Panta rhei.

Am 11. Oktober 2012 startete ich, damals im Thurgau wohnhaft, mit meinem Blog „Demenz für Anfänger“. Ich beschrieb die Reise meiner Omi Paula ins Pflegeheim, hielt Rückschau auf unser familiäres Zusammenleben, unsere gemeinsamen Verluste. Omi und ich erlebten viel in jener Zeit. Sie verfolgte, so lange es ging, was ich schrieb, auch wenn sie nicht immer verstand, was das Internet ist und worum es in unserem Blog ging.

Was sie aber verstand und vor allem tief spürte, war, dass ganz viele Menschen sie ins Herz geschlossen hatten. Sie war eine sehr liebevolle, fröhliche und offene Persönlichkeit. Während ihrer Demenzerkrankung lernte sie viele neue Menschen kennen und konnte sich auch auf sie einlassen.

Mich hat die Arbeit am Blog durch halb Deutschland und ein wenig durch die Schweiz geführt. Als ich über uns schrieb, war Demenz „ein privates Problem“ und man hat mir mehr als einmal nahe gelegt, nicht so offen über unsere Erlebnisse und meine eigene Gefühlswelt zu schreiben. Das hielt mich aber nicht davon ab, über Demenz zu schreiben.

Nun, ziemlich genau 11 Jahre und 1 Buch später beende ich dieses Schreibprojekt. Omi ist mittlerweile über 6 Jahre tot, mein Vater bald 3 Jahre. Mein Leben hat sich stark verändert, ich bin beruflich und privat anders unterwegs. Was mich noch immer mit meiner Familie verbindet, ist unser Haus. Ich nenne es „Paulahaus“, weil sie 30 Jahre lang hier gelebt und den Jahreszeiten und der Kälte getrotzt hat. Hier möchte ich weiter leben, das Leben feiern und mich mit FreundInnen treffen.

Mein Leben nimmt nun weitere, neue Bahnen ein. Gerne werde ich in meinem Blog http://www.meineigeneshaus.wordpress.com darüber schreiben. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn du mich weiterhin auf meinem Weg begleitest.

der 11.11.

Morgen ist es also soweit. Wir haben – ENDLICH! – unseren Termin auf dem Grundbuchamt. Ich kann nicht ausdrücken, wie ich mich fühle. Es ist etwas zwischen Glück und Nichtglaubenkönnen.

Es ist für mich ein grosser Schritt. Wahrscheinlich bin ich noch nie in meinem Leben eine derart verbindliche Beziehung eingegangen. Vor dem Heiraten und dem Kinderkriegen hab ich mich erfolgreich gedrückt. Aber die Sache mit dem Haus ist ernst. Ich will! Ja!

Die letzten Nächte habe ich sehr bewegt geträumt. Jede Nacht war ich am Schleifen, am Kisten packen und tragen. Ich schippte Schnee. Ich kletterte auf dem Dach herum. Ich schlug mich mit grossen Spinnen. Wenn ich aufwachte, war ich todmüde.

Morgen gilt es also ernst. Eine Unterschrift setzen.
Fast 60 Jahre nachdem Henri und Röös unterschrieben haben, fast 18 Jahre, nachdem Omi Paula das Haus von meinem Opi Walter geerbt hat.

Ich hab mir natürlich überlegt, ob es eine gute Idee ist, in ein Haus zu ziehen, das so alt ist. Doch wenn ich mich an früher erinnere, weiss ich, dass im Haus keine Angst zu haben brauche. Das Haus war da, bevor ich da war. Es stand fünfzig Jahre, bevor mein Uropa Henri geboren wurde, da. Und wahrscheinlich steht es noch immer da, wenn ich nicht mehr bin.

Über Beziehungen, die Ehe und das Gernhaben

Ich frage mich oft, was meine Grosseltern Paula und Walter über ihre Ehe dachten. Waren sie wirklich glücklich?

Meine Grosseltern haben nach der Geburt meiner Mutter praktisch nichts miteinander unternommen. Sie hatten keine gemeinsamen Hobbies. Mein Opa war ein Eigenbrötler, während meine Oma ein eher geselliger Mensch war damals.

Wenn ich das so mit meiner eigenen Beziehung vergleiche, überkommt mich Traurigkeit. Ich verbringe einen Grossteil meiner freien Zeit mit meinem Freund. Wir arbeiten daheim zusammen. Wenn wir mal getrennt sind, überkommt uns ein seltsames Gefühl von Verlorenheit.

Meine Oma ging, als sie in den frühen 40ern war und ich noch nicht geboren war, gerne mit ihren Arbeitskolleginnen auf Reisen. Sie flog nach Rom, reiste mit dem Zug nach Lourdes. Von meinem Opa ist nichts dergleichen bekannt. Seine einzigen Freunde waren jene Männer, mit denen er im Krieg war, später andere Musiker.

Als ich geboren wurde, war ich offensichtlich der Lebensmittelpunkt meiner Grosseltern. Oma und Opa hatten einfach immer Zeit, wenn wir was brauchten. Unsere Telefonate dauerten, zum Leidwesen meiner Eltern, jeweils sehr lange.

1996 litt mein Grossvater unter Müdigkeit und Entkräftung. Es wird ihn wohl sehr an die Zeit um 1944 erinnert haben. In seinem Dienstbüchlein steht, dass er ein eher schwächlicher, unterernährter Mann, aber dennoch diensttauglich war.

Was wie eine Grippe anfing, mauserte sich zu einer Diagnose, die todbringender nicht sein könnte: Leberkrebs. Opa wusste wohl ganz genau, was ihn erwarten würde. Aber, wie immer, wenn es ihm nicht gut ging, redete er wenig bis gar nicht mehr. (Irgendwie kommt mir das sehr bekannt vor…)

Erst als Opa immer schwächer wurde, fanden Oma und Opa wieder zusammen. Sie haben in jenen schlaflosen Nächten viele Gespräche geführt. Und, viel wichtiger: sie haben einander wieder umarmt und geküsst.

Diese Sache rührt mich auch nach über 17 Jahren noch immer. Wie muss das gewesen sein: fast 50 Jahre mit einem Mann verheiratet sein, mit dem man einfach ein gemeinsames Kind hat, dessen Namen man trägt, aber mit dem man sonst nichts gemeinsam hatte.

Umso wichtiger erscheint es mir heute, wann immer meine Oma Paula danach verlangt, sie zu umarmen. Ich traue mich nicht immer, denn Oma wirkt zerbrechlich. Aber wenn sie einen dann mit ihren lieben grünbraungrauen Augen anschaut und verschmitzt lächelt, muss ich sie einfach knuddeln und ihr zeigen, wie gerne ich sie habe und wie wichtig sie mir ist.

Auch mein Freund Sascha hat in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Ihn will sie immer umarmen. Sie will auch immer ein Küsschen von ihm. Natürlich fragt sie mich immer zuerst:
„Sag mal, würde der Schascha der Oma Paula bitte noch ein Küssli geben?“

Natürlich macht Sascha das. Dann drückte Paula ihn fest an sich und strahlt wie ein Honigkuchenpferd.

 

img058

März oder Mai 1951. Meine Oma ist bereits schwanger.