Tränen

Ich hätte es ahnen können, dass meine Mutter nicht sehr alt werden wird. Das war erstaunlich, denn in meiner Familie mütterlicherseits wurden die Jüngsten weit über 70, die Ältesten fast 100, meine Mutter hingegen gerade mal 56 Jahre alt.

Ich erinnere mich dunkel an die Aufbahrung, die kurze Besprechung, was nun mit ihrem toten Körper geschehen sollte. Einäscherung hatte sie sich gewünscht. Ausgekippt irgendwo im Nirgends. Paula wollte das nicht. Ich organisierte also ein Begräbnis in der Stadt, wo schon Vater und Grossvater meiner Mutter lagen.

Wie in Trance erlebte ich die Überführung ihrer Asche durch meinen Vater. Der hatte mir verboten, alleine die Urne in meinem Auto durch die Ostschweiz zu fahren. Er hatte es fast 30 Jahre zuvor mit den sterblichen Überresten meines kleinen Bruders getan. Mein Vater stand mir bei, obwohl er alle Gründe hatte, dies zu verweigern.

Die Beerdigung im Oktober 2007 war eine traurige Sache. Wenig Menschen kamen. Natürlich.
Es war das letzte Mal, dass ich meinen Grossonkel Sepp gesehen hatte. Er starb kurze Zeit später. Hadi, meine Grosstante und Uschis Gotte, konnte ebenfalls nicht an der Beerdigung teilnehmen. Nur Bibi, Paula, mein damaliger Freund und Uschis Freund Weewoo assen mit an der Tafel.

Ich hatte bis dahin gedacht, dass sich die Trauer um einen lieben Menschen nach der Beerdigung legt. Das Gegenteil war der Fall. Ich befand mich erst in einer Art Schockstarre. An jeder Ecke konnte ich meine Mutter spüren, ihre Stimme, ihr leises Lachen hören. Ich trug ihre Kleider, um ihren Geruch nicht zu verlieren. Ich trug ihre Schuhe. Ich färbte mir meine Haare nicht mehr und hatte gleichzeitig den Wunsch, mir alle meine langen Haare zu scheren.

Ich wollte irgendwie, dass man mir meinen Verlust ansah.
Nichts war mehr wie vorher.
Meine Mutter, die Frau, die mich geboren hatte, war tot.
Ich war alleine.
Es gab nichts, was mich trösten könnte.

Ich konnte nicht mehr weinen.
Längere Zeit lief ich herum, ohne auch nur eine Träne zu verlieren.
Dann, eines Nachts überkam es mich.
Ich brach zusammen.
Die Tränen liefen mir aus den Augen, während ich auf dem Boden lag.
Es war mir egal. Nur noch weinen.
Ich ahnte, dass meine grösste Angst die Traurigkeit war. Stattdessen war sie meine Rettung. Je mehr ich weinte, desto leichter fühlte ich mich. Die Emotionen, die ich zuliess, halfen mir, sie loszulassen und ihren Verlust zu akzeptieren. Tränen sind niemals dein Feind.

paula und uschis beerdigung

vor fünf jahren starb meine mutter. eine woche nach ihrem tod war die beerdigung in paulas wohnort. uschi wollte zwar, dass ihre asche in alle winde verstreut wird, aber paula wünschte sich einen ort zum hingehen. diesen wunsch wollte ich ihr erfüllen

das war etwas schwierig. uschi lebte im thurgau und starb in einem st. galler pflegeheim. paula lebt in einer gemeinde im toggenburg, die keine fremden begräbnisse zulässt. irgendwie habe ich es aber geschafft, einen tag nach uschis tod, wenig schlaf und vielen tränen, den gemeinderat umzustimmen. vielleicht haben die auch nachgegeben, weil ich geschildert habe, wie lange meine familie schon in dem städtchen ansässig ist und dass tote verwandte nun einmal auf einen friedhof gehören.

das vorgespräch mit dem katholischen priester war friedlich und schön. zwar sah ich wohl etwas puzzled aus, als er unbedingt mit mir und paula beten wollte, aber nun denn.

einen tag vor der beerdigung musste ich den transport von uschis urne aus dem thurgau organisieren. mein vater, längst von meiner mutter geschieden, bekam mit, dass mein damaliger freund keine zeit/lust hatte, mir dabei zu helfen. mein vater verbot mir, die urne alleine irgendwo hin zu fahren.
die erinnerung an das begräbnis meines bruders war ihm wohl sehr präsent. so fuhren denn mein vater, auf dem rücksitz in einer urne verpackt und angeschnallt: die asche meiner mutter, und ich ins toggenburg.

wir übergaben den tontopf dem friedhofmitarbeiter, der ihre sterblichen überreste übernahm. als ich einen blick auf die plakette nahm, musste ich unweigerlich lachen. uschi d., 1051 – 2007. das hätte ihr gefallen.

am nächsten tag war es dann soweit: paula, mein damaliger freund, meine tante berty, uschis freund, unser srilankischer mitarbeiter und einige freunde sassen in der kirche. uschis lebenslauf, den ich schreiben musste, wurde verlesen. der priester erzählte von uschis hobbies und ich hatte den eindruck, als wäre sie hier. paula war standhaft und im gegensatz zu mir weinte sie nicht. sie wirkte gefasst und irgendwie erleichtert, dass sie ihre tochter an einem sicheren ort wusste. mehr als einmal umarmten wir uns.

der priester übergab mir schliesslich eine kerze der hoffnung mit einem baum drauf als erinnerung an meine wurzeln und meine mutter.

nach dem gottesdienst trafen wir uns, noch ca. 6 leute, zum leichenmahl. ich hätte mir gewünscht, uschis rockerfreunde, die alten männer aus dem männerheim und ihre freundinnen wären da gewesen. stattdessen sassen wir im kleinen kreis da und redeten.

paula erzählte eine geschichte aus ihrer kindheit über ihren vater. berty, ihre drei jahre ältere schwester, auch schon über 80, fällt ihr ins wort:

„woher willst du denn wissen, wie das wirklich war. dafür bist doch noch viel zu jung.“

wir haben gelacht, bis wir geweint haben.