Ein amtlicher Brief ins Jenseits

Einige Tage vor ihrem Tod musste meine Mutter einen Antrag auf IV unterschreiben. Die Dame vom Sozialamt bestand darauf.
Ich war dagegen, bekam aber den Auftrag, meine Mutter unterschreiben zu lassen.

Ganz im Ernst, wenn jemand im Sterben liegt, dann ist doch wohl ein Antrag auf Invaliditätsrente ein schlechter Witz. Meine Mutter fragte mich damals, ob ich sie verarschen will, als ich ihr das Formular unter die Nase hielt. Sie sass auf ihrem Bett im Pflegeheim, im Hintergrund dudelte die Mittelwelle und auf ihren Knien lagen fast fertig gestrickte Babysöckli.

„Die waren eigentlich für meinen Enkel gedacht“, sagte sie und blickte mich nicht unfreundlich an. Ich konnte nichts darauf entgegnen. Sie unterschrieb kopfschüttelnd den Wisch. Ihre einstmals kurvige, grosse Unterschrift war krakelig und unlesbar geworden.

Ich musste das Formular an die Dame vom Sozialamt zurückschicken. Und dann, nachdem meine Mutter gestorben war, vergass ich es.

Einige Wochen nach der Beerdigung erhielt ich Post. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau informierte mich im Brief darüber, dass meine Schwester am 17. Oktober 2007 verstorben war. Man liess mich ebenfalls wissen, dass am 10. November 2007 die gesetzliche Wartefrist verstrichen wäre und sie nun eine Invalidenrente bekäme. Doch da die betreffende Person, nämlich meine Mutter, verstorben war, hätte sie keinen Anspruch auf Rente.

Bis zu diesem Zeitpunkt hielt ich den Brief für einen schlechten Witz.

Doch es kam noch besser: Man informierte mich, dass, wenn nach Ablauf eines erneuten Jahres eine rentenbegründende Erwerbsunfähigkeit bestünde, meine Mutter sich natürlich wieder beim Amt melden könnte.

Ich schob den Brief weg, denn es tat mir zu sehr weh. Bestimmt wäre mein erster Gedanke, wenn meine Mutter wider Erwarten wieder lebendig geworden wäre, nicht ein Antrag auf eine IV-Rente gewesen.

Drei Monate später erhielt ich erneut einen Brief. Man informierte mich nun darüber, dass meine Schwester, also eigentlich Mutter, noch immer tot war und die Verfügung, deswegen keine IV-Rente zu bekommen, nun in Kraft war. Dann setzte man mich in Kenntnis, wenn sich ihr Zustand verändern würde, sie natürlich jederzeit wieder einen Antrag stellen dürfte.

Ich schrieb mehrere Monate später, nachdem ich mich einigermassen gefangen hatte und sicher sein konnte, keine Fluchwörter zu verwenden, einen Brief an den Herrn vom Amt. Er schrieb mir sogar zurück und entschuldigte sich, was mich doch sehr gewundert hat.

5 Gedanken zu “Ein amtlicher Brief ins Jenseits

  1. Das »gefällt mir« bezieht sich nicht auf die Situation, sondern weil ich genau dasselbe in Deutschland erlebt hatte. Irgendwann konnte ich nur noch mit Sarkasmus auf die Schreiben von Behörden und Dienstleistern reagieren. »Ihre Frau ist dann und dann verstorben. Falls sich ihr Gesundheitszustand ändert, bitten wir Sie, ein neues Gesuch einzureichen.« Ich dachte zuerst, die wollten mich verarschen. Aber nach bösen Briefen gab’s zumindest Entschuldigungen.

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  2. Lebst Du zufällig in Seldwyla?
    Eine Bekannte von mir musste ihre Tochter tot gebären. Irgend jemand im Spital hat bei der Geburtsmeldung Mist gebaut und seither bekommt meine Bekannte jährlich zum Geburstag ihrer Tochter Post von zig Werbefuzzis 😦

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  3. nein. nicht Seldwyla. Thurgau halt. Aber nach dem Tod meines Bruders kriegte meine Familie auch Anrufe von Versicherungsfuzzis, die eine Lebensversicherung aufschwätzen wollten… Fuck them.

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  4. 6 Wochen nach dem Tod meines Vaters, der in den 6 Tagen nach seinem Schlaganfall überhaupt nicht ansprechbar war, bekamen wir Post von der Logopädie! Weitere 4 Wochen nochmals. Ich konnte nicht mehr an mich halten und habe dort sehr erbost angerufen und nachgefragt, ob das KH denn nicht den Tod weitergemeldet hatte. Zumal dieser Logopäde niemals bei meinem Vater gewesen war.

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