Vor sieben Jahren um diese Zeit wachte ich an ihrem Bett. Am Abend zuvor hatte sie sich von mir verabschiedet. Ich mich aber nicht von ihr. Dabei hab ichs gespürt.
Wenn Menschen sterben, spüren sie offenbar, was sie noch brauchen. Meine Mutter hat ein letztes Mal Spaghetti gegessen, mit ihrer Freundin geredet und mich angerufen. Am Ende sagte sie: „Ich bin müde.“
Den 16. Oktober 2007 werd ich nicht mehr vergessen, solange ich lebe. Ich wurde von der Arbeit ins Pflegeheim gerufen. Uschi lag da. Ihr Atem ging furchtbar schwer. Manchmal, wenn ich Albträume habe, höre ich diese kochelnden Laute. Dieses Brodeln. Ich sehe ihr senfgelbes Gesicht. Wenn die Pflegenden sie umlagern, öffnet meine Mutter die Augen und sieht mich mit ihren riesigen dunklen Augen an.
Hat sie Schmerzen, frage ich. Nein. Sie kriegt Morphium. Hat sie sogar in der Patientenverfügung geschrieben. Meine Mutter. Immer einen Plan B.
Ich war nicht darauf gefasst, sie sterben zu sehen.
Es wirft alles über den Haufen.
Ich weiss nicht, wie ich es geschafft habe, bei ihr zu bleiben.
Ich konnte einfach nicht gehen.
Während sie so da lag und starb, habe ich angefangen, ihre Häkeldecke zu verstäten. Das hat sie nämlich gehasst. Also hab ich es für sie gemacht.
Wenn man so dasitzt und Fäden vernäht, wird alles leichter. Mir kamen so viele Dinge in den Sinn. Meine Kindheit. Ihre Umarmungen. Ihre sanfte Stimme, die ich nie wieder hören würde. Meine Hoffnung, dass sie noch einmal die Augen aufschlägt und was sagt.
Der Tag vergeht langsam. Immer wieder gibt es Momente, an denen sie offenbar bereit ist, loszulassen, aber es noch nicht ganz kann. Ich warte. Es bleibt mir auch nichts anderes übrig.
Am Abend fahre ich kurz nach Hause. Ich bin getrieben von der Angst, dass wenn ich wieder zu ihr zurückkehre ins Heim, sie bereits gegangen ist. Meine Angst ist vergebens. Sie wartet auf mich.
Ich nehme Platz in einem unbequemen Sessel. Warte. Sie atmet. Immer wieder längere Atemaussetzer. Was wohl in ihr vorgehen mag? Lebt sie ihr Leben nochmals durch? Ab und zu glaube ich eine Träne zu sehen. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, denn meine eigenen Tränen fliessen unaufhaltsam.
Ich hätte nie gedacht, dass es derart weh tut, die Mutter zu verlieren. Omi Paula hatte mich vorgewarnt. Der Tod ihrer eigenen Mutter hat sie tief geprägt. Anders als ich konnte sie nicht an ihr Sterbebett eilen. Ihr Arbeitgeber hat sie nicht gehen lassen.
Dann wird es Abend. Ich habe keinen Hunger. Ich habe nicht einmal Durst. Mir erscheint mit einem Mal alles endlos. Meine Kräfte schwinden. Ich will nur noch, dass sie endlich stirbt, damit ich gehen kann. Die Luft im Pflegeheim ist trotz geöffneter Fenster schwer.
Ich wünsche mir an jenem Abend eine Umarmung. Wärme. Jemanden, der sich nur um mich kümmert. Der mich füttert. Mein Wunsch bleibt unerfüllt.
Ich halte ihre Hand. Ich spüre, wie ihr Hand kälter wird. Ich wage nicht, ihr Gesicht zu berühren. Habe Angst, ich könnte sie in jenem Prozess des Gehens stören. Zwischendurch schlafe ich ein. Ich denke, vielleicht schläft sie jetzt ja auch. Ich muss es nur vormachen.
Immer wieder wache, nein: schrecke ich auf. Ihr Kocheln. Sie blickt mit aufgerissenen Augen zur Decke. Dann schliesst sie sie wieder. Der Atem geht langsamer. Ich warte.
wie sich sterben anfühlt?, ist eine der fragen, die ich mir seit kind oft stelle.
bei meiner mutter war ich (im doppelten sinne und leider) zu weit weg, bei meinem vater hielten wir geschwister totenwache, abwechselnd. er starb in den zehn minuten als er allein war. das passte aber.
sterben lassen ist immer ein wenig mitsterben. bei eltern, freundInnen, kindern. ich habe es schon sehr oft und sehr nah miterlebt.
verstehen tu ich es nicht. dein text ist echt wunderbar. eine hommage an deine mutter. ans leben. an die liebe. danke!
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