Ferienende

Nach einer Woche Ferien wollte ich heute morgen wieder zur Arbeit fahren. Ich hab mich drauf gefreut, meine Kolleginnen und meine betreuten Menschen wieder zu sehen. Frühschicht war angesagt.

Und so fahre ich im halbdichten Thurgauer Nebel von Mettendorf in Richtung Eschikofen. Ich habe keine Angst, im Nebel zu fahren. Diese Jahreszeit ist die gefährlichste, noch gefährlicher als der Winter. Man kann nicht schnell fahren, weil man nichts sieht, und immer damit rechnen muss, dass plötzlich ein nicht beleuchteter Rübentraktor vor einem auftaucht.

Die Strecke ist topfeben. Man fährt mehrere Kilometer geradeaus, mitten durch ein Wildwechselgebiet. 80er Zone. An Samstagabenden finden hier auch schon mal Rennen statt. Ich fahre langsam, werde angehupt von Fahrern (Männern), die es offenbar eilig haben.

Und dann passiert es. Das, wovor ich immer Angst hatte: Ein Reh taucht vor meinem Auto auf. Es schaut mich an. Die Zeit geht mit einem Mal langsamer. Es gibt einen schrecklichen Knall. Ich sehe, wie sein Bauch aufreisst, die Gedärme rausquellen und es ins Gras an der Strasse fliegt. Ich hatte vielleicht 50 drauf. Das Auto steht still. Pannenblinker an. An den Rand fahren. Es ist ruhig, mitten in der Pampa.

Ich sitze da und merke, wie mein Magen sich entleeren will. Ich schlucke herunter. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich drehe das Fenster runter. Alles ist still um mich herum. Nehme das Handy, rufe die Polizei an. Das Reh ist tot. Zum Glück. Es liegt vor mir. Ich sage meinen Namen. Meine Adresse. Ich werde angehupt, angeleuchtet. Aus einem fahrenden Auto heraus beschimpft. Ich melde mich von der Arbeit ab. So kann ich nichts machen. Ein Rollerfahrer hält an. Er fragt mich, wies mir geht. Ich zeige auf den Fleischhaufen im Gras. Er fährt weiter.

Ist alles in Ordnung? Ich rede laut mit mir selber. Schock nennt man das wohl. Ich hab nichts angeschlagen. Das Tier vor mir bewegt sich nicht mehr. Ich wage nicht, auszusteigen. Die Autos rasen an mir vorbei. Ich bin zittrig. Dann kommt der Wildhüter.

Ich verspüre den Wunsch, jetzt einfach umarmt zu werden. Stattdessen suche ich meinen Fahrausweis. Finde nichts mehr. Dann schauen wir uns den Schaden an. Der Grill ist eingedrückt. Als ich vor dem Auto stehe, treten mir die Tränen ins Gesicht. Mir wird mit einem Mal bewusst, wie viel Glück ich hatte. Wäre ich schneller gefahren, dann hätte noch Schlimmeres passieren können. Ich weine. Nicht um das Auto. Es ist so unwichtig. Der Wildhüter tätschelt meine Schulter. Alles in Ordnung. Ihnen ist nichts passiert. Das Tier musste nicht leiden.

Haare des Tiers kleben am Auto.
Protokoll kommt noch. Kann ich noch fahren?
Ich ziehe meine Helly-Hansen-Jacke an. Ich friere.
Der Wildhüter beginnt damit, den Körper des Tiers in seinen Wagen zu hieven.

Zuhause rufe ich meine Garage an. Witzig, denke ich, eigentlich wollte ich ja die Winterpneus drauftun lassen. Und jetzt das. Ich kann gleich vorbei kommen.
Dann wird mir vollends übel und ich übergebe mich. Mein Kopf ist ganz heiss und meine Augen rot. Ich kriege keinen Satz mehr grade raus. Es ist gerade mal sieben Uhr morgens.

Beschliesse meinen Vater anzurufen, für alle Fälle. Wenn ich nicht mehr fahren könnte. Sag ich. In Wirklichkeit will ich ihn jetzt einfach in der Nähe haben. So fahren mein Vater, Sascha und ich zur Garage und wieder nach Hause.

Ich lege mich hin. Fühle mich wie zerschlagen. Muskelkater. Kopfweh. Mein Nacken tut weh. Sogar meine Zähne schmerzen. Ich bin froh, dass ich mit Omi Paula nicht mehr telephonieren kann, denn sie würde sich furchtbar über diesen Unfall aufregen. Sie würde alle ihre Heiligen anrufen und mir hundertmal sagen, ich hätte einen Schutzengel gehabt. Irgendwie hat sie recht.

Vom Sterben auf eigene Kosten

Gibt es ein Recht auf den selbstbestimmten Tod?

Ich war schon als Kind irritiert von dem Gedanken, dass sich jemand einfach umbringt. Eine Schulfreundin von mir fand ihren Vater tot vor. Ich empfand dies als furchtbar gemein.

Jahre später brachte sich mein Kindergartenschatz um. Er wurde von einem Zug überrollt. Ich habe es nie verstanden. Es war für mich ganz und gar undenkbar, dass er, ausgerechnet er, sich so tötet.

Bis dahin empfand ich Suizid einfach als eigene Entscheidung. Niemand oder nur wenige waren in meinen Augen davon betroffen. Ich machte mir wenig Gedanken darüber.

In der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember 2006 wurde ich Zeugin eines Suizids. Während ich an der Seite meines damaligen Freundes und seiner Tochter über den Seedamm fuhr, stürzte sich vor meinen Augen ein Unbekannter von der Brücke in den See.

Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühlte. Ich wurde ganz kalt. Mir war klar, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Wir riefen die Polizei an. Ich musste den Mann beschreiben und später nochmals an die Stelle gehen, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte.

Sie suchten mit Booten nach ihm. Das Licht der Lampen liess Fische springen. Es war ein ganz seltsames Schauspiel in jener kalten Nacht. Die Fische sprangen munter herum, während irgendwo der Leichnam eines Mannes im Wasser trieb. Der Wind peitschte mir ins Gesicht. Den Rest der Nacht konnte ich nicht mehr schlafen. Auch später konnte ich nur noch mit Mühe in jenen Teil des Zürichsees springen. Der Gedanke an die Leiche, die nirgends mehr auftauchte, liess mich nicht los.

Es machte mich wütend, dass ich, ausgerechnet ich, Zeugin wurde. Ich wollte das nicht. Es hat mich nicht traumatisiert, denn ich musste seinen Körper ja nicht aus dem Wasser ziehen und anschauen. Dennoch fand ich es ungerecht.

Als meine Mutter fast ein Jahr später starb, war ich dankbar, dass sie keine Hilfe zum Sterben beanspruchte. Der Gedanke, dass meine Mutter mithilfe eines Medis in einem Auto auf einem verlassenen Parkplatz hätte sterben wollen, wäre unerträglich gewesen. Ich war dankbar für die Art und Weise wie sie starb.

Der Tod eines guten Freundes berührte mich. Er hatte sich ebenfalls umgebracht. Ich blieb mit lauter Fragen zurück. Ich versuche zu verdrängen, dass er nicht mehr da ist, denn sonst würde es mich verrückt machen. Ich versuche an die schönen Zeiten zu denken und wie sehr ich sein Lachen und seine lieben Augen gemocht habe.

Zum Thema Sterbehilfe stehe ich nach wie vor offen. Ich finde, es ist eine Entscheidung, die jeder selber trifft und treffen muss. Dennoch wünsche ich mir Bedingungen für Menschen, seien es schmerzlindernde Medikamente am Ende eines Lebens, eine gute Betreuung im Alter und Unterstützung im Umfeld. All dies kann man nicht gesetzlich regeln. Es liegt uns allen, dass wir mit offenen Augen und Herzen durchs Leben gehen.