Umgeben von Toten

Ich habe mich als Kind schon nicht gegruselt vor Toten.
In meiner Familie ist der Tod allgegenwärtig und vertraut.

Als ich zwei Jahre alt war, starb mein Bruder. Zwar habe ich ihn nie gesehen, doch sein Sein hat Spuren hinterlassen. Ein einziges Photo habe ich von ihm.

Anders verhält es sich mit meiner Stief-Urgrossmutter Rosa und meinem Urgrossvater Heinrich. Sie sind mir nahe, obwohl ich erst sechs Jahre alt war, als sie beide starben. In meinem damaligen Empfinden waren beide uralt. Mein Urgrossvater wurde 95 Jahre alt!

Ich entdecke gerade die Welt dieser beiden Menschen, die auch im hohen Alter offenbar kein Problem damit hatten, sich ineinander verliebt zu zeigen. Auf den Bildern, die ich gefunden habe, ist Rosa eine herbe, aber stilsichere Frau, Heinrich, ein gemütlicher Mann mit einer enormen Ausstrahlung.

Fast 30 Jahre lang haben sie im Haus gewohnt. Beide sind sie darin gestorben. Das Haus atmet ihre Lebenshaltung aus: arbeiten. Fleissig sein. Sauber sein. Geniessen.

Einer ihrer Lieblingsplätze scheint die grüne Gartenbank zu sein. Mittlerweile ist sie von der Witterung beinahe verfault. Auf den Bildern ist die Gartenbank der Mittelpunkt jeglicher familiärer Aktivitäten. Sie sitzen drauf. Kinder turnen drauf rum. Der Hund thront brav vor der Bank.

Walter, mein Grossvater, hat die beiden zuhause gepflegt. Aus seinen Briefen erfahre ich, dass es zeitweise für ihn die Hölle gewesen sein muss. Dank erhielt er nicht viel. Er, der seit Jahren arbeitslos war, nahm die Bürde auf sich, zwei hochbetagte Menschen zu pflegen. Einen Spitex-Dienst gab es 1983 noch nicht…

Walter, Rosa und Heinrich sind seit Jahren tot. Doch im Haus leben sie noch immer. Ich finde ihre Gegenstände. Rosas Kämme. Heinrichs Strickmaschinen. Walters Zeugnisse. Rosas Fasnachtskostüme. Heinrichs Brillen.

Was bleibt von einem übrig, wenn man stirbt?