Feiertag

Morgen ist der 2. September. Meine Mutter würde ihren 67sten Geburtstag feiern. Sie ist vor fast elf Jahren verstorben.

Wir feierten ihren 56. Geburtstag, wenige Wochen vor ihrem Tod 2007 im Spital. Mami und ich wussten beide, dass es ihr letzter Geburtstag werden würde. Omi Paula kam ebenfalls vorbei und wir feierten, so gut wir konnten. Wir stiessen an mit Traubensaft und Kreuzwortheften. Ich war gerade erst 30 Jahre alt geworden und wusste nicht, was mich erwarten würde. Rückblickend war das vielleicht etwas naiv. Ich fühlte mich sehr alt. Heute weiss ich, dass ich damals gar nichts wusste und erst recht nicht heute.

Meine Beziehung zum Sterben hat sich seit meiner Geburt langsam vertieft. Der Tod meines Bruders, das Sterben meiner alten Urgrosseltern und meines Opas, Mamis qualvolle letzte Monate und schliesslich Omi Paulas friedlicher letzter Gang haben mich geprägt. Sterben ist die natürliche Antwort aufs Leben. Es ist die letzte Feier vor dem Ende. Doch vor dem Tod steht das Leben.

Das durfte ich in jenen drei Monaten mit meiner Mutter erfahren: Trotz des langsamen Sterbens feierte sie das Leben. Nie haben wir mehr gelacht. Nie schmeckte das Essen besser. Nie schien die Sonne heller als in jenen Tagen, als das Ende nahe war.

Dieses Gefühl wollte ich in mir behalten, erst recht nach ihrem Tod.
Darum mag ich morgen auch ihren Geburtstag feiern, denn ohne sie und meinen Vater gäbe es mich nicht.

Vor-Weihnachts-Gedöns

Ich tue mich innerlich schwer mit Weihnachten.

Da die Familie nicht mehr so gross ist, feiere ich keine grossen Feste. Ich schlage mir nicht den Bauch voll und ich betrinke mich auch nicht. Es gibt auch keine Familienzwiste an Weihnachten. Das ist der Vorteil an einer Familie wie meiner, die vom Aussterben bedroht ist.

Aber es schmerzt mich auch, dass ich nicht mehr so wie früher mit Omi feiern kann. Sie ist so rasch müde. Sie isst nicht mehr viel. Gesprächen kann sie oft nicht mehr folgen. Sie spricht nurmehr bruchstückhafte Sätze. Dennoch ist sie präsent mit ihrem Lächeln und ihren schalkhaften Augen. Manchmal frage ich mich wie sie als Kind war.

Früher war Weihnachten anders. Omi und ich trafen uns zum Einkaufen in Wil, diskutierten in Cafés und schenkten uns Kleinigkeiten. Wir telephonierten, um am Weihnachtsfeiertag miteinander essen zu gehen.

Ich fiel mir lange Zeit schwer, diesen Verlust von Gewohnheiten zu verdauen und neu zu beleben. Ein Anfang war, dass ich vor einigen Jahren damit begann, am dörflichen Adventsfenster mitzumachen. Ich mag es, von Menschen Besuch zu bekommen. Ich dekoriere das Haus. Ich werde dieses Jahr Omis und Uromis Christbaumkugeln hervorholen und Räume weihnächtlich einrichten.

Wir gehen jedes Jahr zu Omi ins Pflegeheim ans Weihnachtsessen. Jetzt, wo wir so nahe wohnen, können wir es noch mehr geniessen. Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr, dass ich Omi nicht nach Hause nehmen kann.

Und dann denke ich daran, was einmal sein wird, wenn Omi nicht mehr da ist und wie sich mein Leben danach verändert.

Vom Entmüllen mit Konzept

Die @eifreen hat mich vor einigen Wochen auf twitter angefragt, ob ich einige Tipps in Sachen Entmüllen von Häusern habe. Sehr gerne gehe ich diesem Wunsch in Form eines Textes nach.

Das Entmüllen der Wohnung meiner Oma dauert nun schon mehrere Jahre an. Ich weiss nicht genau, wann wir wirklich damit angefangen haben. Begonnen hat Omi um ca 2009 damit, dass sie mir regelmässig Gegenstände mitgab, von denen sie wollte, dass ich auf sie „aufpasse“ und sie „in Ehren halte“. Die habe ich dann in meinem Auto vom Toggenburg in den Thurgau transportiert. Zu jenem Zeitpunkt ging ich davon aus, dass Omi das Haus verkaufen würde und alles darin bald verloren wäre.

Im Februar dieses Jahres habe ich dann ganz brav wieder alles, was Omi mir geschenkt hatte, zurück ins Haus gezügelt. Das war nicht nur anstrengend, sondern ging schlussendlich echt ins Geld. Zügelunternehmen sind nämlich wirklich teuer!

Das Sortieren des Haushalts ist wohl eine Sache, die man grösstenteils alleine vornehmen muss. Ich jedenfalls konnte dies nicht delegieren. Ich wollte selber entscheiden, was ich behalte und was nicht. Je nach emotionalem Stress reagierte ich nämlich äusserst allergisch auf Sätze wie „Brauchen wir das wirklich noch?“

Es ist so: ich habe für Omis Haus mehrere Jahre geschaut. Mir war klar, dass ich nicht einfach so drauf los entsorge. Schliesslich gehörte alles im Haus meiner Oma. Als dann klar war, dass ich es käuflich erwerbe, überlegte ich mir natürlich, was ich entsorgen muss. Ich wusste, um eine Mulde komme ich nicht herum.

Der Vorteil einer Mulde, es gibt sie in verschiedenen Grössen, ist, dass man alles rein schmeissen kann, was einem grad in die Hände fällt. Als Anhängerin von getrenntem Abfall fiel mir dies anfangs etwas schwer. Ich kann aber versichern, dass es auch sehr gut tut, alten, kaputten Plunder wegzuschmeissen. Wir hatten Glück, dass in unserer Stadt ein wirklich tolles Recycling-Unternehmen sitzt. Die Beratung und die Preise waren perfekt, weil transparent. Eine Offerte einholen lohnt sich!

Und dann gings los: Das unbrauchbare Zeug haben wir im Keller gelagert und gewartet, bis es Sommer wird. Entrümpeln macht im Regen nämlich nur wenig Spass. Bei grosser Hitze jedoch ist es wichtig, dass man frühmorgens anfängt und wenn möglich seine Nachbarn vorwarnt. Es ist nicht jedermanns Geschmack, um sieben Uhr mit Gescherbel geweckt zu werden. Oder aber man bietet der holden Nachbarschaft an, auch noch ein wenig Gerümpel in die Mulde zu schmeissen. Gemeinsames Entmüllen schweisst zusammen. Wenn man viel zum Entsorgen hat, macht es Sinn, Freunde anzufragen, ob sie mit anpacken würden. Handschuhe sind dabei ein Muss!

Ganz wichtig am Schluss einer solchen Entrümpelungsaktion: Feiern!

Schliesslich haben wir über drei Jahre Warten abgeschlossen. Wir haben uns um viele hundert Kilo erleichtert. Der Keller ist wieder begehbar und wir fühlen uns frei und bereit, das Haus weiter zu renovieren.

Lillette gefällig?

Geburtstag ohne Muttern

Ich denke, die Mutter vermisst man selten so sehr wie am Geburtstag, denn das ist ja schlussendlich die Sache, die einen zu 100% mit einander verbindet. Es geht mir nicht anders.

Ich kann mich allerdings nicht mehr wirklich daran erinnern, wann wir das letzte Mal ein Geburtstagsfest miteinander verlebt haben. Als Kind war ich an meinem Geburtstag immer in den Ferien bei Omi und Opi im Toggenburg und als Erwachsene versuchte ich, meiner Mutter an diesem Tag aus dem Wege zu gehen. Ich bereue das heute ein wenig. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Menschen konnte meine Mutter so sehr feiern, wie sie litt.

Mir war das alles immer zu nah.
Heute, wo ich in einem Alter bin, wo sie bereits drei Kinder geboren und zwei verloren hatte, sehe ich das anders. Ich frage mich, wo sie einen Ausgleich fand zu ihrem Leben. Wie sie versucht hat, ihre Ängste zu verarbeiten. Ihre Texte, die ich erst nach ihrem Tod gefunden habe, zeigen eine unglaubliche Neugier. Eine Liebe zum Leben. Eine Leidenschaft fürs Verliebtsein. In diesem Punkt sind wir uns verdammt ähnlich.

Ich hätte sie so gerne hier, jetzt. Ich würde mich gerne an sie anlehnen. Sie würde über mein Haar streichen und finden, es sei zu lang. Ich hingegen würde ihr kurzes blondiertes oder gefärbtes Haar verstrubbeln und versuchen, sie auszukitzeln. Denn das ist mir zu ihren Lebzeiten nie gelungen.

Feiere, wenn es etwas zu feiern gibt

Wenn ich mir die Blogtexte von vor einem Jahr durchlese, bin ich berührt, wie verzweifelt ich damals war. Ich hatte Angst, das Haus und all das zu verlieren, wofür ich so hart gearbeitet und mein Herzblut gegeben habe. Dabei gab es so viele Menschen, die daran glaubten, dass ich es schaffe. Nur ich tat es nicht.

Jetzt sitze ich in meinem Atelier, schreibe, freue mich auf das Ende der Woche, wenn „Demenz für Anfänger“ erscheint und warte auf meinen Geburtstag. Es ist mir noch immer nicht wohl mit diesem Tag. Die Hitze lässt mich dran denken, wie sie mich vier Tage lang länger als geplant in sich getragen hat.

Die Tage vor jenem Tag denke ich sehr oft an meine Mutter und mir wird klar, wie sehr sie mir fehlt. Letztes Jahr habe ich mich gegen ein Fest entschieden, weil ich überhaupt keine Lust auf irgendwas hatte. Dieses Jahr ist es anders. Es gibt soviel zu feiern.

Ich möchte Omi „ihr“ Buch vorbei bringen. Ohne sie wäre so vieles nicht möglich gewesen. Ich bin gespannt, was sie vom Buch hält.

Da ist beispielsweise die Johannisbeerernte. Letztes Jahr hab ich die ganzen alten Büsche geschnitten und dieses Jahr ist der Ertrag um ein mehrfaches höher. Ich werde wunderbaren Likör ansetzen.

Da sind die Hortensienbüsche, deren Wachsen und Blühen ich täglich mitverfolgen kann. Blumen machen glücklich!

Oder der Fact, dass wir nach bald drei Jahren Arbeit den Keller von Unrat und Müll befreit haben. Endlich ist Raum da für neue Ideen und fürs Renovieren!

Dann ist da noch die Tatsache, dass ich mich an meinem neuen Wohnort mit all den Menschen sehr wohlfühle und das Gefühl habe, nach bald 38 Jahren, ein Zuhause gefunden zu haben. Das alles möchte ich mit meinen Freunden feiern.

Ich bin glücklich und dankbar, dass ich lebe.

Die wilde 87

Paula freute sich, als sie uns sah.
„Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr“, sagte sie. Fast wie früher, nur dass sie nicht mehr weiss, wer wir sind. Sascha und ich setzen uns hin. Sie fragt, wie die Fahrt war. Und wo unsere Kinder sind.

Ich schalte schnell. Heute bin ich wohl Ursle, ihre Tochter und meine Mutter. Ich gebe ihr das Geschenk. Aber Geschenke sind nicht mehr wichtig. Viel schöner ist es für sie, dass wir da sind.
„Wie fühlst du dich?“, frage ich. „Wie 51“, antwortet Paula und strahlt mich schelmisch an. Als Paula 51 Jahre alt war, war ich gerade zwei. Wir stossen mit Mineralwasser an.

Paula redet wie ein Wasserfall. Dann gibt es Suppe. Paula weiss nicht mehr, wie sie den Löffel benutzen soll. Ich gebe ihr ein. Nur wenig. Damit sie sich nicht den Mund verbrüht. Sie redet. Dann kriegt sie Schluckauf.
Wir legen eine Pause ein. Meine Suppe ist währenddessen kalt, schmeckt aber prima. Dann gibt es Salat. Omi isst einige Bissen und amüsiert sich köstlich über mich.

Schliesslich gibt es Knöpfli, Poulet und Bohnen. Ich zerschneide es ein wenig. Dann fängt Omi selber an zu essen. Sie lässt sich Zeit. Geniesst es. Zwischendurch strahlt sie und bietet mir von ihrem Teller etwas an. Sie spiesst die zerschnittenen Bohnen auf, klaubt mit den Fingern Knöpfli und steckt sie sich genüsslich in den Mund.
Omi singt einige Kinderlieder. Dann erfindet sie noch rasch eine Strophe, die ich hier aufgrund der Ausdrücke, die sie verwendet hat, nicht wiedergeben kann.

Dann wird Omi müde. Sie lehnt sich etwas zurück und schliesst die Augen. Ich spüre, dass sie fix und fertig ist. Es gibt aber noch Dessert und Kaffee. Omi aber will schlafen gehen. Und aufs Klo.
Ich verhandle mit der Hauswirtschaftsmitarbeiterin, dass Omi ihr Stück Erdbeertorte am Abend kriegt. Wir warten auf die Pflegende, die Omi ins Bett bringen soll. Omi schaut mich an, berührt mich mein Gesicht und streichelt es.

„Du hast wirklich einen schönen Kopf. Den könnte ich immer ansehen“.

Ich lächle. Streichle ihre sehr alten Hände. Dann kommt die Pflegende, die Omi ins Zimmer bringt. Omi schläft tatsächlich immer um diese Zeit. Wir verabschieden uns.

Heute.

Svens Todestag ist einen Tag vor Saschas Geburtstag.

Ich hab mir dieses Jahr vorgenommen, nicht zuhause zu sitzen und zu trauern, sondern rauszugehen.

Man soll den Dingen einen Sinn geben. Ich hab bis heute keinen Sinn in Svens Tod gefunden. Es hat sich nichts zum besseren verändert. Ich habe nichts daraus gelernt.

35 Jahre sind eine lange Zeit. Ich war bestimmt schon seit einem Jahr nicht mehr an seinem Grab. Eine Freundin hat mich vor einigen Monaten gefragt: „Warum trauerst du so lange?“

Ich wusste keine Antwort, überlege mir, dass ich vielleicht nichts anderes kenne?

Um einen Menschen zu trauern gibt Lebenssinn. Doch ich würde lieber etwas schaffen, anstatt Löcher zu stopfen. Rückwärts gewandt leben ist nicht so mein Ding. Und trotzdem ist das seltsame Gefühl da, ihn nicht einfach vergessen zu wollen.

Als ich im Haus entdeckte, dass auch mein Grossvater eine vergessene, tote Schwester hatte, wurde mir einiges klar. Das Gefühl, dass jemand da in der Familie ist, den man nicht fassen kann, kenne ich mein Leben lang.

Ich hab das Gefühl, mein Bruder gehört zu mir.

Als meine Mutter im Sterben lag und nicht gehen konnte, hat Paula gesagt: „Du wirst deinen Sven wieder sehen.“

Auch ich hab es zu meiner Mutter gesagt, in der Hoffnung, sie könnte dann endlich sterben. Aber geglaubt hab ichs nicht.

Wenn jemand stirbt, würde ich sein Leben feiern wollen. Die Dankbarkeit, dass ein Mensch gelebt hat, ist grösser als die Trauer, dass er nicht mehr da ist. Doch bei Svens Tod geht die Rechnung einfach nicht auf. Vielleicht, weil er nie richtig leben durfte?

Morgen ist Saschas Geburtstag. Das ist wichtig. Das will ich feiern.