Verlernt zu sterben.

Vor einer Woche habe ich meinen Freund ins Spital gebracht. Ich war guter Dinge.
Einige wenige Stunden später schien alles anders. Er wurde nicht einfach entlassen, sondern musste bleiben. Ich verbrachte einen ersten Freitag alleine. Ich war irritiert, weil ich den Tag anders geplant hatte. Mit ihm. Nicht ohne ihn.
Dann wurde es Samstag. Er wurde von einem Spital ins nächste verlegt, schliesslich landete er in St. Gallen.

Ich fuhr mit einer Tasche gefüllt mit Kleidern und seinem iPad ins Spital.
Das Spitalgelände, die einzelnen Häuser, wurden von Securitas-Leuten bewacht. Ich wunderte mich über die vielen Menschen auf dem Platz beim Spital. Es war schönes Wetter.

Im Haus, wo er lag, verwies mich die freundliche Security-Frau an den Empfang, einige Häuser weiter. Ich sollte mir eine Besucherkarte beschaffen, sonst würde ich das Haus nicht betreten dürfen. Das Zertifikat und die Tatsache, dass er keine Kleider mehr hatte, spielten keine Rolle.
Ich ging also zum Empfang, äusserte mein Anliegen und kriegte zu hören, dass ich ihn nicht sehen würde. Besuchsverbot. Schliesslich war mein Freund nicht in palliativer Pflege. Und seine Sachen würde ich jemandem übergeben können.

Mir sackten die Beine weg. Ich hatte ihn seit einem Tag nicht mehr gesehen, wusste nicht, wie es ihm ging. Ich wusste nur, es ging ihm schlecht.
Die Frau vom Empfang schrie mich an. Ich wankte davon.

Vor bald anderthalb Jahren hatte ich das Gleiche erlebt. Mein Vater verbrachte einen Monat im Pflegeheim. Er nannte es „Isolationshaft“. Wir durften ihn nicht besuchen, nicht sehen, wie es ihm ging.

Das Gefühl von damals kehrte zurück. Ich verstand zwar „Besuchsverbot“, aber mir wollte nicht in den Kopf, dass mir jemals jemand verbieten könnte, meinen Freund zu sehen.
Ich ging zurück in das Haus, wo mein Freund als Patient aufgenommen worden war. Eine Pflegende sprach mich an. Ihr würde ich seine Sachen übergeben können. Und nein, ich durfte ihn nicht besuchen, da er nicht so krank war. Nicht palliativ versorgt. Ich kriegte mit einem Mal keine Luft mehr durch die Maske. Ich weinte.

Schliesslich stand er plötzlich neben mir. Er war bloss rauchen gegangen. Ich weinte weiter. Ich weinte, weil ich unglaublich traurig war. Weil ich nun verstand, warum an diesem schönen Tag so unglaublich viele Leute auf dem Platz vor dem Spital standen und sassen. Das waren alles Menschen, die sich einfach nur sehen wollten, aber nicht sehen durften. In diesem Spital, in diesem Kanton, wo ein Regierungsrat sagte, wir hätten verlernt zu sterben.

Eine halbe Stunde später fuhr ich nach Hause zurück, vorbei an grünen Wiesen, Hügeln und Waldstücken. Immer weiter. Nach Hause. Vor einer Woche hatte ich meinen Freund ins Spital gebracht. Ich war guter Dinge.

Nachtrag 22. Oktober 2021: Sascha ist inzwischen aus dem Spital entlassen worden, ist wieder zuhause und fühlt sich den Umständen entsprechend gut. Ich hoffe auf einen Blogbeitrag aus seiner Feder. Was er in den letzten Tagen in den drei St. Galler Spitälern Wattwil, Wil und St. Gallen erlebt hat, ist bestimmt sehr interessant und vielsagend.

Der beste Freund meiner Familie

Es gibt nicht viele Dinge, die mich wirklich verletzen. Mittlerweile habe ich vieles gelernt einzustecken und zu deuten. Aber es gibt da einen Punkt, da verstehe ich keinen Spass.

Ich war noch keine zwei Jahre alt, als mein Bruder starb. Er war nur drei Tage alt und die Umstände seines Todes im Spital Frauenfeld sind rätselhaft. Meine Mutter, und auch mein Vater, waren danach andere Menschen.

Meine Mutter entstammt einer Toggenburger Textilarbeiterfamilie. Ich wage zu behaupten, dass „Alkoholismus“ eine der Überlebensstrategien war. Wie anders hätte man den harten Alltag in der Fabrik durchstehen können? Ich nehme an, dass dadurch während Generationen eine Art Stress wegzustecken, weiter vererbt wurde. So war es bei meinem Uropa Henri, meinem Opa Walter und wohl auch bei meiner Mutter.

Der Alk, und ich behaupte mal, dass viele gutmeinende, sozial denkende Menschen keine Ahnung von dem Thema haben, zerstört vieles. In erster Linie wurde der Körper meiner Mutter zerstört. Eine Leberzirrhose kommt nicht von ungefähr. Doch sehr viel heftiger ist die Zerstörung des sozialen Umfelds und notabene des Selbstwertgefühls der Angehörigen.

Ich kannte nichts anderes. Ich fand es nicht aussergewöhnlich, dass meine Mutter um sechs Uhr morgens kotzte, nein. Ich half ihr beim Aufwischen, damit mein Vater es nicht bemerkte. Später ging ich zur Schule. Es war nicht aussergewöhnlich oder gar befremdlich, dass meine Mutter die Nachmittage schlafend auf der Couch verbrachte. Ich wusste nicht, dass andere Mütter morgens nicht nach Merlot aus dem Mund riechen.

Ich wusste nicht, dass andere Mütter ihre Kinder nicht einfach so verprügeln. Mir war nicht bekannt, dass Schläge auf den Rücken, den Kopf oder in die Beine nicht ok sind. Ich wusste nicht, dass andere Mütter ihre Tochter nicht einfach so mit dem Kleiderbügel prügeln, bis der Bügel bricht. Den Kopf gegen den Heizkörper schlagen. Mir fiel nie auf, dass andere Kinder keine blauen Flecke am ganzen Körper hatten.

Natürlich hatten wir selten andere Kinder zu Besuch, denn ich nehme mal an, dass ausser mir so ziemlich jeder bemerkt hat, dass meine Mutter trinkt. Meine Kindheit und meine Jugend war einsam. Ich hatte das Gefühl, ich muss mich vor allem und jedem schützen. Wenn der Körper verletzt ist, ist auch die Seele beteiligt. Die Narben wachsen zu, doch die Wunden an der Seele eitern lange.

Später, ich war im Welschlandjahr, sah ich etwas klarer. Meine Madame schlug niemanden, schrie nicht herum. Auch als mir einmal eine teure Schüssel zu Boden fiel, fand sie das nicht so schlimm. Schlimmer fand sie die Tatsache, dass ich mich zu Boden geschmissen und die Hände über den Kopf gelegt, mich zusammengerollt hatte, um mich zu schützen.

Sie meinte: „Ma fille, so geht das aber nicht.“

Sie hat mich dann, ich war gerade mal 16, in eine Therapie geschickt. Madame D., meine Therapeutin sprach nur französisch und so lernte ich, die Tiefen meiner Verletzungen in einer Fremdsprache auszudrücken.

Mir wurde in der Zeit bewusst, dass in meiner Kindheit und Jugend ziemlich was scheisse gelaufen war. Noch konnte ich es nicht einordnen. Als ich wieder zuhause war, das Jahr war herum, waren meine Eltern getrennt, meine Mutter ausgezogen und es kehrte Normalität in mein Leben ein.

Meine Schwester allerdings war wütend auf mich. Sie fand es furchtbar, dass ich mit jemandem ausserhalb der Familie über „das Problem“ geredet hatte.
„Du stellst uns alle schlecht hin“, sagte sie. Ich musste mich entscheiden, ob ich lieber schweigen oder darüber reden will. Ich wusste, wenn ich schweige, dann kommt das nicht gut. Dann werde ich krank oder wahnsinnig oder sterbe.

Darum rede ich darüber. Ich verschweige den Alk in meiner Familie nicht. Ich gebe der Flasche nicht die Macht über mein Seelenleben.

Aber manchmal bin ich empfindlich. Bei Witzen über Alkis kann ich nicht lachen. Zu schmerzlich wird mir das Drama dahinter bewusst. Zu offensichtlich ist die Bigotterie der Lachenden und Spottenden.

Sonntage

Der Sonntag war immer ein besonderer Tag in der Woche.
Als ich noch ein kleines Mädchen war, ging ich jeden Sonntagmorgen in die Sonntagsschule.
Dies habe ich nicht auf Druck meiner Eltern getan, denen war das egal, sondern weil ich (auch heute noch) fürs Leben gern Geschichten höre.
In der Sonntagsschule wurden einem diese von Frauen erzählt.
Meine Lieblingslehrerin war eine alte Dame mit Dutt, Alice, deren liebes Gesicht ich noch heute vor mir sehe. Sie erzählte die biblischen Geschichten alle auswendig.

Am Sonntagmittag kochte meine Mutter, wenn mein Vater da war, ein Festmahl, meistens Voressen mit Teigwaren und Gemüse. Wenn aber mein Vater nicht da war, kochte meine Mutter „schlampiges“ Essen. Das war immer wunderbar. Wir sassen dann mit ihr auf dem Teppich vor dem Fernseher, assen im Schneidersitz und lachten. Danach schauten wir fern.

Dazu ist zu sagen, dass meine Mutter ein wandelndes Filmlexikon war zu einer Zeit, da es noch kein Internet gab. Mehr als einmal habe ich Wetten gegen sie verloren. Ihr Namensgedächtnis war einfach grossartig.

Sonntags schauten wir mit ihr alte Filme. Hans Moser, Paul Hörbiger oder Grete Weiser. Das waren unsere Helden. Ich schaute mit ihr Klassiker, B-Movies, Serien. Mit ihr fern zu sehen, war eine Offenbarung. Sie liebte Fernsehen und ich liebte meine Mutter.

Als ich ins Welschland ging, ich war 16, zerbrach die Ehe meiner Eltern vollends.
Mir war, als wäre ich die personifizierte Silikonschicht, die meine Mutter und meinen Vater noch verband.

Danach waren die Sonntage anders. Die Kindheit scheint ein zerbrechliches Gut zu sein.

Als ich schliesslich die Sonntagabende mit meinem damaligen Freund verbrachte, war meine Mutter wieder präsenter. Sie rief jeden Sonntagabend um punkt 19.31 an und wollte mit mir reden.
Dass ich um diese Zeit Terra X schaute, war ihr egal.

Als sie vor bald sechs Jahren starb, brauchte ich sehr lange Zeit, bis ich am Sonntagabend nicht mehr neben dem Telefon sass und auf ihren Anruf wartete. Schliesslich war es 19.31.

paula und die lust aufs leben

ich erinnere mich an eines unserer damaligen enkelin-zu-oma-gespräche. ich habe mit paula über alles gesprochen, sei es frust, streit oder liebeskummer.

wir trafen uns im café huber, paulas lieblingsconfiserie, zu kaffee und kuchen.
ich erzählte ihr davon, dass ich mich, nicht zum ersten mal, verknallt hatte und wie mein neuer freund war. ich war anfangs 20.

paula: wie ist er denn so?
ich: er ist sehr nett.
paula: hat er noch haare?
ich: ja. einige.
paula: und sonst?
ich: er macht gern sport.
paula: oh? das ist gut.
ich: warum?
paula: bewegung ist gesund.
ich: wie bitte?
paula: ich meine, es funktioniert doch alles bei euch?
ich: jaa?
paula: ich rede von sex.
ich: oma!?
paula: wusstest du denn nicht, dass sex gesund ist?

firewall

in bestimmten situationen des lebens ist es gut, wenn man nicht ganz alleine ist. in meinem nächsten umfeld ist es mein freund, der mit mir lebt und mich bei vielen besuchen begleitet.

mit seiner freundlichen, ruhigen, unaufdringlichen art hat sascha paulas herz erobert, auch wenn sie sich anfangs seinen namen nicht merken konnte und ihn einfach wie meinen ex nannte. ist ja schliesslich auch fast das gleiche. zumindest für paula

aber nicht nur auf den besuchen unterstützt er mich, nein. sein engagement findet hauptsächlich zuhause statt. paula telephoniert nämlich zu allen möglichen zeiten und da sascha von zuhause aus arbeitet und sie sich meine handynummer nicht merken kann, kriegt er die volle ladung an emotionen ab.

paulas gedächtnis ist leider mittlerweile so beeinträchtigt, dass sie sich vieles nicht mehr merken kann. ein telephonat, das ich gestern mit ihr führte, hat sie heute schon vergessen und alles scheint ihr verlassen und einsam. dementsprechend sauer ist sie jeweils, wenn sie anruft. aber sascha fängt das einfach ab. mit seiner positiven art kann er sie wunderbar motivieren und lässt sie vergessen, was ihr gerade um den kopf schwirrt.

suizidäusserungen nimmt er ernst, fragt nach und spricht einsamkeit an. sie fühlt sich sofort ernstgenommen und ist froh, dass er ihre emotionen so erfasst hat. wenn sie die idee „altersheim“ verwirft und findet, sie würde lieber sterben und ihre ruhe haben, bringt er vor, dass sie doch im altersheim nicht mehr alleine ist und menschen da sind, mit denen sie sprechen kann. mit einem moment scheint für paula wieder die sonne.

was würde ich nur ohne sascha machen? er ist meine firewall, wenn ich nicht mehr die energie aufbringe, mir vorwürfe und emotionen anzuhören. dafür bin ich sehr, sehr dankbar.