Wie es ist.

Vor 38 Jahren wurden mein Vater und meine Mutter zum zweiten Mal Eltern.
Ich kann mich heute noch an den Bauch meiner Mutter erinnern und das Glück in ihren Augen. Ich war knapp zwei Jahre alt. Ich schmiegte mich an ihren Körper und durfte die Bewegungen meines Bruders in ihrem Bauch an meinem Ohr fühlen.

Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutet, ein Geschwisterchen zu kriegen. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Aber ich kann mich heute noch an meine Schritte in der Wohnung in Wängi erinnern. An die Möbel, das Licht, die Vorhänge und den Geruch. An meine Spielsachen. An die Tigerkatze, die sich an meine Beine schmiegte.

Heute, mit 40 fühle ich mehr denn je mit meinen Eltern mit, die damals ein Kind bekamen und wenige Tage nach der Geburt verloren. Meine Eltern waren bei seinem Tod am 20. September 1979 um die 30 Jahre alt. Mit seinem Tod zerbrachen Hoffnungen und Träume. Jahre der Trauer, der Verzweiflung und der Schuldgefühle sollten folgen.

Meine Omi hat immer gesagt: Alles ist für etwas gut.

An Swens Tod kann ich, noch immer, keinen Sinn erkennen, ausser dass ich es heute einfach akzeptiere, wie es ist.

Schwesterleben

Jetzt ist es bald zehn Jahre her, dass meine Schwester und ich uns so entfremdet haben.
Sie litt unter einer psychischen Krise und verbrachte einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Ich versuchte ihr eine gute Schwester zu sein, was ich aber ihres Erachtens wohl total verbockt habe.

Als meine Schwester nämlich unterernährt und psychisch angeschlagen nicht mehr nachts zu ihrem damaligen Freund nach Hause kam, habe ich ihm geholfen, für sie einen FFE zu beantragen. Er bat mich am Phone um Hilfe, denn er fürchtete, sie würde in der Kälte sterben. Sie nahm das Telefon nicht mehr ab und wir wussten nicht genau, wo sie sich aufhält. Er meinte, es wäre meine Pflicht als Schwester, ihr beizustehen.

Das hab ich getan um den Preis des Gehasstwerdens. Natürlich denke ich oft darüber nach, was ich hätte anders machen können. Ich mache mir noch heute Gedanken, was sie alles erlebt hat in jenen Tagen. Ich war froh, dass es damals diesen Weg gab. Ich wollte nicht akzeptieren, dass sie sich so umbringt. Doch hatte ich das Recht dazu?
Das Leben, so schien es mir, gerade nach dem Tod unserer Mutter, ist das Wertvollste, Wichtigste. Krisen gehen vorbei. Und vielleicht, so dachte ich, sieht sie es irgendwann auch so und wir würden darüber reden und es wäre alles wieder gut. Aber das war es nicht.

Ich war die Ältere von uns zweien. Die Kluge. Sie war die Schöne.
Während ich an Krücken ging, tollte sie herum.
Ich war nie neidisch auf sie.

Dass gerade sie mit so vielen Dämonen zu kämpfen hatte, war und ist für mich unverständlich. Ihr schien immer alles in den Schoss gefallen. Sie wurde von unseren Eltern sehr geliebt. Sie war das Wunschkind. Gesund. Am Leben.

Währenddessen war ich die immerzu kränkliche; mit krummen Beinen und schlechten Augen.
Ich denke oft darüber nach, warum es so gekommen ist. Denn eigentlich hätte ich an ihrer Stelle sein sollen. Ich hab die Gewalt abgekriegt und den Hass. Meine Kindheit hat mich stark gemacht, sie jedoch fast getötet. Ich verstehe es bis heute nicht.

lächeln.

ich arbeite dieses jahr über weihnachten durch. zum ersten mal seit langem habe ich keinen der feiertage frei. die kolleginnen mit kindern haben sich frei gewünscht. ich habe keine, da fällt die wahl leicht.

ich war recht erledigt, als ich heute mittag mit sascha ins auto stieg und ins toggenburg fuhr. eigentlich wollte ich mich vor einem besuch drücken, einfach mal ausruhen. ich dachte mir, dass paula ja gar nicht so genau weiss, ob weihnachten ist oder nicht.

die fahrt ins toggenburg zieht sich in die länge. wir fahren hinter sonntagsfahrern her. zwischendurch machen wir einen halt. ich besuche das grab meines kleinen bruders sven und sage ihm, wie sehr er mir an weihnachten fehlt. ich denke, die schulter meines bruders zum anlehnen wäre jetzt gerade praktisch. doch an seiner statt bleibt nur der baum, den mein vater vor 33 jahren angepflanzt hat.

wir fahren weiter, ins altersheim. als wir in den eingang kommen, steht ein kleiner tisch mit dem bild eines alten mannes drauf. paulas flurnachbar ist tot. ich schlucke schwer. wir gehen in den zweiten stock und finden paula in ihrem bett vor.
sie trägt keine brille, ihr nase ist ganz spitz und sie sieht sehr alt aus.

ich spüre es. sie bittet mich platz zu nehmen. hält mich mit ihrer hand fest. tätschelt meine schenkel. redet mit mir. sie sagt, es gehe ihr gar nicht gut. unkraut vergehe nicht. blutentnahme. keine entzündung. immer wieder: unkraut vergeht nicht.

verschiedene bilder tauchen vor meinem auge auf. ich sehe meine mutter vor mir, wie sie hechelt und kaum mehr atmen kann. ich denke: bitte nicht. nicht jetzt.

ich sitze an ihrem bett und möchte weinen. aber das geht natürlich nicht.
ich schlucke die tränen, den dicken kloss, runter. lächle.