1 Jahr später

Vor einem Jahr um diese Zeit verbrachte mein Vater einen Monat im Pflegeheim. Der Aufenthalt war schon lange geplant und ohne Corona wäre es für ihn bestimmt eine tolle, runde Sache geworden.

Stattdessen wurden es für ihn harte vier Wochen, teilweise noch im Shutdown. Anfangs Juni durfte ich ihn dann besuchen. Er hatte darum gebeten, denn es war ihm langweilig im Heim. Wir drehten eine Runde im Park und er machte sich an den Fitnessgeräten zu schaffen. Ich staunte über seine noch immer vorhandene Kraft und seinen starken Willen. Und ich bemerkte auch, wie anspruchsvoll seine Pflege nun werden würde.

Wenn ich nun ein Jahr später meine gedrehten Filme anschaue, scheint mir alles längst verdrängt und verschwunden. Er wirkte damals leidend, ausgezerrt. Noch fünfeinhalb Monate würde er mit uns leben.

Ich bemerke, wie ich heute über diesen Anblick erschrecke. In meiner Erinnerung, nach bald einem halben Jahr ohne ihn, ist er sehr viel jünger. Dieses in „Erinnerung behalten“ ist doch eine seltsame Sache unseres Gehirns. In meinem bald 44jährigen Gehirn ist mein Vater plötzlich wieder 40, höchstens 50. Keine Spur mehr von Leiden und Tod.

Meiner Trauer um ihn hat eine Sehnsucht Platz gemacht. Zu gerne hätte ich ihn bei wichtigen Momenten dabei. Bis fast zuletzt konnten wir reden, durfte ich ihm sagen, was in meinem Leben passiert. Zwar fand er dazu nicht mehr allzu viele Worte. Doch im Herzen wusste ich genau, dass er in Gedanken bei mir ist.

Morgen findet meine wichtige Prüfung statt und da werde ich eine Kette mit Omis Ehering und einem Rabenanhänger tragen als Glücksbringer. Den Rabenanhänger kriegte ich kurz vor meinem 40. Geburtstag von meinem Vater. So sind meine beiden Lieben trotzdem bei mir.

Jeder Berg erzählt eine Geschichte

Als ich so acht oder neun Jahre alt war, habe ich mich oft gefragt, ob ich für meinen Vater eine Enttäuschung war. Ich hatte eben drei Hüftoperationen überstanden und mit Mühe wieder laufen gelernt. Es war schmerzhaft und furchtbar und eine Strapaze. Allein das war rückblickend eine grosse Leistung. Aber mein kindliches Gefühl, ihm, dem Sportler, nicht zu genügen, blieb.

Doch dann kam jener Sommer, ich glaube es war 1989 oder 1990. Ich war zwölf Jahre alt. Meine äusseren Narben waren verheilt, ich konnte wieder gehen. Nichts wünschte ich mir mehr, als mit meinem Vater bergwandern zu gehen. Schon damals war mein absoluter Lieblingsberg der Säntis. Ich bat meinen Vater, dass wir gemeinsam da hochsteigen würden.

Und so stiegen mein Vater und ich an jenem Morgen gemeinsam hoch auf den Säntis, vorbei an der Tierwis und über die Himmelsleiter hinauf auf den Gipfel. Als wir oben waren, umarmten wir uns. Mein Vater weinte vor Freude und ich tat es auch. Ich war überglücklich.

Heute musste ich plötzlich wieder an jene Wanderung denken und daran, dass mein Vater und ich sie nie wieder gemeinsam machen würden, obwohl wir damals darüber gesprochen hatten. Was wir noch alles unternehmen würden.

Ich bin etwas melancholisch. Aber noch viel mehr bin ich glücklich, dass mein Vater mit mir damals diese Wanderung gewagt hat. Und dass er mir so sein Vertrauen und vor allem das Vertrauen in meinen Körper (wieder-) geschenkt hat. Vielleicht, so denke ich, ist das die wichtige Rolle der Väter in unseren Leben.

Für meinen Vater

Am Montag wird mein Papi 70 Jahre alt.
Er wuchs auf einem Bauernhof auf einer Hügelkette im Thurgau auf.

In meiner kleinkindhaften Erinnerung ist mein Vater jener bärtige Mensch, der mich auf den Schultern trägt. Er freute sich riesig, wenn ich mit meinem Dreirad herumfuhr. Er erzählte mir, dass ich ihn jeweils angefeuert habe, wenn wir gemeinsam, ich auf dem Kindersitz, er lenkte sein Militärvelo, in Richtung Sonnenberg fuhren.

Mein Vater hat mich, als ich nach meinen Hüft-OPs nicht mehr laufen konnte, motiviert, weiterzumachen, wieder laufen zu lernen. Er hat an mich geglaubt und staunt heute manchmal darüber, dass ich noch immer kräftige Beine und einen starken Körper habe.

Mein Vater ist mein Fels in der Brandung. Er ist mir in vielerlei Hinsicht ein Vorbild: Er liebt Tiere, Kaninchen, vor allem Vögel. Diese Liebe hat er mir weitervererbt. Dass wir vor einigen Jahren alle gemeinsam eine kleine Krähe aufzogen, gehört zu den glücklichsten Momenten meines Lebens.

Er liebt die Natur, Blumen und Bäumen. Auch diese Liebe habe ich übernommen und lebe sie auf unserem Land weiter aus. Ich bin froh, dass er mir gezeigt hat, wie ich die Wiesen von Hand und mit der Maschine mähen kann.

Mein Vater war immer für uns Kinder da. Wo andere heute nach Kinderkrippen und Fremdbetreuung rufen, hat er in den 80ern entschieden, einen Beruf auszuüben, wo er für uns Kinder immer in Reichweite war. Auch wenn dies für ihn persönlich eine Zerreissprobe bedeutete. Mein Vater hat nach der Scheidung von unserer Mutter das Sorgerecht bekommen. Ich war erleichtert, bei ihm weiter aufwachsen zu dürfen. Mit seinem Verantwortungsgefühl für uns Kinder hat mein Vater mein Männerbild geprägt.

Mein Vater hat mich in der Berufswahl insofern beeinflusst, dass er immer darauf hinwies: „Du musst selbständig leben können und dein eigenes Geld verdienen. Du darfst nie abhängig von einem Ehemann sein.“

Mein Vater mag meinen Freund und irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sascha für ihn wie ein Sohn ist. Das schätze ich.

Mein Vater ist ein starker Mann, doch er kann seine Gefühle zeigen. Das mag ich an ihm und ich wünschte mir, dass noch sehr viel mehr Männer wie er wären.

Lieber Papi, alles Liebe zum Geburtstag! ❤