Die vier Schwestern

Die Linde, die auf unserem Grundstück steht, nenne ich seit Jahren „Die vier Schwestern“. Ich möchte euch gerne erzählen, wie sie zu diesem Namen gekommen ist.

Unsere Linde besteht aus vier einzelnen Stämmen. Sie erinnert mich an die vier prägendsten Frauen meiner Familie: Da ist meine Mutter Uschi. Sie wurde 1951 als erste aller Enkelinnen meiner Urgrossmutter Bertha geboren und starb 2007. Sie wuchs als jüngste Enkelin quasi als vierte Schwester auf. Sie ist die Tochter meiner Omi Paula. Ich durfte mit Omi ihre letzten Stunden begleiten. Meine Mutter fehlt mir sehr. Ihre Lebensfreude und ihre Tierliebe fehlen mir.

Tante Hadj wurde 1926 geboren und starb 2013. Sie war eine elegante, wunderschöne und stilvolle Frau. Auch sie hat mich mit guten Gedanken und Ratschlägen unterstützt. Sie war in Sachen Stil ein grosses Vorbild für mich.

Dann ist da Tante Bibi. Sie wurde 1924 geboren, sie hatte am gleichen Tag Geburtstag wie mein Bruder Sven, und starb 2016 am Geburtstag meiner Mutter Uschi. Bibi hat mich nach dem Tod meiner Mutter und während der Demenz meiner Omi liebevoll unterstützt. Ich werde diese arbeitsame, starke und tolle Frau nie vergessen.

Omi Paula war die jüngste der Hüppi-Schwestern und hat alle anderen überlebt. Sie wurde 1928 geboren, überlebte eine schwere Hirnhautentzündung und war mir eine wunderbare Grossmutter. Sie fehlt mir im Alltag an allen Ecken und Enden. Ich habe ihre Telefonnummer nicht gelöscht. So oft möchte ich mit ihr reden, mich austauschen und ihr meine Sorgen und Freuden berichten. Sie hatte immer ein Ohr dafür. Ihr Tod kam nicht unerwartet und hat mich doch sehr getroffen.

Die Linde steht unverrückbar da. Sie tut es seit vielen Jahren. Wann immer ich sie ansehe, werde ich an die vier Schwestern erinnert: Uschi, Hadj, Bibi und Paula.

Vom Vermissen

Der Mittwoch war Paulas und mein Tag. Seit frühester Kindheit hat sie mich an jenem Tag besucht. Für mich war es der schönste Tag der Woche. Wenn sie einmal nicht vorbeikam, sei es, weil sie arbeiten musste oder mit meiner Mutter Streit hatte, war ich traurig.

Mindestens einmal in der Woche hab ich mit Paula telephoniert. Wir konnten stundenlang reden. Sie wusste immer noch mehr zu erzählen und wenn wir uns nichts aktuelles mehr zu sagen hatten, sprachen wir eben über die Vergangenheit. Mehr als einmal hat mir Paula so die Geschichte ihres ersten Treffens mit Walter erzählt. Gewisse Geschichten werden besser und schöner, je öfter man sie sich erzählt.

Jetzt, wo Paula im Pflegeheim ist, telephonieren wir nicht mehr. Es fehlt mir, denn ich habe früher so gerne mit ihr geredet. Aber ich habe so grosse Mühe, ihr zuzuhören. Ich habe Angst, dass sie beim Gang zum Telephon stürzen könnte, dass sie überfordert ist, wenn es klingelt und sie nicht mehr weiss, wie bedienen. Ihre Scham ist zu meiner geworden.

Meine Mutter hat fürs Leben gerne erzählt, wie ich nackt im Bädli herumgeschwommen bin. Das tat sie aber nur, wenn von mir hochverehrte Männer in der Nähe waren. Ich schämte mich in Grund und Boden. Heute denke ich oft daran und wie sehr mir diese kleine Geschichte fehlt. Was gäbe ich darum, wenn meine Mutter jetzt dasässe vor einem Glas Merlot und sie mir erzählte?

Am schlimmsten waren am Anfang der Trauerzeit die Tage, an denen meine Mutter mich früher angerufen hatte. Terra X ist eine meiner liebsten Sendungen. Sie läuft seit meiner Kindheit um 19.30 auf ZDF. Meine Mutter hat mich just immer dann angerufen, um mir von ihrer Beziehung, ihren Sorgen und ihren kleinen Freuden zu erzählen. Mehr als einmal sass ich augenrollend auf dem Sofa meines damaligen Freundes und hoffte, das Telephonat wäre bald zu Ende.

Kurze Zeit danach war es zu Ende. Ich bereue es zutiefst, nicht mehr mit ihr geredet zu haben, kein schriftliches Zeugnis ihrer Gedanken zu haben, nicht zu wissen, wie man das beste Voressen der Welt macht. a

paula und uschis beerdigung

vor fünf jahren starb meine mutter. eine woche nach ihrem tod war die beerdigung in paulas wohnort. uschi wollte zwar, dass ihre asche in alle winde verstreut wird, aber paula wünschte sich einen ort zum hingehen. diesen wunsch wollte ich ihr erfüllen

das war etwas schwierig. uschi lebte im thurgau und starb in einem st. galler pflegeheim. paula lebt in einer gemeinde im toggenburg, die keine fremden begräbnisse zulässt. irgendwie habe ich es aber geschafft, einen tag nach uschis tod, wenig schlaf und vielen tränen, den gemeinderat umzustimmen. vielleicht haben die auch nachgegeben, weil ich geschildert habe, wie lange meine familie schon in dem städtchen ansässig ist und dass tote verwandte nun einmal auf einen friedhof gehören.

das vorgespräch mit dem katholischen priester war friedlich und schön. zwar sah ich wohl etwas puzzled aus, als er unbedingt mit mir und paula beten wollte, aber nun denn.

einen tag vor der beerdigung musste ich den transport von uschis urne aus dem thurgau organisieren. mein vater, längst von meiner mutter geschieden, bekam mit, dass mein damaliger freund keine zeit/lust hatte, mir dabei zu helfen. mein vater verbot mir, die urne alleine irgendwo hin zu fahren.
die erinnerung an das begräbnis meines bruders war ihm wohl sehr präsent. so fuhren denn mein vater, auf dem rücksitz in einer urne verpackt und angeschnallt: die asche meiner mutter, und ich ins toggenburg.

wir übergaben den tontopf dem friedhofmitarbeiter, der ihre sterblichen überreste übernahm. als ich einen blick auf die plakette nahm, musste ich unweigerlich lachen. uschi d., 1051 – 2007. das hätte ihr gefallen.

am nächsten tag war es dann soweit: paula, mein damaliger freund, meine tante berty, uschis freund, unser srilankischer mitarbeiter und einige freunde sassen in der kirche. uschis lebenslauf, den ich schreiben musste, wurde verlesen. der priester erzählte von uschis hobbies und ich hatte den eindruck, als wäre sie hier. paula war standhaft und im gegensatz zu mir weinte sie nicht. sie wirkte gefasst und irgendwie erleichtert, dass sie ihre tochter an einem sicheren ort wusste. mehr als einmal umarmten wir uns.

der priester übergab mir schliesslich eine kerze der hoffnung mit einem baum drauf als erinnerung an meine wurzeln und meine mutter.

nach dem gottesdienst trafen wir uns, noch ca. 6 leute, zum leichenmahl. ich hätte mir gewünscht, uschis rockerfreunde, die alten männer aus dem männerheim und ihre freundinnen wären da gewesen. stattdessen sassen wir im kleinen kreis da und redeten.

paula erzählte eine geschichte aus ihrer kindheit über ihren vater. berty, ihre drei jahre ältere schwester, auch schon über 80, fällt ihr ins wort:

„woher willst du denn wissen, wie das wirklich war. dafür bist doch noch viel zu jung.“

wir haben gelacht, bis wir geweint haben.