Trauer ist kein fester Zustand. Sie wandelt sich. Trauern erinnert mich an eine Schlange oder Spinne, die immer wieder aus ihrer zu klein gewordenen Haut ausbricht.
Vor einigen Tagen las ich einen Text von 2012 und ich erschrak, wie traurig ich war. Es kam mir für einen Moment vor, als würde mein jetziges Ich dem trauernden Menschen von damals über die Schulter streichen und sagen: „Es kommt alles gut.“
Ich bin keine Trösterin. Wenn mir jemand erzählt, er verliere gerade einen geliebten Menschen, dann beschwichtige ich nicht. Ich kann nicht sagen: „Das wird schon wieder.“ oder „Schau vorwärts.“ Das kommt mir alles blöd vor.
Wenn ich so einer Erzählung lausche, höre ich zu. Ich nicke, weil mir so viele der Emotionen meines Gegenübers bekannt vorkommen, auch wenn sie nicht meine eigenen sind. Ich kann gar nicht mehr sagen. Denn in Anbetracht der Schilderung komme ich mir sehr unwichtig vor. Wichtig ist, dass ein trauernder Mensch Gehör bekommt. Dass er nicht das Gefühl von aussen bekommt, er sei nervig und mühsam, denn vielleicht denkt er das schon von sich selber.
Immer wieder mache ich die Bekanntschaft von demenzkranken Menschen und ihren Angehörigen. Es rührt mich sehr, wenn ich die engen Bande zwischen Menschen erkenne. Wenn ich sehe, wie sehr sich das Gegenüber um seinen vergessenden Menschen kümmert und sorgt. Oftmals denke ich, wie viele Geschichten wohl der demente Mensch im Stuhl gegenüber wohl noch zu erzählen hätte? Am Ende bleiben doch nur die wirklich wichtigen Dinge übrig.
Vor 11 Jahren sass ich bei meiner Mutter im Pflegeheim. Sie war 56 und ich konnte mich nun endlich auf sie einlassen. Es war nicht einfach, denn ich war nie die von heute und auch nicht die von morgen. Ein sterbender Mensch sieht anders in die Welt. Sie konnte in jenen Tagen all das äussern, was ihr in diesem einen Leben wichtig war. Das waren kleine Dinge, wie Strickzeitschriften, die Musikwelle, das Streicheln der Katze.
Manchmal bedauere ich, dass es von uns beiden keine Fotografie aus jener Zeit gibt. Aber ich weiss auch, wieso das so ist. Ich wagte es nicht, meine Mutter in ihren letzten Wochen zu fotografieren. Es gibt diesen Spruch, man soll die Menschen so in Erinnerung behalten, wie sie ihr Leben lang gewesen sind. Das ist Blödsinn. Das menschliche Gehirn bastelt sich seine Erinnerungen ganz selber zusammen. Es spielt keine Rolle, wie man am Ende aussieht. Aber es hilft einem, das Geschehene auf die Reihe zu kriegen.
Damals vor 11 Jahren sprachen wir darüber, dass meine Mutter wenige Tage vor 9/11, sie war im September 2001 gerade 50 geworden, im Cockpit eines Swissair-Fliegers sein durfte. Ich musste ihr im Pflegeheim versprechen, dass ich die Karte der damaligen Crew aus ihrer Wohnung hole, weil sie die so toll fand. Sie ist mit silbernem Stift geschrieben. Ich halte sie noch immer in Ehren.