Lass uns fahren

Lass uns fahren. Lass uns einfach fahren. Wir sind in Bewegung. Wir bleiben nicht stehen. Das Leben zieht an uns vorbei. Wir wollen jetzt nicht an gestern denken, und schon gar nicht an morgen. Lass es uns einfach geniessen.

Ich weiss, es tut weh. Ich sehe es dir an. Ich fühle mich hilflos, weil kein Wort deinen Schmerz stillen kann.
Wir fahren über Strassen, die ich schon lange kenne, doch mit dir erinnere ich mich zurück. Weisst du noch…

Das ganze Leben zieht uns vorbei. Du kennst hier jeden Winkel, jeden Stein. Du zeigst mir die Lichtung mit den Birnbäumen im Wald. Du erzählst mir, wie du hier als Kind Rehe in den Armen hieltest. Ich hätte nicht gedacht, dass es diesen Ort wirklich gibt. Er existierte immer nur in meinen Träumen und vielleicht in meiner Erinnerung.

Du schaust staunend aus dem Fenster. Du weisst zu jedem Haus eine Geschichte. Deine Freunde, die nicht mehr sind, scheinen uns beim Vorbeifahren zuzuwinken. Weisst du noch, fragst du mich. Ich schüttle den Kopf. Es sind nicht meine Erinnerungen.

Wir fahren über Hügel mit blühenden Apfelbäumen. Alles scheint vor Glück zu platzen. Nur wir beide sind traurig: ich, weil ich mich vor dem Morgen fürchte und du, weil du dich erinnerst.

Wieder Samstag.

Die Tage vergehen einfach so.
Es schneit wieder. Ich arbeite.
Es ist fast alles wie vorher.

Ich sehe etwas verquollen aus.
Meine Nächte sind schlecht.
Ich bin todmüde und schlafe sogar.
Doch jede Nacht kommen Albträume.
Nie träume ich von Omi.
Es sind tausend andere Dinge.

Meine Brust fühlt sich an, als wäre sie
aufgeschlitzt worden.
Mein Herz tut weh.
Beim Arbeiten vergesse ich den Schmerz.

Gestern sprachen wir mit dem Pfarrer.
Ich habe ein gutes Gefühl und bin auch – irgendwie –
getröstet.
Ich freue mich auf die Abdankungsfeier für Paula.

Die Kisten mit ihren Sachen stehen unausgepackt im kalten Zimmer.
Noch fehlt mir die Energie, den Dingen einen neuen Ort in meinem
Leben zu geben.

Für die Feier schreibe ich Omis Lebenslauf.
Ich bin froh, dass ich so viel aus ihrem Leben weiss.
Das ist ein Trost, besonders jetzt.
Für Omi stimmt das Ende unserer Geschichte.
Für mich nicht.

Der letzte Monat

Getäfert waren die Wände des Pflegeheims, in dem meine Mutter lag. Es war September, neblig und sonnig zugleich. Ihr Bett stand an der Wand. Auf der Matratze lag eine selbstgehäkelte Decke. Auf ihrem Nachttischli stand eine kleine Flasche Grapillon Traubensaft.

Ich kaufte ihr einen CD-Player mit Radio, damit sie die Musikwelle hören konnte. Sie liebte diesen Sender in ihren letzten Monaten, als ihr das Fernsehen längst nichts mehr bedeutete. Oft sassen wir gemeinsam auf ihrem Bett. Wir schauten Zeitschriften an. Schwiegen.

Manchmal stritt sie mit mir über meine Kleidung. Sie hasste schwarz.
Vielleicht ist dies vielen Sterbenden gemeinsam. Sie liebte Farben. Von ihr aus hätte ich auch in knallgelb trauern können.

Ich wusste, dass uns die Zeit davon lief. Ich wollte jeden Moment mit ihr geniessen. Sie umarmen. Nie mehr loslassen.

Das Wissen, dass ein geliebter Mensch, die Mutter stirbt, schmerzt ungemein. Ich war dauernd nahe am Weinen, ohne es endlich tun zu können. Die abgrundtiefe Trauer riss mich erst mit, als sie tot war. Selbst da brauchte ich Zeit, bis ich endlich wieder weinen konnte.