Wiederholungstäterin

Die gute Nachricht eine Woche nach dem Unfall ist, dass ich offenbar kein Schleudertrauma erlitten habe. Ich bin arbeitsfähig und guter Dinge. Dennoch stelle ich fest, dass beim Aufprall meine empfindlichste Stelle getroffen wurde: meine Hüften. Ich bin noch immer verkrampft und mein rechtes Hüftgelenk schmerzt.

Ich kam mit einer beidseitigen Hüftdysplasie auf die Welt. Das ist mühsam. Ich hatte Mühe mit Laufen, Gelenkschmerzen, und einen sehr seltsamen Gang. Dann, mit acht Jahren, wurde die HD effektiv diagnostiziert. Wöchentliche Physiotherapiesitzungen folgten und waren der Grund, warum ich Biologie mehr oder weniger verpasst habe in der Schule. Die Physio war anstrengend und sehr schmerzhaft. Mehr als einmal hab ich geweint. Omi Paula hat mich oft ins Spital Frauenfeld begleitet, wo die Sitzungen stattfanden. Sie hat gesagt: „Du schaffst das schon. Verzweifle nicht. Der Herrgott wird wohl einen Grund gehabt haben, warum du solche Beine hast.“

Als ich neun war, wurde meine rechte Hüfte operiert, ein Metallstück eingesetzt. 1986 waren die Narkosen beileibe nicht das, was sie heute sind. Es erscheint mir heute noch albtraumhaft, wenn ich an diese Wochen im Spital denke. Von einem Tag auf den anderen war ich behindert. Mein Bein war zerschnitten, aus den riesigen Wunden hingen rote Schläuche mit Glasflaschen heraus. Die Schmerzen waren unerträglich. An meinen Fersen entstand ein Dekubitus. Das erste Mal auf dem Bein abstehen war eine Qual.

Nach zwei Wochen, die Frühlingsferien im Spital machten besonders Spass, kommt man wieder raus und geht zur Schule. Ich weiss nicht, wie es heute ist, aber damals waren Krücken eine Provokation. Vielleicht wäre es weniger schlimm gewesen, wenn ich ein Bein im mondänen Skiurlaub gebrochen hätte. Aber so?

Während ich mich mit meinen Krücken und meinem schmerzenden Bein abmühte, beschloss mein schulisches Umfeld, besonders die Lehrer, mich um jeden Preis zu motivieren. Mehr als einmal habe ich gehört, ich dürfte mich nie gehen lassen. Ich müsste ein Vorbild sein.

Ich? Für wen denn? Für meine Mitschüler, die allesamt mit perfekten, gesunden Hüften auf die Welt gekommen waren? Hatte man Angst, meine Schmerzen wären ansteckend? Dass die halbe Schule nach Kontakt mit mir eine Hüftdysplasie bekäme?

Es verstörte mich.
Nach einer solchen OP funktioniert der Körper mit einem Mal anders. Ich hatte ein Gefühl für Schmerz gewonnen. Ich wusste, was ich meinem Körper zumuten mochte und was nicht. Das ist so wertvoll, dass ich dafür wirklich dankbar bin.

Einige Monate später erfolgte die zweite Operation. Wieder verbrachte ich Wochen im Spital, lernte mühsam zu laufen. Aufgrund einer Wundheilungsstörung wurde auch die Narbe am linken Bein gross und wulstig.

Dann ein halbes Jahr später wurde ich erneut operiert. Man entnahm mir die Metallstücke in meinen Beinen wieder. Nun konnte ich fast gar nicht mehr laufen, bzw. musste es von neuem lernen.

Ich empfand es irgendwie als Demütigung. Mein Körper war mir verhasst, weil ich nicht mit anderen meines Alters mithalten konnte. Die „Motivationssprüche“ meines Umfelds wurden nicht weniger. „Lass dich nicht gehen!“, „sei ein Vorbild für die anderen!“ hallen noch heute in meinem Kopf wider.

Turnen war für mich eine einzige Qual. Ich, die ich mich so gerne bewegt hatte, begann es zu hassen. Ich konnte nicht mehr schnell rennen. Nein. Ich konnte gar nicht mehr rennen! Mein Gleichgewichtsgefühl war gleich null. Die Angst, hinzufallen, mich zu verletzen, war gross.

Einen Lehrer hat es nicht davon abgehalten, mir alles abzuverlangen. Auf einem Barren balancieren. Alle anderen tun es, du also auch. Und so tat ich es und stürzte, denn meine Beine sind weiss Gott nicht für solchen Blödsinn gemacht.

Die Erfahrung aus der Schulzeit hat mich stark geprägt. Ich fühle mich nicht wohl in dieser sportlichen Leistungsgesellschaft, weil ich schon als Kind gemerkt hab, dass ich da nicht mithalten kann. Ich war nicht neidisch, denn ich wusste ja, warum das so ist.

Dennoch kostet es mich heute noch Mut zu sagen: „Da mach ich nicht mit!“

4 Gedanken zu “Wiederholungstäterin

  1. oh, was für ein alptraum! sowas prägt.
    was die sportliche leistungsgesellschaft angeht, gehts mir gleich – auch ohne hüftprobleme.

    ich hoffe, deine aktuellem schmerzen sind bald nur noch eine erinnerung -oder noch nicht mal das.

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  2. Ich kann ein wenig nachfühlen und verweigere mich selbst auch der „sportlichen Leistungsgesellschaft“, überall Wettbewerbe. Ich hoffe dennoch, dass Du Dich für Dich selbst immer noch gern bewegst und bewegen kannst. Denn das hatte ich lange für mich verloren und vor einigen Jahren habe ich es wieder entdeckt und festgestellt, wie schön es ist, mich zu bewegen – nur für mich selbst, nicht für irgendwelche Leistungen, schon gar nicht im Vergleich mit anderen. Und, wenn Du es für Dich mit Einfühlung in Deinen Körper mit seinen besonderen Anforderungen tust, dann tut es gut.

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  3. oh, keine Sorge! ich liebe Bewegung: Schwimmen, Langlaufen, Wiese mähen, wandern. Ich tus nur einfach in meinem Tempo. Ich mag mich nicht (mehr) mit anderen Menschen messen.

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  4. Schön, genau so geht es mir auch, das eigene Tempo, der eigene Rhythmus. Das Sich-Messen und Vergleichen hat man ausreichend im Alltag, wo man nicht alles selbst gestalten kann.

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