Svens 35ster Geburtstag heute. Ich bin nicht zum Sinnieren gekommen. Ich rannte herum. Bewegung tut gut und not.
Ich musste heute morgen kurz an meine Schwester Doris denken. Sie lebt, fern von der Familie, in einem anderen Landesteil. Wir reden nicht mehr miteinander. Der Tod unserer Mutter hat uns auseinander gerissen. Wir gleichen uns nicht mal mehr wie Schwestern. Wir sind wie zwei Schiffbrüchige, doch wir klammern uns nicht an denselben Halm.
Ich konnte mich lange nicht in sie einfühlen. Bei der Auseinandersetzung mit Opa Walter und seiner toten Schwester Nelly fiel mir auf, wie schwierig es ist, für ein Kind, die Lücke des toten Geschwisters zu füllen.
Doris hatte keine Wahl. Für meine Mutter war sie die Rettung. Ein neues, lebendes Kind!
Meine Mutter hat sich über alle Massen über meine Schwester gefreut.
Doris hat Mutters Strenge nie gross erfahren. Auf ihren Rücken prasselten keine Schläge nieder. Kein Tritte. Kein Boxhiebe. Keine Schläge auf den Kopf.
„Du bist für mich zwei Kinder, Doris“, daran erinnere ich mich noch gut. Doris hatte alle Freiheiten, die ich als Ältere natürlich nicht hatte. Es gab selten Strafen, wenn meine Schwester geklaut hatte. Sie klaute wie ein Rabe!
Rückblickend denke ich, dass meine Schwester auffällig wurde, weil sie langsam verschwand. Doris ist nur ein Name, ebenso wie Sven.
Im Gegensatz zu mir wurde Doris nicht geliebt für Leistung, sondern für ihr Dasein. Sie brauchte nur zu lächeln, und alle freuten sich und liebten sie. Sie hat später zu mir gesagt: „Ich habe nie Grenzen gespürt.“
Und dabei hat meine Schwester Doris alles dafür gemacht, um Grenzen zu spüren. Was genau im Jahr 2006 passiert ist, vermag ich nicht zu eruieren. Fest steht, dass meine Schwester unter furchtbaren Ängsten litt.
Als kleines Mädchen habe ich oft darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn Sven überlebt und ich gestorben wäre. Ich war jahrelang überzeugt, dass ich kein Recht hatte zu leben, denn im Gegensatz zu meiner Schwester war ich mit verformten Hüftgelenken, Kurzsichtigkeit, einer Fehlstellung des Kiefers und anderem geschlagen. Ich war überzeugt, dass ich eine Laune der Natur war.
Heute sehe ich es anders.
Meine körperlichen Behinderungen haben mich gestärkt. Über das operierte Fleisch an meinem Körper sind dicke Narben gewachsen. Es scheint, als ich hätte in all den Jahren die Haut eines Elephanten erhalten.
Ich wünschte, ich könnte meiner Schwester davon abgeben.