Die grosse Kühle

Ich habe das Haus im Wandel der Jahreszeiten schätzen gelernt. Im Winter, als wir einzogen, war es kalt. Langsam haben wir es erwärmt. Man spürt, wenn ein Haus lange menschenlos stand. Im Frühling blüht es rundherum. Die Vögel tanzen fliegend um die Mauern und verstecken sich im Gewand der Linde. Im Sommer schliesslich zeigt sich die wahre Qualität des Toggenburgerhauses und die Meisterschaft seiner Erbauer: es ist kühl drinnen. Die Wände halten die Wärme von draussen fern. Im Herbst trotzen die Mauern den Winden.

Heute habe ich die letzten Kiste im kalten Zimmer ausgepackt. Ein erhebendes Gefühl. Es geht mir alles zu langsam. Prioritäten setzen war angebracht in den letzten Monaten. Ideen entwickeln kann ich nur an aufgeräumten Plätzen.

Ich sortiere weiteres Geschirr aus. Besteck. Silberbesteck. Scheren. Viel mehr Scheren. Ich muss mich entscheiden, welche Bilder ich aufhängen will. Es fällt mir schwer, wenn ich noch nicht alle ausgepackt und hingestellt habe.

Die Ferien sind schnell vergangen. Wir haben viel gearbeitet. Der Flur ist gestrichen, das kalte Zimmer spare ich mir auf. Die Fensterläden und die Türen leuchten wieder in Wiesengrün. Das Gartentor sieht fast aus wie vor 60 Jahren. Wir haben es nicht repariert, damit all die Katzen in er Nachbarschaft unter den abgebrochenen Latten hindurch spazieren können.

Wir sind durch die Schweiz gefahren. Langsam. Wir sind dankbar, dass wir hier leben dürfen. Der Ballenberg und der Säntis waren ein Erlebnis wie immer. Langweilig wird es nicht.

Jetzt freue ich mich wieder auf die Arbeit. Ich werde wieder wochenlang hinunter in den Thurgau fahren. Es wird Herbst werden. Der Nebel kommt. Aber ich kehre zurück in mein Daheim, irgendwo da oben im Toggenburg. Ich sehe die verblichenen vanillegelben Wände und freue mich darauf, dass das Haus mich beheimatet und ich dort nicht frieren werde.

Streng dich an! Lass dich fallen!

Nun ist es also soweit. Meine Sommerferien fangen an.
Es ist ein seltsames Gefühl, drei Wochen nur für mich zu haben.
Ich habe viel vor, aber nichts geplant. Für jemanden wie mich ist das ein Drahtseilakt.

Wir haben aufgeräumt. Natürlich müssen wir weiterhin Kisten auspacken. Der Kühlschrank ist zu klein. Es gibt Wände zu streichen. Im Kalten Zimmer warten Flohmarktgegenstände auf neue Besitzer. Unser renovierter Kellerraum und der Holzflur brauchen ebenfalls einen neuen Anstrich. Im Sommer geht das besser als im Winter.Ich werde noch einen Tiefkühler kaufen.

Ich denke zurück. Letztes Jahr haben wir angefangen, gross zu räumen. Omi wohnt seit bald drei Jahren nicht mehr hier. Sie lebt jetzt im Pflegeheim, zwei Dörfer weiter. Gestern abend las ich in einem Quiz, dass Menschen 2,6 Jahre im Heim „überleben“. Omi ist jetzt 87. Ich bin seit einigen Tagen 38. Es ist noch immer so, dass sie ihr eigenes Leben lebt und ich seltsamerweise jetzt mein eigenes.

Es ist Sommer und ich muss dran denken, dass ich vor dreissig Jahren zum ersten Mal meine Ferien hier verbracht habe. Wir haben als Kinder hier gespielt. Opa lebte noch. Der Zwinger stand noch, zwar verrostet, aber immer noch sehr eindrücklich. Die Bäume waren alle kleiner. Der Garten existierte. Das Gartentor war damals schon vermodert.

Ich wurde älter. Nach meinen Hüft-Operationen 1986 und 1987 hat mich Omi jeweils wieder aufgepäppelt. Ich erinnere mich noch gut. Nicht alle fanden das passend. Das Wort „Strenge“ kenne ich gut. Omi hat mich gepflegt, als wäre ich ein kleiner Vogel, der aus seinem Nest herausgefallen ist. Ein Kind, das mehrere schwere Eingriffe hinter sich hat, grosse Schmerzen verspürt, kann man nicht zum Laufen prügeln. Ich habe mich damals angestrengt und wieder laufen gelernt. Ein saudummer Lehrer hat damals zu mir gesagt: „Streng dich an. Du musst ein Vorbild sein für andere Kinder!“

Ich ärgere mich. Kein Mensch kann ergründen, was ich als Kind im Spital erlebt habe. Kein Mensch kann Schmerzen eines anderen Menschen nachempfinden. Ich konnte kein Vorbild sein, erst recht nicht für Menschen, die nicht empathisch genug sind, mit einem Kind umzugehen.

Omi hat sich nicht dafür interessiert, was andere Menschen von ihrer Art Pädagogik hielten. Dafür bin ich ihr bis heute unendlich dankbar. Der Glauben an sich selbst ist das wichtigste. In einem Punkt sind wir uns sehr gleich: wir hatten eine schwere Sache überlebt. Und: Omi lebt noch immer.

Der Bach rauscht, als wären keine 30 Jahre vergangen. Auf der Terrasse hängen Sonnensegel aus Leintüchern. Zarte Stoffe. Hier werde ich ausruhen. Das habe ich schon vor 30 Jahren hier getan.

Sommerferien mit den Eltern

Als wir noch Kinder waren, verbrachten meine Schwester und ich die Ferien mehrheitlich bei Omi Paula und Opa Walter. Darauf freuten wir uns immer sehr.

An unserem Wohnort, direkt an der Schule, hatten wir wenig Möglichkeiten für uns zu sein. Immer fühlte sich jemand durch uns gestört. Lehrer sind oft sehr unangenehme Menschen.

Anders wars bei Opa und Omi. Die freuten sich, wenn wir herumtollten. Wir spielten oft gemeinsam Versteckis. Mit Omi zusammen erkundeten wir die Welt.

Umso wertvoller erscheinen mir heute die Ausflüge mit den Eltern. Ich nehme an, wir hatten nicht sehr viel Geld. Ferien im Ausland haben wir nie gemacht. Auch an Skiferien kann ich mich nicht erinnern. Meine Eltern haben immer nur gearbeitet.

Dafür waren sie immer da für uns. Das heisst: mein Vater war als Hauswart immer erreichbar. Das war im Nachhinein sehr wertvoll.

An eine unserer Ferienausflüge mag ich mich besonders gern erinnern: wir sind mit dem Schiff von Romanshorn nach Schaffhausen gefahren; mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich. Wir haben gelacht und geredet.

Heute mache ich fast denselben Ausflug von Kreuzlingen aus mit Sascha, meinem Vater und seiner Frau. Ich freue mich auf diesen Eindruck und unsere Gespräche.

Es ist fast nie zu spät, neue Eindrücke zu gewinnen, auch wenn die Erinnerungen an früher oft schmerzhaft sind.

Ruhelos

Der erste richtige Ferientag. Es zieht mich weg. Augusta Raurica. Da war ich in den 90ern mit Oma. Wir sind damals mit dem Zug gereist. Das waren Welten. Wir alleine, fast in Basel!

Es hat sich soviel verändert. So viele neue Häuser. Sascha und ich fahren über Land durch den Aargau. Das Wetter ist wechselhaft. Die Sonne brennt, weisse Wolken, dann Schauer. Wieder Sonnenschein. Prasselnder Regen.

Die Landschaft zieht an uns vorbei. Das Zusammenspiel zwischen blauem Himmel, weissen Wolken und goldenen Feldern berührt mich sehr. Wir fahren dem Rhein entlang, der ockergelb und schnell fliesst. Es riecht nach Lehm.

Ich bin unruhig.
Zwar geniesse ich die freie Zeit, erhole mich. Oft muss ich an Omi denken, meinen Traum. Ich wünsch mir so sehr, dass sie noch einmal das Haus sehen kann, wie es (auf)-geräumt aussieht.

Es geht mir nicht darum, dass das Haus mir gehörte und ich dort leben könnte. Nein. Ich hab das Gefühl, es ist eine Art Erlösung. Sie hat mich so oft in den letzten Jahren angefleht, alles auszuräumen und wegzuwerfen und gleichzeitig alles Brauchbare zu behalten.

Sie hat oft darüber geredet, dass sie fürchtet, man/ich könnte sie vergessen. Alle ihre Tücher, ihre Briefe, ihre Photos sind Erinnerungen an jemanden, der längst nicht mehr lebt. In jenen Zeiten, als ihre Erinnerung verblasste, hatte sie Angst, ich könnte auch mit einem Mal nicht mehr an sie denken.

Es hat mir immer sehr weh getan, weil es nicht so ist. Nicht so war. Vielleicht will ich drum, alles Kaputte aus dem Haus werfen, damit wieder mehr Platz für mich und Erinnerung für sie da ist.

Frühling im Toggenburg

Ich habs immer so geliebt, meine Ferien bei Paula zu verbringen. Die Schulferien waren für mich die schönste und befreiendste Zeit des Jahres.

Nie konnte ich im Haus und im Garten der Eltern so unbeschwert herumtollen wie im Toggenburg bei meinen Grosseltern. Hier gehörte alles mir. Niemand reklamierte, wenn ich mich schmutzig machte oder im Bach schwamm. Ich konnte spielen, soviel ich wollte.

Abends schauten wir fern. Opa stand Pfeifen rauchend in der Stube. Ich erinnere mich an viele Gespräche. Opa und Paula konnten wunderbar Geschichten erzählen.

Besonders aufregend waren die Gewitternächte. Paula, meine Schwester und ich schliefen jeweils im Obergeschoss, direkt unter dem Dach. Durchs Fenster konnten wir jeweils das Wetterleuchten sehen. Das Gewitter kam näher. Der Bach plätscherte laut. Dieses Geräusch. Ich mag es so sehr.

Irgendwann donnerte es. Blitze um uns herum. Starker Regen. Der Bach wird lauter. Um uns herum geht die Welt unter. Paula jedoch liegt im Bett neben uns und erzählt uns leise Geschichten. Trotz des Gewitters, des prasselnden Regens auf dem Dach, schlafen wir Kinder ein. Vielleicht gerade deswegen.

Am nächsten Morgen entdecken wir, dass der Bach über seine steinernen Ufer getreten ist. Es ist nichts passiert. Alles ist noch da. Der Boden ist matschig. Bald sind die Ferien vorbei.

paula sucht ein heim

im frühling hat die frau von der spitex gemeint, ich soll anfangen, ein heim für paula zu suchen. einen ganzen winter ohne zentralheizung würde sie nicht mehr durchstehen. schön und gut. paula sah das nicht wirklich ein.

immer wieder mal habe ich das thema angeschnitten und bei paula auf granit gebissen: heim? ich doch nicht. nein. mir gefällt’s hier. das geht schon. du musst mir halt helfen.

im verlauf des frühsommers verschlechterte sich ihr zustand. das war für mich umso schlimmer, als dass sie sonst in der warmen jahreszeit immer aufblühte. dieses jahr war das anders.

für mich war war aber klar, dass ich nicht einfach ein heim suche, ohne dass ich sie einbeziehe.

diese tatsache stiess nicht bei allen familienmitgliedern auf ein gutes echo. im gegenteil. sätze wie „mach mal was. du musst sie halt entmündigen lassen.“ waren nicht selten. anpacken im sinne von überzeugungsarbeit wollte dann aber keiner. diese tatsache kommt wohl jedem angehörigen eines demenzkranken menschen bekannt vor.

im juli schliesslich wollte ich mit meinem freund für eine woche in die ferien. um acht uhr morgens, eine stunde vor unserer abreise klingelt das telephon. paula ist dran. ihre worte sind kurz und knapp:

„ich habs mir überlegt. ich geh jetzt in ein heim.“

na toll. jetzt heisst bei paula jetzt. mühsam versuchte ich ihr klar zu machen, dass ich jetzt gar nichts tun könnte. in ein heim tritt man nicht einfach ein. das sah auch paula ein. wir machten ab, dass ich das nach abschluss meiner ferien regle.

gesagt getan: zwei minuten, nachdem wir wieder zuhause waren, klingelte das telephon. paula.

„und? hilfst du mir jetzt? ich will mein haus verkaufen.  jetzt. ich geh nämlich in ein heim.“

 

wie könnte ich anders, als ihr zur seite stehen. in ihren aussagen, ihrer haltung ist sie nach wie vor klar, obwohl sie wortfindungsstörungen hat und sich nicht mehr an alle namen erinnert. ihren willen teilt sie mit. und danach richte ich mich.