuckte mit den Schultern, streichelte den Röteli und ging in die Küche. Röteli aber rannte sofort weg, sobald jemand anders, als Omi in der Nähe war.
Natürlich hat es mich beschäftigt, wessen Katze Röteli war. Ich sollte es erst einige Jahre später erfahren, als ich nach Lichtensteig gezügelt war. Röteli gehörte meiner Freundin Angela. Und: Röteli hiess eigentlich Janice, war ein Weibchen und kein Männchen, so wie meine Omi es jahrelang gedacht hatte.
Röteli begleitete meine Omi einige Jahre lang, so bis ca 2012, als Omi im Oktober ins Pflegeheim zog. Sie fütterte die Katze täglich, erzählte ihr alle Sorgen. Doch als Omi aus dem Haus auszog, vergass sie die Katze, wie so vieles andere.
Nachdem Omi aus dem Haus ausgezogen war, sahen wir Röteli nur noch aus der Ferne. Röteli betrat das Haus nie mehr. Mir schien, als sei mit Omis Weggehen auch alles verschwunden, was Röteli noch an dem Haus angezogen hatte.
Als wir im Februar 2015 ins Haus zogen, war Röteli da. Allerdings nur aus der Ferne. Röteli sass auf der Mauer und schaute uns zu. Drehte ihre Runden ums Haus. Vertrieb andere Katzen. Röteli war die Königin des Quartiers.
Die letzten Jahre trafen wir uns sporadisch. Röteli lief über unser Grundstück, fing Mäuse, miaute laut. Wir begruben unsere Katze Dreizehntel. Kurz danach sass Röteli laut miauend auf der Mauer neben ihrem Grab. Einige Wochen später, wir lebten nun mit Aelfric und Fauci, unseren Katzenkindern zusammen, miauten diese laut durchs Fenster, als sie Rötelis abendliches Gemiaue hörten. Röteli rannte rasch davon.
Nun ist Röteli – Janice tot. Sie wurde überfahren. Vermutlich war sie aufgrund ihres hohen Alters gehörlos und konnte deshalb nicht mehr wegrennen. Janice war eine wunderbare, schöne und starke Katze. Wir werden uns immer an sie und ihren Liebesdienst an unserer Omi erinnern.
Man weiss nie, welche Prüfungen einen im Leben erwarten und meist sind es die unerwarteten, die einen wirklich weiter bringen.
Im Spätsommer 2018 sagte mein Vater zu mir: Wenn ich gewusst hättte, wie es mir mit 70 geht, hätte ich mit 40 noch sehr viel mehr die Sau rausgelassen und all das getan, woran ich mich nie gewagt hätte. Ich war damals 41 Jahre alt.
Er sagte noch ein paar andere Dinge. Es war ein gutes, liebevolles Gespräch zwischen Vater und Tochter. Ich fuhr nach Hause. Da fing ich an nieder zu schreiben, was mir in jenem Moment wichtig war und woran ich mich bis dahin nie getraut hatte. Die Jagd war eines der ersten Wörter, die ich schrieb. Ich weiss bis heute nicht, woher dieses Wort kam. Es war einfach da, so wie immer, wenn ich beim Schreiben die Augen schliesse und einfach drauf los schreibe.
Und so meldete ich mich im Winter 2018 für die Jagdausbildung des Kantons St. Gallen an.
Im Februar 2019 startete ich mit dem ersten Teil der Ausbildung, der Schulung an der Waffe. Ich hatte bis dahin nie eine in der Hand gehalten. Die Ausbildung (und vor allem die Ausbildner und Ausbildnerinnen) im Kanton St. Gallen sind wirklich gut. Hart, klar und sehr fair. Ich lernte schnell. Und ich bemerkte: Ich kann gut schiessen. Mein Vater pflegte nach der Schiessprüfung zu sagen: „Das hat sie nicht von mir.“
Das ist übrigens ein typischer Ostschweizer Spruch, der sehr trocken und recht nebenbei daher kommt, aber eigentlich sehr liebevoll gemeint ist.
Nun, die Schiessprüfung ist ein erster Meilenstein in der Jagdausbildung. Hier werden Hirn, Nerven und Charakter in Stresssituationen geprüft.
Ich war sehr glücklich (ich habe recht heftig geweint), als ich meinen Eltern mitteilen durfte, dass ich diese erste Prüfung bewältigt habe. Mein Vater war sichtlich stolz und es bereitete mir Freude, mit ihm darüber zu sprechen.
Im Sommer 2019 fanden die obligatorischen Tage statt, die man unbedingt besuchen muss, wenn man die theoretische Prüfung antreten will. Das sind sehr lehrreiche, wichtige und berührende Tage. Ich lernte sehr viel über den Wald, die Arbeit mit den Jagdhunden und noch sehr viel mehr über Leben und Tod.
Das letzte gemeinsame Jahr mit meinem Vater war geprägt von Begegnungen und Gesprächen. Wir schauten zusammen Zeitschriften an und ich bemerkte einmal mehr seine Verbundenheit zu den Vögeln und zur Natur. Zu gerne hätte ich mehr mit ihm mehr über die Hühnerzucht und seine Abenteuer mit der weissen Krähe gesprochen, die er als Jugendlicher aufgezogen hatte. Vögel waren immer seine Leidenschaft gewesen. Ich dachte damals, ich hätte noch sehr viel Zeit.
Weihnachten 2019 feierten wir in seinem Lieblingsrestaurant. Es war barrierefrei und die Bedienung war wirklich super. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch mehr als früher zu schätzen, dass ein Restaurant auf der Website angibt, ob es Menschen mit Behinderung beherbergen mag. Ich wusste nicht, dass es unser letztes gemeinsames Weihnachtsfest werden würde.
2020 startete wie erwartet. Ich besuchte am Montagabend jeweils die freiwilligen Kurse der Jagdausbildung und lernte sehr rasch sehr viel über die Wildtiere der Schweiz, deren Lebensraum, das Wildtiermanagement, das Schweizer Recht und überhaupt, was Jagd bedeutet. Ich sog das Wissen praktisch auf und es machte mir sehr viel Freude, da auch die AusbildnerInnen einfach toll waren. Ich hatte bis dahin noch nie eine Ausbildung erlebt, die von so motivierten und engagierten Menschen durchgeführt wurde.
Ich hatte mich sehr auf die Prüfung im Juni 2020 vorbereitet. Umso mehr war es für mich (und viele meiner Kollegen) ein Schock, dass von einem auf den anderen Tag im Kanton St. Gallen alles abgesagt wurde. Keine Ausbildung mehr und vor allem: keine Prüfung.
Für mich brach eine Welt zusammen. Insgeheim hatte ich gehofft, dass ich im Juni 2020 die Prüfung bestehen und mein Vater das alles miterleben würde.
Es kam alles anders. Der Shutdown kam und damit wenig Kontakt zwischen uns Menschen.
Das letzte Lebensjahr meines Vater verlief praktisch ohne mich. Wir telefonierten zwar regelmässig, aber wir sahen uns nicht mehr. Unsere Devise war: Bloss keine Isolation riskieren. Freiheit ist das Wichtigste. Das Eingesperrtsein in seine vier Wände schien ihm das Schlimmste und das respektierte ich.
Und so ging ich mit der Jagdgesellschaft in meinem Ort regelmässig auf Jagd. Es war wunderschön. Tröstend. Es heilte viele meiner Wunden. Ich war glücklich, denn ich war im Wald. Ich vergass meinen Vater nicht. Gefühlsmässig war er immer dabei. Ich erlebte viele Sonnenuntergänge, konnte Hasen, Rehe und Füchse beobachten. Ich war glücklich.
Im November 2020, 12 Tage vor seinem Tod, erlegte ich mein erstes Tier. Ich habe sehr geweint. Weil ich spürte, dass es nicht mehr lange dauern würde, dass ich ihn, meinen geliebten Vater, verlieren würde. Weil Tod und Leben einfach nahe beisammen lagen. Dass ich mit seinem Tod eine andere werden würde.
Und dann starb mein Vater. Es ging plötzlich sehr schnell. Ich war und bin sehr traurig. Aber auch sehr erleichtert, weil sein Leiden so schwer erträglich war für uns alle, die ihn liebten und vor allem für ihn.
Der Winter wurde hart und kalt. Viel Schnee fiel. Er hätte ihn von Herzen gehasst. Im Januar starteten die freiwilligen Kurse erneut, allerdings nicht mehr im Real Life, sondern online.
Die Jagd ist eine Sache, die man nicht einfach nur lesen oder beschreiben kann. Die Jagd lebt. Man muss sie anfassen, riechen, streicheln und fühlen können. Sie berührt alle Sinne. Sie lässt einen nicht kalt. Sie trifft einen immer im Innersten. Ins Herz. Du kannst dich nicht verstecken. Du bist immer du selbst.
Und so lernte ich auf die theoretische Prüfung, derweil um mich Quarantänen und Isolationen ausgesprochen wurden, Menschen sehr krank wurden. Ich konzentrierte mich auf den Termin im Juni. Alles andere war mir mit einem Mal unwichtig.
Die Wochen und Tage vor der Prüfung waren für mich sehr emotional. Ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was ich wusste und konnte, schob alles andere zur Seite.
An der Prüfung trug ich die Krähenkette, die mir mein Vater zum 40sten Geburtstag geschenkt hatte und an den ich noch den Ehering meiner Omi gehängt hatte.
Meine Omi gestand mir vor einigen Jahren, dass sie anfangs der 50er Jahre versucht hatte, einen Fuchsbraten für meinen Opi zuzubereiten. Sie hatte ihn von einem Jäger, vermutlich eher einem Wilderer gekauft. Er geriet fürchterlich und führte dazu, dass mein Opi danach nur noch heissen Fleischkäse, Voressen oder verkochte Teigwaren essen wollte.
Und so ging ich am 9. Juni an die Jagdprüfung. Ich war gut vorbereitet, sehr aufgeregt und freute mich auf die Fragen. Die Experten und Expertinnen waren sehr freundlich und sehr kritisch. Ich hatte ein gutes Gefühl.
Als ich nach 17h vom Obmann zum Büro gerufen wurde, war ich dennoch zittrig. Umso glücklicher und erleichterter war ich schliesslich, als er mir mitteilte, dass ich die Prüfung bestanden und den Fähigkeitsausweis erlangt hatte. Die Tränen flossen und das war gut so.
Zu gerne hätte ich diesen Tag mit meinem Vater gefeiert. Ich kann mir auch genau vorstellen, was er dazu gesagt hätte. Es schmerzt mich sehr, dass er all das nicht mehr erleben kann. Ich hatte mir so sehr erhofft, dass er dabei gewesen wäre. Dass er kommentieren würde, was er sieht und fühlt. Wie immer wäre es sehr ehrlich herausgekommen.
Nun ist er nicht mehr da und trotzdem war er ein Teil von allem. Er war in meinem Herzen und in meinem Hosensack.
Vor einigen Jahren, ich glaube, es war so um 2013 herum, zeigte mir mein Vater nach langem Nachfragen meinerseits, wie ich mit einer Sense mähen kann. Nun könnte man meinen, dass diese Tätigkeit für ein ehemaliges Thurgauer Landmeiteli doch nichts besonderes bedeutet hätte. Viele Sommer lang half ich meinem Vater beim Heuen und Emden, aber die Sense hatte immer er fest in der Hand.
Er zeigte mir, wie ich die Sense halten und wie tängeln muss, verbunden mit mehrmaligen Hinweisen, mir nicht die Hände zu zerschneiden, bzw. in meinem Fall nur ja gute Handschuhe zu tragen. Auch sollte ich darauf achten, nicht in Steine und andere Hindernisse zu hauen, weil davon die Sense einen „Hick“ bekommen könnte. Wir mähten also gemeinsam ein Stück Wiese vor seinem Kaninchenstall, dann durfte ich seine Sense mitnehmen.
Ich hatte vor, die Wiese um Omis Haus zu mähen. Omi lebte zu dem Zeitpunkt bereits ein halbes Jahr im Pflegeheim und ich hatte mir auf die Fahne geschrieben, das Haus zu erhalten. Zu dem Zeitpunkt dachte ich höchstens entfernt daran, mal hier im Toggenburg zu wohnen. Zu weit war der Thurgau entfernt, zu wenig flach war es hier für meinen damaligen Geschmack.
An jenem Tag, wo ich die abschüssigen Wiesen ums Haus von Hand schnitt, kam eine tiefe Sehnsucht in mir auf. Hier in Lichtensteig war ich immer glücklich gewesen. Es bereitete mir grosse Freude, mir die Hände mit Erde dreckig zu machen. Ich schwitzte und keuchte zwar, weil ich die harte Mäharbeit nicht gewohnt war, doch ich war glücklich. Ich wusste plötzlich, hier will ich leben.
Vielleicht bin ich an jenem Abend als eine andere zu meinem Vater gekommen, als ich gegangen war. Ich überreichte ihm seine Sense, er kontrollierte, ob ich einen „Hick“ rein gemacht hatte. Ich war leicht betüpft, weil ich sein Werkzeug doch so sorgfältig behandelt hatte. Einige Tage später kaufte ich mir eine eigene Sense, was er auch nicht wirklich toll fand.
Ein Jahr später, mein Vater hatte mich mit Engelszungen überredet, dass ich mir eine Fadensense anschaffe, standen wir, also Papi, seine Frau, Sascha und ich wieder vor dem Haus, und mähten. Mein Vater liess es sich nicht nehmen, mich in die Kunst des Fadensensenmähens einzuweisen. Er hielt mir einen Vortrag über Arbeitssicherheit, Helm mit Schutzschild, Handschuhen, Bergschuhen und passenden Arbeitshosen inklusive. Dann durfte ich mähen. Für vielleicht fünf Minuten. Dann nahm er mir das Werkzeug wieder ab und mähte fröhlich selber weiter, derweil wir anderen das geschnittene Gras wegtragen durften.
Rückblickend war es ein grosser Liebesdienst meines Vaters an mich und wenn ich nun auf der Terrasse hocke und auf die Wiese schaue, höre ich seine kritische Stimme. Ein klein wenig wünschte ich mir, er wäre jetzt hier und würde zuschauen, wie ich mähe. Er würde vielleicht die alte Linde kritisieren „Die nimmt einfach zu viel Licht weg. Ich würde die als umtun.“ Ich wüsste und spürte aber haargenau, dass er insgeheim furchtbar stolz auf mich ist.
Nun ist es über ein Jahr her, seit wir alle in eine Art verordnete Käseglocke gesteckt wurden. Ich verspüre Sehnsucht nach dem Leben von vor einem Jahr oder nur dem schon von vor einigen Monaten. Es scheint mir alles irgendwie sehr surreal. Ich erinnere mich an vieles, das mir längst fern scheint. Wie fühlt sich ein Restaurantbesuch an? Wie Krafttraining in einem Fitnesscenter?
Doch das ist nur die eine Seite. Ich stecke mitten in einer Phase vertieften Lesens und Lernens, neben der Arbeit. Man könnte sagen, es fühlt sich fast so wie eine Art Flow an. Die Dinge gehen mir leicht von der Hand, sei es beim Schreiben, am Arbeitsplatz oder bei der Führung des Haushalts. Beim Kochen. Beim Entsorgen von Gegenständen meiner Eltern und Grosseltern. Es fühlt sich leicht und richtig an.
Ich bin ganz begierig nach Bildung, nach neuen Erkenntnissen, nach Büchern, nach echtem Austausch mit anderen Menschen. Ich lese Zeitungen und Zeitschriften, gestalte Collagen und denke darüber nach, wie ich den Schermäusen im Garten Herrin und den Rasen vertikutieren werde. Ich kann es kaum erwarten, bis es wärmer wird. So möchte ich meine Kräuter wachsen sehen und kochen, feine Brote backen und abends nach der Arbeit in den Wald gehen.
Das Zuhause als wunderbarer, behaglicher Ort bestätigt sich in meinem Leben als gute Entscheidung. Ich liebe mein Haus, weil es so schön und alt und aus Holz gebaut ist. Deshalb verspüre ich wohl auch kein Fernweh. Hier finde ich alles, was mein Herz braucht, um gesund zu bleiben. Ich denke oft an meine Eltern und Grosseltern und was wir all die Jahre hier in diesem Haus gemeinsam erlebt haben. Die Erinnerung an das, was war, und was ich verloren habe, könnte schwer wiegen. Dennoch fühle ich anders: Das Glück, dass ich hier aufwachsen konnte, von meinen Grosseltern und Eltern geliebt wurde und heute hier leben darf, wiegt den Verlust ihres Todes auf.
Im Toggenburger Jahrbuch 2021 las ich vor einigen Tagen einen Text der wunderbaren Hildegard E. Keller, die ebenfalls hier oben aufgewachsen ist. In „Reise durchs Toggenburg in meiner Wohnung“ schreibt sie über die Begegnung mit Gegenständen, die sie all die Jahre vom Toggenburg aus mit in die Welt genommen hat. „Meine Wanderung führt mich in einen Mikrokosmos des maximal persönlichen, es ist eine Reise der Erinnerung. Durch jahrtausendelanges Training ist das Erinnern so stark geworden, dass es Menschen über Generationen hinweg verbindet. Die griechische Kultur nennt sie Mnemosyne.“
Als meine Mutter starb, waren sie und mein Vater schon viele Jahre geschieden und das war gut so. So hatten sie beide, aus meiner jugendlichen Sicht, eine Chance, ihr Lebensglück zu finden und zu leben. Meine Mutter war allerdings kein einfacher Mensch. Sie hat ihren ganzen Zorn auf meinen Vater projiziert und das war richtig übel. Er entschied sich 1994 während der Scheidung das Sorgerecht für mich und meine Schwester zu erkämpfen. Dafür werde ich ihm immer sehr dankbar sein. Nun, als meine Mutter 2007 starb, hatte mein Vater allen Grund, sich nicht für ihr Sterben zu interessieren. Doch er unterstützte mich bei der Begleitung meiner Mutter so gut er (und seine Frau) es konnten.
In ihren letzten Stunden war ich an ihrer Seite. Ich habe alle Formalitäten erledigt, die so ein Todesfall mit sich bringt. Und weil meine Omi im Toggenburg gewünscht hat, dass meine Mutter auf dem Friedhof beerdigt wird, wo mein Opi begraben liegt, habe ich mich natürlich sehr dafür eingesetzt. Doch weil die bürokratischen Mühlen langsam mahlen, war es nun mal so, dass ich Mamis Urne beim Friedhof Oberkirch in Frauenfeld abholen und selber ins Toggenburg fahren musste. Mein Vater bekam dies mit und verbot es mir mit aller Vehemenz, die ich von ihm bis dahin nicht kannte. „Was soll ich denn machen? Sie muss doch auf den Friedhof, weil am nächsten Tag die Beerdigung ist.“, entgegnete ich ihm am Telefon.
Und so holte mein Vater mich zuhause im Thurgau ab, fuhr mich zum Friedhof Oberkirch und holte mit mir die Urne meiner Mutter ab. Dann fuhren wir ins Toggenburg und lieferten ihre sterblichen Überreste auf dem Friedhof ab. Auf der Fahrt erzählte mir mein Vater, wie er die Beerdigung meines Bruders, 28 Jahre zuvor, erlebt hatte. Ich begriff mit einem Mal, vor welchem Schmerz, welcher Überforderung, er mich nun beschützen wollte. Dass er mit seinem Einsatz weit über seine eigenen Grenzen ging, begriff ich erst später.
Kurze Zeit später sassen wir bei Omi in der Küche. Wir weinten alle drei, umarmten uns. Wir weinten um Bruder, Mutter, Sohn, Tochter, Enkel und wahrscheinlich noch sehr viel mehr um uns. Die Trauer und das Bedauern bekamen mit einem Mal eine Form. Es war ein sehr liebevoller, ehrlicher und trauriger Moment, den ich nie mehr vergessen werde.
Kurze Zeit später machte sich Omis Demenz bemerkbar. Ich hatte das Gefühl, dass sie nun, mit dem Tod ihrer Tochter ihre Aufgaben erledigt hatte, und sein und fühlen konnte, was sie brauchte. 13 Jahre nach meiner Mutter starb im November 2020 nun mein Vater und ich empfand es als Ironie des Schicksals, dass wir unter Corona-Massnahmen auf dem Friedhof Oberkirch von ihm Abschied nahmen. Am gleichen Ort, wo er fast 13 Jahre zuvor an meiner Seite war, als es galt, meine Mutter zu beerdigen. Panta rhei.