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Heute bin ich beim Aufräumen im Haus (ja, ich bin noch immer dran!) auf einen Zeitungsartikel gestossen. Es ist ein Nachruf auf meinen Urgrossvater Johann Baptist Hüppi, den Vater meiner verstorbenen Omi Paula. Omi hat diesen Nachruf all die Jahre aufgehoben. Ich bin ihr dafür sehr dankbar.

Johann Baptist Hüppi-Schönenberger zum Gedenken

Nach langem Leidenslager trat der Erlöser ans Krankenbett von Johann Baptist Hüppi-Schönenberger, wohnhaft gewesen in der oberen Mühle, an der Hofbergstrasse. Während langen Wochen musste man um sein Leben bangen, und nun ist er vom Tod ins Land der Vergeltung entführt worden. Der liebe Verstorbene wurde am 13. Mai 1894 in Diemberg bei Eschenbach als Kind der Eltern Anton Alois Hüppi und der Luise geb. Kuster geboren. Schon früh wurde ihm der Vater durch Unglücksfall entrissen, und als erst Sechsjähriger verlor er auch seine gute Mutter. Seiner Eltern beraubt, wurde der Knabe von guten Pflegeeltern in Schümberg-Ricken aufgenommen.
Als Schulentlassener absolvierter er eine Elektriker-Lehre und fand in Ebnat einen guten Lehrmeister. Er übte seinen Beruf als Freileitungsmonteur aus und es zog ihn dann hinaus in die weite Welt. Nach Hause zurückgekehrt, fand er bald einen ihm zusagenden Verdienst. In der Sehnsucht nach einem geborgenen Heim heiratete er Fräulein Berta Schönenberger aus Münchwilen, die ihm drei Töchter und zwei Söhne schenkte, denen er seine ganze Liebe und Sorge entgegenbrachte. Die Kinder hingen stets an ihrem Vater, dies um so mehr, als er im Jahre 1940 einen schweren Unfall erlitten hatte. Er schien von seinem Schicksalsschlag etwas genesen, doch mit der Zeit erwies es sich, dass Vater Hüppi doch ein Invalider geworden war. Diese Sorge bedrückte die Familie, und Mutter Hüppi erhielt dadurch eine zusätzliche Last zu tragen.
In den letzten Jahren machten ihm gesundheitliche Störungen sehr zu schaffen, und im vergangenen Dezember erlitt er eine Hirnblutung, von der er sich nicht mehr erholen sollte. Mit sorgsamer Pflege wurde der Bewusstlose von den Seinen umgeben und von seinen Kindern regelmässig besucht. Nun ht der Tod dem Schicksal ein Ende bereitet und den Gatten und Vater aus dieser Welt genommen, um ihn ins Land der Vergeltung zu geleiten. Vater Hüppi lebe im Frieden des Herren. Den werten Angehörigen sprechen wir unsere herzliche Anteilnahme aus. bt.

Ich muss über diesen Nachruf nachdenken, denn er berührt mich auf mehreren Ebenen.

Wiederholungstäterin

Die gute Nachricht eine Woche nach dem Unfall ist, dass ich offenbar kein Schleudertrauma erlitten habe. Ich bin arbeitsfähig und guter Dinge. Dennoch stelle ich fest, dass beim Aufprall meine empfindlichste Stelle getroffen wurde: meine Hüften. Ich bin noch immer verkrampft und mein rechtes Hüftgelenk schmerzt.

Ich kam mit einer beidseitigen Hüftdysplasie auf die Welt. Das ist mühsam. Ich hatte Mühe mit Laufen, Gelenkschmerzen, und einen sehr seltsamen Gang. Dann, mit acht Jahren, wurde die HD effektiv diagnostiziert. Wöchentliche Physiotherapiesitzungen folgten und waren der Grund, warum ich Biologie mehr oder weniger verpasst habe in der Schule. Die Physio war anstrengend und sehr schmerzhaft. Mehr als einmal hab ich geweint. Omi Paula hat mich oft ins Spital Frauenfeld begleitet, wo die Sitzungen stattfanden. Sie hat gesagt: „Du schaffst das schon. Verzweifle nicht. Der Herrgott wird wohl einen Grund gehabt haben, warum du solche Beine hast.“

Als ich neun war, wurde meine rechte Hüfte operiert, ein Metallstück eingesetzt. 1986 waren die Narkosen beileibe nicht das, was sie heute sind. Es erscheint mir heute noch albtraumhaft, wenn ich an diese Wochen im Spital denke. Von einem Tag auf den anderen war ich behindert. Mein Bein war zerschnitten, aus den riesigen Wunden hingen rote Schläuche mit Glasflaschen heraus. Die Schmerzen waren unerträglich. An meinen Fersen entstand ein Dekubitus. Das erste Mal auf dem Bein abstehen war eine Qual.

Nach zwei Wochen, die Frühlingsferien im Spital machten besonders Spass, kommt man wieder raus und geht zur Schule. Ich weiss nicht, wie es heute ist, aber damals waren Krücken eine Provokation. Vielleicht wäre es weniger schlimm gewesen, wenn ich ein Bein im mondänen Skiurlaub gebrochen hätte. Aber so?

Während ich mich mit meinen Krücken und meinem schmerzenden Bein abmühte, beschloss mein schulisches Umfeld, besonders die Lehrer, mich um jeden Preis zu motivieren. Mehr als einmal habe ich gehört, ich dürfte mich nie gehen lassen. Ich müsste ein Vorbild sein.

Ich? Für wen denn? Für meine Mitschüler, die allesamt mit perfekten, gesunden Hüften auf die Welt gekommen waren? Hatte man Angst, meine Schmerzen wären ansteckend? Dass die halbe Schule nach Kontakt mit mir eine Hüftdysplasie bekäme?

Es verstörte mich.
Nach einer solchen OP funktioniert der Körper mit einem Mal anders. Ich hatte ein Gefühl für Schmerz gewonnen. Ich wusste, was ich meinem Körper zumuten mochte und was nicht. Das ist so wertvoll, dass ich dafür wirklich dankbar bin.

Einige Monate später erfolgte die zweite Operation. Wieder verbrachte ich Wochen im Spital, lernte mühsam zu laufen. Aufgrund einer Wundheilungsstörung wurde auch die Narbe am linken Bein gross und wulstig.

Dann ein halbes Jahr später wurde ich erneut operiert. Man entnahm mir die Metallstücke in meinen Beinen wieder. Nun konnte ich fast gar nicht mehr laufen, bzw. musste es von neuem lernen.

Ich empfand es irgendwie als Demütigung. Mein Körper war mir verhasst, weil ich nicht mit anderen meines Alters mithalten konnte. Die „Motivationssprüche“ meines Umfelds wurden nicht weniger. „Lass dich nicht gehen!“, „sei ein Vorbild für die anderen!“ hallen noch heute in meinem Kopf wider.

Turnen war für mich eine einzige Qual. Ich, die ich mich so gerne bewegt hatte, begann es zu hassen. Ich konnte nicht mehr schnell rennen. Nein. Ich konnte gar nicht mehr rennen! Mein Gleichgewichtsgefühl war gleich null. Die Angst, hinzufallen, mich zu verletzen, war gross.

Einen Lehrer hat es nicht davon abgehalten, mir alles abzuverlangen. Auf einem Barren balancieren. Alle anderen tun es, du also auch. Und so tat ich es und stürzte, denn meine Beine sind weiss Gott nicht für solchen Blödsinn gemacht.

Die Erfahrung aus der Schulzeit hat mich stark geprägt. Ich fühle mich nicht wohl in dieser sportlichen Leistungsgesellschaft, weil ich schon als Kind gemerkt hab, dass ich da nicht mithalten kann. Ich war nicht neidisch, denn ich wusste ja, warum das so ist.

Dennoch kostet es mich heute noch Mut zu sagen: „Da mach ich nicht mit!“

Ferienende

Nach einer Woche Ferien wollte ich heute morgen wieder zur Arbeit fahren. Ich hab mich drauf gefreut, meine Kolleginnen und meine betreuten Menschen wieder zu sehen. Frühschicht war angesagt.

Und so fahre ich im halbdichten Thurgauer Nebel von Mettendorf in Richtung Eschikofen. Ich habe keine Angst, im Nebel zu fahren. Diese Jahreszeit ist die gefährlichste, noch gefährlicher als der Winter. Man kann nicht schnell fahren, weil man nichts sieht, und immer damit rechnen muss, dass plötzlich ein nicht beleuchteter Rübentraktor vor einem auftaucht.

Die Strecke ist topfeben. Man fährt mehrere Kilometer geradeaus, mitten durch ein Wildwechselgebiet. 80er Zone. An Samstagabenden finden hier auch schon mal Rennen statt. Ich fahre langsam, werde angehupt von Fahrern (Männern), die es offenbar eilig haben.

Und dann passiert es. Das, wovor ich immer Angst hatte: Ein Reh taucht vor meinem Auto auf. Es schaut mich an. Die Zeit geht mit einem Mal langsamer. Es gibt einen schrecklichen Knall. Ich sehe, wie sein Bauch aufreisst, die Gedärme rausquellen und es ins Gras an der Strasse fliegt. Ich hatte vielleicht 50 drauf. Das Auto steht still. Pannenblinker an. An den Rand fahren. Es ist ruhig, mitten in der Pampa.

Ich sitze da und merke, wie mein Magen sich entleeren will. Ich schlucke herunter. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich drehe das Fenster runter. Alles ist still um mich herum. Nehme das Handy, rufe die Polizei an. Das Reh ist tot. Zum Glück. Es liegt vor mir. Ich sage meinen Namen. Meine Adresse. Ich werde angehupt, angeleuchtet. Aus einem fahrenden Auto heraus beschimpft. Ich melde mich von der Arbeit ab. So kann ich nichts machen. Ein Rollerfahrer hält an. Er fragt mich, wies mir geht. Ich zeige auf den Fleischhaufen im Gras. Er fährt weiter.

Ist alles in Ordnung? Ich rede laut mit mir selber. Schock nennt man das wohl. Ich hab nichts angeschlagen. Das Tier vor mir bewegt sich nicht mehr. Ich wage nicht, auszusteigen. Die Autos rasen an mir vorbei. Ich bin zittrig. Dann kommt der Wildhüter.

Ich verspüre den Wunsch, jetzt einfach umarmt zu werden. Stattdessen suche ich meinen Fahrausweis. Finde nichts mehr. Dann schauen wir uns den Schaden an. Der Grill ist eingedrückt. Als ich vor dem Auto stehe, treten mir die Tränen ins Gesicht. Mir wird mit einem Mal bewusst, wie viel Glück ich hatte. Wäre ich schneller gefahren, dann hätte noch Schlimmeres passieren können. Ich weine. Nicht um das Auto. Es ist so unwichtig. Der Wildhüter tätschelt meine Schulter. Alles in Ordnung. Ihnen ist nichts passiert. Das Tier musste nicht leiden.

Haare des Tiers kleben am Auto.
Protokoll kommt noch. Kann ich noch fahren?
Ich ziehe meine Helly-Hansen-Jacke an. Ich friere.
Der Wildhüter beginnt damit, den Körper des Tiers in seinen Wagen zu hieven.

Zuhause rufe ich meine Garage an. Witzig, denke ich, eigentlich wollte ich ja die Winterpneus drauftun lassen. Und jetzt das. Ich kann gleich vorbei kommen.
Dann wird mir vollends übel und ich übergebe mich. Mein Kopf ist ganz heiss und meine Augen rot. Ich kriege keinen Satz mehr grade raus. Es ist gerade mal sieben Uhr morgens.

Beschliesse meinen Vater anzurufen, für alle Fälle. Wenn ich nicht mehr fahren könnte. Sag ich. In Wirklichkeit will ich ihn jetzt einfach in der Nähe haben. So fahren mein Vater, Sascha und ich zur Garage und wieder nach Hause.

Ich lege mich hin. Fühle mich wie zerschlagen. Muskelkater. Kopfweh. Mein Nacken tut weh. Sogar meine Zähne schmerzen. Ich bin froh, dass ich mit Omi Paula nicht mehr telephonieren kann, denn sie würde sich furchtbar über diesen Unfall aufregen. Sie würde alle ihre Heiligen anrufen und mir hundertmal sagen, ich hätte einen Schutzengel gehabt. Irgendwie hat sie recht.

Schlechtes Gewissen meets Zora die Schreckliche

Heute vormittag stieg mein Handy aus.
Nichts schlimmes, mag man denken. Doch ich war danach geschockt.

Als das Ding wieder funktioniert, staune ich nicht schlecht.
Ich habe eine Sprachnachricht des Pflegeheims von Paula drauf.
Mir zittern die Knie, als ich sie abhöre.

Eine sehr nette Stimme informiert mich, dass Paula heute nacht aus dem Bett gefallen ist und sich verletzt hat. Mit Verdacht auf eine Bruchverletzung wurde sie ins Spital eingeliefert.

Mir laufen die Tränen aus den Augen.
Mit einem Mal fühle ich mich zurück versetzt in die Zeit vor sechs Jahren,
als man mich darüber informierte, dass meine Mutter todkrank im Spital liegt.

Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Stehe unter Schock.
Will alles hinwerfen, zu ihr fahren.
Dann wird mir klar, dass das jetzt nichts bringt.
Ich rufe im Heim an und die Pflegende erzählt mir, was passiert ist.
Ich danke ihr für alles.

Ich arbeite weiter, weil es heute viel zu tun gibt.
Als ich Feierabend mache, fahre ich nach Hause. Ich halte auf der geraden Strecke an und atme durch. Wieder weine ich.
Ich denke nach.

Ich bin erleichtert, dass dieser Unfall nicht in Paulas Haus passiert ist, wo sie stundenlang liegen geblieben wäre. Mein allergrösster Alptraum seit Jahren ist wahr geworden, aber er hat seine Schrecklichkeit verloren. Paula ist in guten Händen.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich seit einem Monat nicht bei ihr war, weil ich immer gearbeitet habe oder ihr Haus aufgeräumt habe. Ich fühle mich schrecklich.

Als ich am Abend wieder anrufe, ist Paula bereits wieder im Heim. Ich hoffe so sehr, dass sie da bleiben kann. Bis zum Ende ihres Lebens. Die nächsten drei Wochen werden schwierig. Sie ist schwer pflegebedürftig. Das wird meiner Paula nicht passen.