Scheiss Trauer-Arbeit

Meine Trauer verläuft, im Vergleich dazu, als meine Mutter und meine Omi starben, nun beim Tod meines Vaters ganz anders.

Als meine Mutter starb, war das für mich absolut zehrend. Ihr Verlust, das Mitleiden während mehrerer Monate, ihre Odyssee vom Spital, in die Psychiatrie, zurück ins Spital und schliesslich ins Pflegeheim, verbrauchten meine Kraft. Nach ihrem Tod fühlte ich mich ausgequetscht und tieftraurig. Als schönen Moment werte ich noch heute, dass ich mit meiner Omi in den letzten Minuten meiner Mutter dabei sein konnte. Das ist ein Geschenk vom Leben an mich, damit ich mit all den Erlebnissen weiter leben konnte. Meine Trauer zog sich allerdings über mehrere Jahre hin. Ich hatte schwer dran zu beissen.

Das Sterben meiner Omi zog sich über viele Jahre hin. Allerdings spürte ich, wie sie trotz ihrer Demenz viel Lebensqualität hatte und auch sehr lange selber entscheiden konnte, wie es mit ihr weiter gehen würde. Selbst als sie im Pflegeheim war, hatte ich das Gefühl, dass es ihr gut geht und sie liebevoll gepflegt wird. Ich konnte sie so langsam loslassen, im Wissen, sie würde nicht alleine gehen müssen, wenn sie das nicht wollte. Meine Omi blühte im Pflegeheim nochmals so richtig auf: Sie genoss Besuche, sie liebte ihre Pflegenden und nahm jeden Tag aufs Neue an. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es für sie gewesen wäre, während der Corona-Massnahmen in einem (abgeschotteten) Heim zu leben. Ich bin froh und dankbar, dass sie vor vier Jahren gehen konnte. Ich spürte, dass sie jetzt genug hatte und bereit war, loszulassen. Die Trauer um meine Omi verlief, trotz oder wegen unserer engen Beziehung, sehr leicht. Ihr letzter Satz an mich, kurz bevor sie starb, lautete: „Warum bist du denn traurig?“. Das half mir, sie gehen zu lassen. Sie hatte ihr Leben gelebt. Es war ok, wenn sie nun starb.

Ganz anders verhält es sich bei der Trauer um meinen Vater. Er war für mich immer ein Quell von Leben und Energie gewesen. Er war sportlich, fit, unternehmungslustig. Seine Diagnose Kleinhirnatrophie bedeutete für ihn, dass er innerhalb weniger Jahre zu einem Pflegefall wurde. Mitanzusehen, wie aus meinem Vater, der Sport über alles liebte, plötzlich ein pflegebedürftiger, hoch verletzlicher Mann wurde, hat auch mich verändert. Zwei Herzen schlugen in meiner Brust: Vielleicht würde sich alles wieder zum Besseren kehren, er plötzlich wieder gesunden und gleichzeitig die Gewissheit, dass er in den sicheren Tod geht. Die Pandemie mit den verschiedenen Massnahmen und meine berufliche Situation führten dazu, dass wir uns nicht mehr oft sahen. Denn ich wusste eines: Er will nicht ins Pflegeheim. Eine Ansteckung hätte für ihn und seine Frau bedeutet, dass er ganz sicher ins Pflegeheim muss.
Mein helfendes Ich war angeknackst: Ich konnte ihm nur helfen, indem ich nichts tat, ausser die beiden anzurufen, an sie zu denken und selber gesund zu bleiben.
Ehrlich gesagt bemerkte ich in dieser Zeit, dass ich vorher nie gross überlegt hatte, dass mein Vater einmal sterben könnte. Das hat mich recht beschäftigt.

Ich hatte bei seinem Sterben erneut ein Geschenk erhalten: Ich durfte bis kurz vor seinem Tod bei ihm sein. Seine Hand halten. Ein letztes Mal die Tochter meines Vaters sein, im Wissen, dass nachher keiner mehr da sein würde, der mich seit meiner Geburt gekannt hat.

Die Trauer um meinen Vater gestaltet sich kompliziert. Sie kommt in Schüben. Nebst der Erleichterung, dass sein Leiden beendet ist, kommen Momente der Erinnerung, des Verarbeitens gelebter gemeinsamer Momente. Nun weiss ich glücklicherweise, dass mein Vater nie gewollt hat, dass man (ich?) lange um ihn trauert. Das Leben ist jetzt. Wenn er jetzt noch leben würde, könnte ich ihm entgegnen, dass Trauer Leben in reinster Form ist. Aber wie ich ihn kenne, würde er dann wohl sagen: *“Da muesch du sälber wüsse, wa’d du machsch.“ Da hat er wohl recht.

*Du musst selber wissen, was du machst.

Schockstarre

Es ist schon sehr spannend für mich zu beobachten, wie es mir seit Papis Tod vor acht Wochen ergangen ist. Die ersten Tage und Wochen verbrachte ich in einer Art Schockstarre, wirklich Zeit zum Trauern nahm ich mir erst um den 21.12. herum. Ich war bereit für die Raunächte.

Hilfreich war mir als Begleitlektüre nebst „Aufbruch in den Raunächten“ auch „Zeit der Trauer“ von Verena Kast. Ein Satz hat mich sehr beschäftigt:

„…Hier wird sichtbar, wie sehr die Beziehung zwischen zwei Menschen eine gemeinsame Welt schafft, sodass das Erlebnis des Todes es mit sich bringt, dass auch dieses gemeinsame Erleben der Welt nicht mehr vorhanden ist. Ein Aspekt der Trauerarbeit wird also sein müssen, dass ein neues Verhältnis zur Welt geschaffen wird…“

Nun, meine Welt ist seit dem Tod meines Vaters eine andere. Ich bin mir bewusst, was ich verloren habe: meinen mir nächsten Menschen, einen guten Freund, einen liebenswerten und klugen Zeitgenossen, einen Menschen, der die Natur über alles geliebt und diese mir seit frühester Kindheit nahe gebracht hat.

Ich fahre schmunzelnd durch die Winterlandschaft, weil ich weiss, wie sehr er den Schnee gehasst hat. Papi und Schnee – das war keine Liebesgeschichte. Aber ich mag den Schnee, weil er so still und schön ist. Weil ich den blauen Toggenburger Himmel liebe.

Ich bin froh, haben wir die Urne meines Vaters und nicht seinen toten Körper in der Erde vergraben. Der Gedanke, dass er so in der Kälte in der Tiefe vergraben liegt, wäre für mich schwer auszuhalten. Er mochte die Wärme, die sommerliche Hitze sein ganzes, sportliches Leben lang. Nur am Ende, da mochte er sie nicht mehr.

Wenn ich morgens zur Arbeit fahre, denke ich oft an ihn. Nie hat er die Umfahrung Bütschwil erlebt. Er hätte sie bestimmt gemocht. Die Umfahrung Wattwil wird er nie sehen. Wie oft bin ich als Kind und Jugendliche mit ihm ins obere Toggenburg gefahren? Wie oft haben wir uns über den langen Fahrweg beklagt? (Ehrlich gesagt nie, denn wir hatten immer ein Gesprächsthema, worüber wir quatschen konnten).

Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir vor einigen Jahren über den Tod meines Bruders sprechen konnten. Mein Vater war damals schwer an Prostatakrebs erkrankt und fürchtete, dass er nicht mehr lange leben würde. Die Offenheit am Ende eines Lebens erachte ich als Weiterlebende als sehr heilsam. Sie ist mir aber auch immer ein Zeichen dafür, dass die Schranken fallen. Am Ende eines Lebens hat man nicht mehr viel zu verlieren. Man ist offen für Wahrheiten und das Niederreissen von Mauern und Tabus.

Ich hatte mich noch auf so viele Begegnungen gefreut. Ich wollte mit meinem Vater in den Wildpark Buchs fahren. Greifvögel aus nächster Nähe sehen. Mich mit ihm zusammen über die Schönheit der Natur freuen. Dass es nicht dazu kommt, macht mich sehr traurig, aber auch energisch. Ich will noch so vieles sehen und erleben und ihn in meinem Herzen mittragen.