Muttertag

2007 war das letzte Jahr meiner Mutter. Ich habe den Tag nicht gefeiert, weil ich unendlich wütend auf sie war. Sie hatte es geschafft, mit einem einzigen Telefonat meine psychisch labile Schwester in einen Zustand von grosser Verzweiflung zu versetzen.

Meine Schwester lebte damals in einer psychiatrischen Klinik, weil sie Monate zuvor einen Suizidversuch gemacht hatte. Sie arbeitete mit Hilfe von Fachleuten ihre eigene Kindheit auf. Für meine Schwester war so vieles schwierig. Sie erklärte mir damals, sie hätte niemals Grenzen erfahren, immer nur grosse Liebe. Das mag toll klingen, für sie aber war es furchtbar. Meine Mutter litt so sehr unter dem Tod meines Bruders, dass sie bei allem, was meine Schwester anstellte, meinte: „Du bist für mich zwei Kinder.“

Meine Schwester konnte machen, was sie wollte. Es hatte nie Konsequenzen. Vor knapp zehn Jahren erlitt sie schliesslich einen völligen Zusammenbruch. Meine Mutter machte sich Sorgen um sie. Sie rief sie an. Sie redeten. Das letzte Mal.

Meine Schwester rief mich nach jenem Telefonat verzweifelt an. Sie sagte: „Mami hat mir gesagt, sie hätte damals überlegt, mich abzutreiben. Das kriege ich nicht auf die Reihe.“

Ich war sowas von sauer. Ich hab meine Mutter angerufen und sie angeschrien, ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. Sie weinte. Ich weinte. Das Muttertagsgeschenk verrottete in meinem Kofferraum. Ich konnte nicht mehr.

Im Juli 2007 kam meine Mutter ins Spital. Drei Monate später starb sie. Ich war dabei. Meine Schwester nicht. Ich war verzweifelt und wütend und alleine. Ich habs meiner Schwester nicht vergeben, obwohl ich weiss, wie schlecht es ihr ging.

Ich kann wenig anfangen mit der Verherrlichung des Mutterseins. Das hat bestimmt mit meiner Vergangenheit zu tun. Ich weiss nicht, was die Mutterschaft für meine Mutter bedeutete. Aber ich lernte früh, dass nicht jede Mutter für ihre Kinder aufgeht. Dass sie nicht jedes Kind automatisch lieben muss. Ihr Leben wurde nicht durch Rosen aus der Fleischerei versüsst.

Ich vermisse meine Mutter sehr. Ich würde sehr gerne vieles klären.
Aber das geht ja nicht. Also kläre ich mit mir selber.

 

mami und ich

 

Mein mütterlicher Mensch

Ich tue mich schwer mit vorgeschriebenen Feiertagen wie beispielsweise dem Muttertag. In der Schule wurden wir jeweils genötigt, Herzen und Blumen für unsere Mütter zu basteln. Ich fühlte mich unwohl.

Natürlich habe ich wie alle anderen Kindern meines Alters gerne gebastelt. Für die Mutter. Alles nur für die Mutter. Doch im Gegensatz zu anderen Kindern wusste ich, dass eine Mutter nicht nur ein liebendes Wesen sein kann.

Meine Mutter konnte, wenn sie getrunken hatte, sehr launisch und wütend werden. Ich entwickelte früh ein Gespür dafür, was ich dann noch sagen und tun durfte.

Der Muttertag ist für mich ein unehrlicher Tag. Ich denke heute oft daran, wie unglücklich meine Mutter war. Natürlich gab es Tage, wo sie gerne Mutter war. Aber da waren auch Tage, da hätte sie mich am liebsten an eine Wand geknallt. Und das nicht nur sprichwörtlich.

Wenn ein Muttertag dafür da ist, den Frauen zu danken, dass sie fruchtbar sind und Kinder gebären, dann ist es ein Schlag ins Gesicht jener Frauen, die keine Kinder haben können oder aber sie verloren haben. Für meine Mutter war dieser Tag, an dem alle anderen Mütter sich über ihre Kinder freuten, ambivalent. Sie hatte eines verloren und sie gab sich die Schuld daran. Wie also sollte sie sich freuen?

Seit meine Mutter nicht mehr lebt, finde ich den Muttertag noch verlogener. Ich freue mich nicht, wenn ich in Ladengeschäften eine Rose kriege, nur weil meine Brüste und meine Hüften so aussehen, als hätte ich (mehrere) Kinder geboren. Ich bin neidisch auf andere Töchter, die ihre Mütter noch um sich wissen und sie jederzeit um Rat bitten können. Ich mache einen weiten Bogen um Blumengeschäfte und Confiserien. Ich ertrage diesen Traum aus Herzen und roter Farbe nur schlecht.

Aber ich mag mich nicht in schlechten Gefühlen suhlen. Ich habe vor einigen Jahren begonnen, den Muttertag für mich umzudeuten. Ich denke dann an Freunde, die mir gut gesonnen sind. Ich denke an meine Omi, die mir immer wie eine Mutter war. Ich denke an meinen Vater, der einer der mütterlichsten Menschen überhaupt ist und ich denke an meine Stiefmutter, die mich zwar nicht geboren, aber dennoch stark geprägt hat.

Freundschaft und Menschlichkeit ist es, was dich stärkt, nicht die Tatsache, dass einige Lebewesen Eierstöcke besitzen.

Unruhe und Wut

Heute ging ich das Grab meiner Mutter bepflanzen. Es ist eigentlich eine sinnlose Sache, denn sie hat sich nie eines gewünscht. Ihre Asche hätte ich irgendwo auskippen sollen, Ich habs nicht gemacht.

Sie mochte Farben über alles. Je bunter, je wilder, desto besser. Ihr Grab soll auch so aussehen. Lebensfroh. Keine Traurigkeit, dass sie nicht mehr da ist. Dankbarkeit, dass sie mich geboren hat und da war.

Das fällt mir schwer.
Auf dem Friedhof steht ein Verkaufsregal. Rosen. Herzen. Muttertag. Ja, mein Gott. Was soll ich denn jetzt noch so was für sie kaufen? Sie sieht es ja nicht.

Ich räume das Grab ab. Dabei fallen mir drei rote Rosen aus Plastik auf. Die waren im Herbst noch nicht da. Ich dachte, ich wäre die Einzige, die noch ihr Grab aufsucht. Oma kann schon lange nicht mehr hingehen und sie wüsste nicht einmal mehr, wer unter dem Stein begraben liegt.

Da der Friedhof nur zwei Minuten vom Haus weg ist, beschliesse ich, noch vorbei zu fahren. Von der Hauptstrasse aus kann man das Haus kurz sehen. Das Gartentor steht offen. Also halte ich an und gehe den Weg herunter.

Der Weg ist verwachsen. Die Wiese blüht. Das Gras steht hoch. Ich laufe um das Haus herum. Mit einem Mal stehe ich kurz vor einem Tränenausbruch.

Ich sollte jetzt hier leben. Ich sollte jetzt die Wiese mähen, den Garten bepflanzen. Alles spriesst. Unter dem Dach haben sich Spatzen eingenistet. Ich kann ihre Brut hören. Mir scheint, als zieht schon wieder alles an mir vorüber. Die Warterei zehrt an meinen Nerven. Ich hatte so sehr gehofft, dass ich bereits im Mai den Kaufvertrag unterschreiben kann. Doch wieder muss ich warten. Es wird nicht vor dem Herbst der Fall sein.

Im Herbst das Haus zu räumen, ist Irrsinn. Es wird zu kalt sein. Wir werden es nicht schaffen, die Küche zu renovieren vor dem Winter. Ohne anständige Küche werden wir erst im nächsten Frühling einziehen können. Ich bin wütend.

Das Haus lassen meine Tränen kalt. 175 Jahre lang steht es schon hier. Ein Jahr mehr oder weniger leer leben, macht ihm wohl nichts aus. Mir schon. Ich habe Träume. Wünsche. Ich will endlich dort leben.

In einem Anfall von Wut jäte ich den verwachsenen Weg. Dann geht es mir wieder besser.