Hirschtränke

In ein paar Wochen wird das Grab meiner Mutter Ursula Debrunner aufgelöst. Sie ist 2007 gestorben, damals war ich gerade mal 30 Jahre alt. Nun gilt es nach einer Lösung für ihren Grabstein zu suchen. Ihr Grabstein war mir all die Jahre tatsächlich Trost. Der Bildhauer hat seine eigene Hand in den Rheinstein gehauen als Zeichen dafür, dass über meiner Mutter immer eine beschützende Hand ruht.

Mein Nachname Debrunner bedeutet „Hirschbrunnen“ oder Hirschtränke. Der Hirsch ist quasi Teil unserer DNA. Mein Vater ist jetzt bald 3 Jahre tot. Er stammte aus Wetzikon TG, einem Ort mit vielen Wäldern und gefühlt grosser Dunkelheit.

Im Sommer 2023 traf ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einen Hirsch. Für mich war das eine der schönsten Begegnungen in meinem Leben.

Ich wurde nur auf den Hirsch aufmerksam, weil ich während der Jagd das Schrecken eines Rehs hörte und das über längere Zeit. Ich bewegte schliesslich mich langsam in dem Gelände fort, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde und weil ich unbedingt wissen wollte, was da los war.

Als erstes erblickte ich die Rehgeiss, die laut und klar mitten auf der Wiese ihren Unwillen klar tat, dass da ein Hirsch stand. Sie bellte ihn an. Er liess sich nicht davon stören. Ich sah ihn und mir stiegen die Tränen in die Augen. Er war wunderschön, stolz und gross. Er stand einfach da und äste, blickte mich und wieder an und liess sich nicht von mir oder irgendwem stören. Ich hatte bis anhin noch nie ein derart grosses Tier in freier Wildbahn gesehen. Ich setzte mich auf jene Wiese über der Stadt hin. Ich kostete jeden Augenblick unserer Begegnung aus. Irgendwann wurde es dunkel und er zog sich zurück in den Schutz des Waldes und ich ging meines Weges.

Was bleibt ist die Erinnerung an jenes wundersame Tier, ein paar Fotos und mein Gefühl, wie wunderbar behütet ich mich fühlte, wie sehr ich ein Teil der Natur war, wie tröstend diese Begegnung war.

Das Debrunner-Dilemma

Am Freitag ist es soweit. Wir ziehen weg von hier. Doch vorher müssen wir noch den Estrich sortieren und entscheiden, was mitkommt.

Ich weiss genau, was ich ins Haus mitnehmen will und was nicht. Mein alter Kinder-Kleiderschrank geht ins Sperrgut, ebenso das Sofa. Mein Barbie-Haus ist abbruchreif. Müll. Der Christbaumschmuck kommt mit. Meine Autöli-Sammlung auch. Die Kommode bleibt hier. Meine Spick-Sammlung verschenke ich.

Aber da ist mein pièce de résistance: Eine Kiste voller Gegenstände meiner Schwester.

Es ist nämlich so, dass ich diese Kiste damals mitgezügelt habe, als mein Vater und seine Frau aus ihrem Haus in eine Wohnung umzogen. Ich wollte die Kiste für meine Schwester retten. Doch seither ist recht viel Geschirr zwischen uns zerbrochen.

Ich habe Lust, ihre dämlichen Take-That-Kassetten, mit denen sie mich 1994 genervt hat, wenn ich in Ruhe Gedichte lesen wollte, zu zerdeppern. Ihre Schulsachen, ihren Nippes, alles aus dem Fenster schmeissen, darauf hab ich Lust.

Ich muss daran denken, dass meine Schwester den Schwanz eingezogen hat, als unsere Mutter starb. Sie hat mich im Stich gelassen, als es ums Pflegen, die Sterbebegleitung, die Auswahl des Grabes und die Bezahlung des Grabsteins ging. Das war ihr alles scheissegal. Sie hat einfach ihr Handy ausgeschaltet. Tant pis! Aber als es einige Jahre nach dem Tod der Mutter unerwarteterweise ein wenig Geld zu erben gab, da war meine Schwester plötzlich wieder da. Sie wusste meine Telefonnummer und meldete sich wieder, als wäre nie etwas passiert.

Die Wunden sind nicht verheilt. Beim Hauskauf wurden meine Narben jäh wieder aufgerissen. Plötzlich brauchte es auch von ihr Zustimmung, dass ich Omas Haus kaufen darf, beziehungsweise die Bestätigung, dass sie es nicht kaufen will. All die Jahre hat es sie nicht interessiert, wie es Omi geht. Ich finde es unfair von meiner Schwester. Vielleicht will ich deshalb ihren ganzen Kasumpel nicht im Haus haben.

Ich muss mich entscheiden: verzeihe ich und schleppe einmal mehr den Ballast eines anderen Menschen mit, der dies wohl gar nicht zu schätzen weiss, oder befreie ich mich von der Vergangenheit und werfe alles von ihr weg. Schwierige Frage.

Mein Name und der September

Mir geht in diesen Tagen viel durch den Kopf. Ich bin müde. Es zehrt an meinen Kräften. Der September ist nicht mein Monat. Selbstmordmonat. Das Leiden meiner Mutter steckt mir in den Gliedern. Die bunten Farben der Jahreszeit trügen noch immer.

Heute war einer dieser wunderbaren Spätsommertage. Es ist warm. Ich sitze an einem See, der so blau ist wie die Augen meines Grossvaters. Noch sind die Wiesen grün, doch die Blätter der Bäume verfärben sich bereits.

Die Menschen wirken glücklich. Der See ist warm. Ich bade, spüre das Wasser auf meiner Haut. Weit hinten sehe ich die Berge und irgendwo dazwischen steht mein Haus und wartet auf mich.

Ich hatte vor einigen Tagen eine Art Abszess am Hals. Mit einem Mal kamen mir all jene Gefühle wieder hoch, die ich längst vergessen, oder zumindest gut verstaut, glaubte: Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Wenn mein Körper aus irgendeinem Grund aufgibt?

Das Laufen habe ich zwei Mal gelernt. Das zweite Mal tat mehr weh. Eine Frau zu werden war auch nicht leicht. Jetzt zu verstummen ist mein Albtraum.

Manchmal denke ich an meine Mutter und die Art, wie sie meinen Namen gesagt hat. Sie wird ihn nie wieder sagen. Auch Oma kennt ihn nicht mehr. Für sie bin ich meine Mutter, ihre Schwester, ihre Mutter. Aber nicht ich. Warum also noch über mich und meinen Namen nachdenken?

Der einzige Mensch, der noch von Anfang an weiss, wie ich wirklich heisse, ist mein Vater. Er hat sich daran gewöhnt, dass mich mein Umfeld zora nennt. Alpha und Omega. Anfang und Ende. So ist es nämlich.

Und nun fallt über mich her wie Tiere und zerreisst meinen Namen. Denn ihr habt keine Ahnung von Verlust, Wut und Sterben.