Samstag im Haus

Wir trafen uns heute mit Paulas Beistand und gingen durchs Haus. Das alles ist eine emotionale Sache, denn Herr N. kannte wohl sogar schon meine Urgrosseltern. So erzählte er mir bei der Begehung, dass mein Uropa mit einem Töffli herumgefahren sei. Das wusste ich nicht! Des weiteren stellte sich heraus, dass Herr N. sich mit der Geschichte des Städtchens und seiner Häuser auskennt. Er wird für mich nachschauen, welches Gewerbe im Haus anfangs des 20. Jahrhunderts betrieben wurde. Besonders gefreut hat mich, dass er mir sogar noch eine weitere Kontaktperson nennen konnte, die mich bei der Erforschung meiner Familie weiterbringt. Ich fühle mich reich beschenkt.

Nun gilt es also ernst. Sascha und ich werden mit der Bank zusammensitzen und den Hauskauf besprechen. Wenn alles gut geht, werden wir schon in einigen Monaten unser eigenes Haus haben.

Als wir wegfuhren, liefen mir die Tränen aus den Augen. Wir sind so nahe dran.
Meine Kindheit kam mir in den Sinn. Wie die Urgrosseltern darin lebten. Wie Paula und Walter einzogen und die Urgrosseltern pflegten. Paula arbeitete auswärts, Walter war Hausmann. So glücklich war ich während den Schulferien in diesem Haus. Ich habe es geliebt, in dem Labyrinth der Räume zu spielen. Dann, als ich schon 19 war, stirbt Walter. Das Haus, baufällig, wird mit einem Mal von Paula und ihrer Schwester Hadi wieder renoviert. Alter Plunder wird entsorgt. Sie streichen den Flur, legen Teppiche aus, entfernen die Verdrahtung des Zwingers, lassen den Balkon renovieren. Mir kommt in den Sinn, wie Paula älter wurde, meine Mutter starb. Wie oft wir gemeinsam in der Küche weinten. Paulas Umzug ins Pflegeheim.

Ich hatte immer Angst, ich würde mich von dem Haus entfremden, wenn Paula nicht mehr darin wohnte. Es hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Der Traum vom Haus ist kein Schönwetter-Familien-Haus-Traum, sondern der Wunsch aufs Weiterführen meiner familiären Traditionen. Das Haus ist voller Stoffe, voller Werkzeug. Das Haus wird nicht mir gehören, sondern ich dem Haus.

Heute

Heute war der Tag, wo ich mich mit mehreren Leuten und Paula traf, um die weitere Zukunft zu besprechen. Es ist nämlich so, dass Paula ihre Geschäfte nur noch mit Unterstützung regeln kann. Die beiden Behördenleute, der zukünftige Beistand, Paula, Sascha und ich trafen sich im Pflegeheim.

Es war schon ein sehr seltsames Gefühl, dabei zu sein, wie Paula von Leuten der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde befragt wurde. Alles geschah sehr freundlich und wertschätzend. Ich bekam den Eindruck, dass Paula bei vielem nicht mehr folgen konnte. Trotzdem hat sie so gut als möglich mitgedacht und sich geäussert. Ich bin sehr stolz auf sie und irgendwie rührt es mich.

Ich wollte nicht ihre Beiständin werden. Das Amt verlangt viel Verantwortungsbewusstsein (neben vielem anderen) ab. Ich spüre, dass ich einfach nur als ihre Enkelin für sie da sein will. Vielleicht ist das sehr egoistisch von mir, aber irgendwie ist es gut so.

Man erklärte ihr das weitere Vorgehen. Sie stimmte zu, dass Herr X, ihr Beistand wird. Er lebt gleich in der Nachbargemeinde. Er wird später mit mir auch schauen, wenn es um den Verkauf des Hauses geht. Momentan bin ich einfach für die Bewirtschaftung verantwortlich.

Bewegend war für mich, dass Paula anfangs des Gesprächs nicht mehr wusste, wer ich war und mich für ihre (tote) Schwester Hadi hielt. Sie fragte mich nach der Mamme und wie es ihr ginge. Ich sagte, dass sie nicht mehr lebt. Da meinte sie, wir zwei seien zwei Arme.

Ich bin froh, dass es so viele Menschen, egal ob Leute von Ämtern, Pflegende, den Beistand, ehrenamtliche Mitarbeiter von Vereinen usw, die sich so engagiert um Paula kümmern.

Am Schluss meinte Paula zu mir: „Manchmal kommt’s anders, als man denkt. In meinem Alter darf man spinnen. Und danach kommt wieder was anderes.“
Wie wahr.

Ich habe Angst

Angst vor Morgen.
Ich soll mich mit Behördenmitgliedern und dem zukünftigen Beistand von Paula treffen. Noch weiss ich nicht, was mich da erwartet. Ich bin froh, dass es keine Frage ist, dass Paula da mit dabei ist.
Meine Angst überwiegt. Wie geht es weiter?
Kann ich Paula das Haus abkaufen? Wie wird sich die weitere Betreuung gestalten?

Ich stehe so voller Tatendrang. So gerne würde ich das Haus räumen. Aber ohne Auftrag geht das nicht. Es tut mir in der Seele weh, dass das Haus leer steht. Bald ist Frühling. Es gibt soviel zu tun.

Ich weiss ganz bestimmt, dass sich mein Leben ändern wird. Es hängt von den nächsten Wochen ab. Ich bin bereit.

ja oder nein?

Paula wird bald einen Beistand brauchen. Noch haben wir ein wenig Zeit.
Ich soll es mir überlegen. Ja klar.
Schon vor bald zwei Jahren hat sich Paula gewünscht, dass ich ihre Angelegenheiten übernehme. Aber ich bin dazu bereit?

Ich bin nun in dem Alter, in welchem andere Frauen pubertierende Töchter und Söhne haben. Ich habe keine Kinder. Ich habe Paula, die sich darauf verlässt, dass ich das richtige tue. Die meisten Menschen treffen Entscheidungen für die Zukunft.

Doch was ist das richtige?
Was ist das Erbe meiner Familie mütterlicherseits, das ich übernehme?
Kann ich die Verantwortung für meine Paula tragen?

Paula und ich haben über so vieles gesprochen: ihre Beerdigung, ihren Grabstein, die Musik an der Trauerfeier. Aber wir haben nie darüber gesprochen, was sein wird, wenn sie nicht mehr alleine über ihr Leben entscheiden kann.

Über Verantwortung, fehlende Zeit und ein schlechtes Gewissen

Wer nun denkt, dass man sich als Angehöriger zurücklehnen kann, wenn der alte Mensch im Pflegeheim wohnt, hat sich geschnitten. Nun geht es erst richtig los.

Da ist zuerst einmal das Haus oder die Wohnung, für die man sorgt oder auflösen muss. In unserem Fall ist es so, dass Paula ein eigenes Haus besitzt. Dieses hüte ich. Das bedeutet, dass ich bei jedem Besuch bei Paula vorher kurz vorbei fahre und schaue, ob alles in Ordnung ist.

Ich gehe noch jedes Mal für Paula einkaufen, denn obwohl sie im Altersheim alles kriegt, was sie will, braucht sie doch ihre eigenen Sachen. Sie will ihre Früchteschale mit ihren Lieblingsäpfeln, Bananen und Orangen. Sie will ihre Lieblingsmeringues und die Schümli aus der Migros haben. Und Schoggi. Falls mal jemand zu Besuch kommt. Paula trinkt fürs Leben gern Incarom. Den gehe ich ebenfalls kaufen. Und dann mag sie nur Gonfi ohne Körner drin, weil die sonst unter ihrem Gebiss kleben bleiben könnten und das hasst Paula.

Paula braucht neue BH’s, da sie so stark abgenommen hat, während sie zuhause lebte. Ich soll mit ihr in die Nachbarstadt fahren und neue kaufen. Auch damit fühle ich mich überfordert. Sie kann nicht mehr als eine halbe Stunde herumlaufen. Ihre Arme tun ihr weh. Wie sollen wir da BH’s ausprobieren? Ich entscheide mich dafür, mich von meiner Stiefmutter beraten zu lassen. Als Fachfrau hat sie das richtige Auge.

Die Frau, die Paulas Finanzen verwaltet, kommt offensichtlich nicht regelmässig vorbei. Paula hat bisher keinen Beistand. Auch die Klärung dieser Situation scheint meine Aufgabe zu sein, zumindest aus Sicht der Pflegenden. Diese Sache liegt mir schon lange auf dem Magen. Ich gebe es zu, es überfordert mich. Ich, die Enkelin. Aber sonst ist ja niemand mehr da.

Dann ist plötzlich Paulas Telephon defekt. Auch das ist meine Aufgabe. Ich besorge entweder neues oder versuche es zu flicken. Sascha bringt das Kunststück fertig. Glück gehabt.

Paula wünscht sich, mal wieder in ihr Haus zu gehen. Aufgrund der Wetterverhältnisse war dies aber nicht möglich, da der Weg zum Haus recht steil ist und ich nicht so nahe mit dem Auto ranfahren kann. Die Pflegenden würden ja gerne mit ihr dorthin gehen, aber leider haben sie dazu keine Kapazität. Also ist es mein Job. Ein freier Tag, der dafür drauf geht. Geplant ist er für übernächste Woche. Dann ist hoffentlich auch der Schnee ganz weg und Paula kann gefahrlos ins Haus laufen.

Es bleibt spannend.