Die drei Monate, während denen meine Mutter starb, waren die bisher schlimmsten meines Lebens. Ich war gerade erst 30 Jahre alt geworden, erfreute mich guter Gesundheit und Lebensfreude, wollte mich bald verheiraten und glücklich sein.
Ihr Sterben veränderte alles.
Wenn man es mit einem sterbenden Menschen zu tun kriegt, hinterfragt man alles bisher dagewesene. Kein Stein blieb bei mir mehr auf dem anderen. Die eigene Beziehung, das Leben, die Karriere, die eigene Haltung? Alles war unsicher. Angst durchzog mein Leben.
Die Wochen, in denen meine Mutter zwischen Spital und Pflegeheim, Leben und Tod schwebte, raubten mir den Schlaf und meinen Seelenfrieden. Ich wachte nachts schweissüberströmt auf. Ich litt mit ihr, wenn sie mir am Abend zuvor erzählte, welche Todesängste sie aushielt. Sie träumte von Ratten, die sie bei lebendigem Leibe auffrassen, dass man sie quälte und peinigte. Meine Mutter, so hilflos in ihrer Krankheit, löste bei mir Gefühle aus, von denen ich niemals gedacht hätte, dass sie in mir existierten.
Ihr Kampf zwischen Leben und Tod, Wachsein und Schlafen beschäftigte mich sehr. Mit einem Mal fühlte ich mich wie eine Löwin, die ihr Junges beschützen sollte. Was für eine verkehrte Welt!
In Wirklichkeit fühlte ich mich selber völlig verloren.
Ich hätte am liebsten nur noch geweint, mich unter die Bettdecke verkrochen, mich beschützen lassen wollen von wem auch immer.
Doch stattdessen war ich stark. Ich managte Mutters Leben. Löste ihre Wohnung auf. Verstaute ihre Habseligkeiten in meiner Wohnung. Ertrug den Geruch ihrer Möbel.
Als meine Mutter starb, war ich alleine. Ich fühlte mich von Gott und der Welt verlassen.