Was war und was ist

Beim Aufräumen bin ich auf weitere Schachteln mit Fotos gestossen. Einige wenige sind datiert. Viele kann ich nur zuordnen, weil ich sie mit Omi früher angesehen habe.

Es ist grad ein ziemlich schräges Gefühl, dass ich jetzt die einzige bin, die diese Bilder bestimmen kann. Ich komme mir ziemlich alt und auch wenig verlassen vor.

Ich sehe meine Mutter auf den Fotos. Sie ist noch ein Kind. Sie steht vor dem Haus, in dem ich jetzt lebe. Ich sehe meine Urgrosseltern, die 30 Jahre tot sind. Ich sehe Omi und Opa. Beim Durchblättern frage ich mich oft, welche Sorgen sie wohl gehabt haben. Woran sie gedacht haben.

Dann stosse ich auf Bilder von Anna, meiner Urgrossmutter, der ersten Frau von Henri. An sie kann sich niemand mehr erinnern, denn sie starb bereits 1947, fast vierzig Jahre vor Henri und seiner zweiten Frau Röös. Anna blickt ernst in die Kamera. Sie trägt immer schwarz.

Anna Aerne Mettler

Henri Anna und Walter

Anna ist geheimnisvoll. Ich weiss nur wenig von ihr. Ich würde zu gerne wissen, ob sie es war, die in den 40er Jahren Bücher über behinderte Kinder las. Ich würde gerne wissen, ob ihre Tochter Nelly eine Behinderung hatte. Ich finde ein Bild, das wohl Annas Bruder, Heinrich Aerne, zeigt. Er starb auf den Tag genau 40 Jahre vor meinem kleinen Bruder an einer Blutvergiftung.

Heinrich Arne September 1938

Ist alles im Leben ein Zufall? Sind die Wege, auf denen wir uns bewegen, vorgezeichnet? Was in uns, in mir, treibt voran?

Verschwundenes

Nachdem wir das ganze Haus geleert und Gerümpel entsorgt haben, bleiben doch noch einige Fragen offen.

Mutter Schulhefte sind verschwunden. Das ist schade, denn sie konnte nicht nur wunderbar schreiben, sondern auch zeichnen. Ihre Sicht auf die Welt, als sie noch ein Teenager war, hat mir beim ersten Lesen vor Jahren sehr gefallen.

Einer der schlimmsten Streite mit meiner Mutter entstand wegen der schönsten Christbaumkugel der Welt. Ich war vielleicht vierzehn Jahre alt. Weihnachten 1991. Meine Mutter sagt zu Omi Paula, sie wünscht sich nichts sehnlicher als die braungoldene, wunderschöne Kugel, die sie schon als Kind gerne mochte. Ich stehe daneben und sage: „Omi, kann ich die nicht kriegen?“ Meine Mutter wird sehr wütend und zischt mich an: „Das ist meine!“

Als meine Mutter sechzehn Jahre später im Sterben liegt, muss ich wieder an die Kugel denken. Ich frage Omi danach, vielleicht bereitet es Mutter ja Freude, wenn sie die Kugel noch einmal sieht. Omi kann sich nicht erinnern, welche Christbaumkugel es sein könnte. Als ich vor zwei Jahren den Christbaumschmuck sichten konnte, fand ich keine braungoldene Kugel. Ich weiss bis heute nicht, über welches Teil ich mich mit meiner Mutter damals so gestritten habe.

Ich habe immer gehofft, ich würde Briefe von Anna finden. Erhalten sind nur jene von Henri. Vielleicht tue ich Röös unrecht, aber ich habe den Eindruck, als wären alle Spuren von Anna getilgt. Nur die Todesanzeigen von ihr und Nelly bezeugen, dass sie gelebt haben. Dann ist da noch dieses paar Schuhe. Sie sind uralt und klein. Röös hatte grössere Füsse. Vielleicht haben sie ebenfalls Anna gehört.

Bäume, zwei Bilder und Wut

Die letzte meiner insgesamt drei Ferienwochen ist angebrochen. Vor dem angekündigten grossen Unwetter wollte mein Vater noch die Wiese mähen und meine Stiefmutter zeigte mir, wie man Johannisbeerstauden zurück schneidet.

Stolz zeigte ich die aufgeräumten Räume. Zwar liegt noch immer viel Arbeit vor uns, aber zumindest kann man sich in diesem Haus nun gut bewegen. Sorgen bereitet mir die alte Werkstatt. Eine Ecke zeigt Schimmel auf und ich muss nun überlegen, was ich da tun kann und welche Hilfe ich zur Beseitigung brauche.

Nach dem Mittagessen räumte ich den Einbauschrank in der Stube. Hinter Büchern und Spielen kamen eine Bohrmaschine und eine Stichsäge zum Vorschein, alle beide liebevoll verpackt von Oma.

Oma hatte die Tendenz, alle Briefe, auch Bettelbriefe, aufzubewahren. Ich will gar nicht wissen, wie viel Geld sie irgendwelchen seltsamen katholischen Hilfswerken gespendet hat. Meine Wut auf Firmen und Organisationen, die auf alte, demenzkranke Leute losgehen und sie mit Post zumüllen, ist heute nicht kleiner geworden. Ich könnte kotzen.

Schliesslich stosse ich auf ein altes, edles Foto. Es ist das Hochzeitsbild meiner Urgrosseltern Henri und Anna. Anna trägt ein schwarzes Hochzeitskleid. Ihr ernster Blick trifft mich. Wir ähneln uns so sehr. Wenn ich sie ansehe, weiss ich endlich, von wem ich den markanten Unterkiefer geerbt habe!

In all den Briefen finde ich die Todesanzeige von Anna. Ich atme tief durch. 1947 ist sie gestorben. Mit 56 Jahren. Brustkrebs. Beerdigt in einer Urne in St. Gallen. Sie hat nie hier in diesem Haus gelebt.

Zufrieden und müde fahre ich am Nachmittag zurück nach Hause. Wieder etwas mehr geschafft!

Liebe Anna

Liebe Anna Aerne

heute, wir schreiben den 30. April 2014, wärest du 123 Jahre alt geworden. Du bist meine Urgrossmutter. Deinen Geburtstag kenne ich nur aus Deiner Hochzeitsbibel und Deiner Todesanzeige.

Trotzdem bist du eine Person, die sehr wohl lebendig erscheint, für mich als auch für meine Oma. Dein Leben war nicht einfach. Henri, meinen Uropa, hast du bestimmt um 1914 schon gekannt, denn ihr hattet euch geschrieben. Deine Briefe sind leider unauffindbar. Henri, dein zukünftiger Mann, hat dich sehr geliebt. Er war kein Mann, der seine Gefühle offen auf der Zunge trug. Aber du warst in seinen berührendsten Briefen seine Adressatin.

Liebe Anna, du hast all die Kriegsjahre ohne ihn ausgehalten. Nelly kam 1917 zur Welt und starb 1922. Wie muss das für dich gewesen sein?
Meinen Opa Walter hast du Ende des Jahres 1924 geboren, als du schon 33 Jahre alt warst, nur wenig jünger als ich jetzt.

Liebe Anna, dein Gesicht ist allgegenwärtig. Du warst wohl eine starke Frau mit Willen und Kraft. Trotzdem hat dich im Jahre 1947, nur wenige Jahre nach Ende des Krieges der Krebs hinweg geraffft, für Walter, meinen Opa, war das eine furchtbare Sache.

Das Haus, in welchem du mit Henri gelebt hast, steht in der Nachbarschaft des Hauses der Familie. Ich denke oft daran, wie du dort gelebt haben magst. Deinen Grabstein habe ich nie gesehen. Aber heute denke ich ganz fest an dich und umarme dich in Gedanken.

 

20140429_235236[1]

Anna ist in der mittleren Reihe die zweite von rechts, Henri steht direkt hinter ihr.

Alles über Anna

Anna lässt mich nicht los.
Immer wieder hoffe ich, im Haus Spuren von ihr zu finden. Wir haben Ähnlichkeiten. Sie war eine herbe Frau. Sie hat gearbeitet wie ein Tier. Sie liebte Briefe schreiben. Wie meine Mutter auch hat sie ein Kind verloren. Im ersten Weltkrieg liebte sie meinen Urgrossvater Henri. Seine Postkarten hat sie alle schön behalten. Ihre Briefe sind verschwunden.

Anna tauchte einfach auf. Sie war Serviertochter in Herisau, in einem Restaurant, das es wahrscheinlich schon längst nicht mehr gibt.

Ich möchte wissen, wie sie geschrieben hat. Ich möchte erforschen, wo sie gelebt hat. Manchmal träume ich nachts von ihr. Paula, ihre Schwiegertochter, hat Anna nie getroffen. Anna war schon einige Jahre tot, als Walter und Paula sich verliebten. Vielleicht kein Zufall, dass sich Walter nach Annas Tod in Paula verliebte.

Paula erzählte mir, dass sie manchmal davon träumte, dass Anna sie holen kommt, wenn sie stirbt. Sie sagte: ich sah eine sehr dünne, zerbrechliche Frau in einem Leiterwagen. Sie trug ein schwarzes Kleid.

Vom schwarzen Kleid hab ich auch schon geträumt. Vielleicht liegt es irgendwo in einer Kiste im Haus und wartet auf mich.

Anna, Nelly und die alten Karten

Heute war ein Aufräumtag. Ich habe die Postkarten sortiert und eingeordnet, die Paula mir geschenkt hat. Dabei fielen mir einmal mehr all jene Karten in die Hand, die vor hundert Jahren an meine Urgrossmutter Anna verschickt wurden.

Ich weiss nicht viel über Anna.

Ich weiss nur, dass sie bis zu ihrer Heirat mit meinem Urgrossvater Henri in Herisau gelebt und gearbeitet hat, zwei Kinder hatte (Nelly und Walter) und 1947 an Brustkrebs gestorben ist.

Mein Grossvater hat nicht viel über sie gesprochen. Aber ich erinnere mich genau, dass er sie als liebe Frau bezeichnete. Als sie starb, war er gerade mal 23 und aus dem Militär entlassen.

Heute war ein besonderer Tag, denn ich fand inmitten all der Karten aus dem ersten und zweiten Weltkrieg, ein Familienphoto von Anna, Nelly und Henri. Es muss vor 1924 aufgenommen worden sein, da Walter auf dem Bild nicht auftaucht. An Annas Seite, sie ist schwarz gekleidet, sitzt ein kleines Mädchen. Vielleicht ist es Nelly. Falls ja, ist es das einzige Bild, dass von meiner Grosstante existiert.Ich vermute, dass sie es ist, denn Anna strahlt voller Stolz und grinst breit. Sie hat ihren Arm um das Mädchen gelegt. Die anderen auf dem Bild sehen mehr oder weniger aus, so wie es sich für jene Zeit geziemt. Anna scheint sich ihr Lachen zu verkneifen.

20130421_180745 (800x659)

Ich fühle mich Anna nahe. Ich hätte sie zu gerne gekannt, mit ihr geredet.
Nun steht das Photo auf meinem Schreibtisch und ich fühle mich seltsam beschützt durch Annas munteren Blick.

anna und ich

ich habe anna nie kennengelernt. was ich über sie weiss, habe ich nur von walter, meinem grossvater und paula gehört. auch paula hat sie nie getroffen, aber oft von ihr geträumt.

anna wurde zwischen 1890 und 1898 wahrscheinlich in herisau geboren. sie arbeitete als serviertochter in einem gasthof. in der zeit um 1914 hat sie meinen urgrossvater heinrich kennen gelernt. die beiden haben sich ineinander verliebt. 1924 wurde dann walter geboren.

das klingt auf den ersten blick sehr idyllisch.
in den letzten monaten, während paulas züglete habe ich viele briefe und dokumente über anna erhalten. mir wurde vieles klarer.

anna und heinrich haben sich sehr viele briefe und karten geschrieben. in ihren briefen hat sie in ihn immer henri genannt. sie haben lange zeit im toggenburg gelebt. erschütternd war für mich der tag, als paula mir annas todesanzeige in die hand gedrückt hat. ein kleines stück papier aus dem jahr 1947 erzählt mir, wie meine urgrossmutter unter furchtbaren qualen starb. sie litt an brustkrebs und starb als junge frau.

doch nicht genug. in dem kleinen schächtelchen, von dem ich nicht weiss, wer es immer so sorgsam mit andenken meiner familie gefüllt hat, finde ich noch mehr: die todesanzeige meiner grosstante nelly, die 1922 starb. niemand hat je über sie gesprochen. ich weiss nicht, woran sie gestorben ist.

nelly erinnert mich an meinen bruder sven, der ebenfalls als kind starb. wiederholt sich hier ein muster? warum fühle ich diese nähe zu anna? wenn ich ihr gesicht auf photos anschaue, sehe ich mich selber. wir haben dieselben kantigen gesichtszüge. dieselbe frisur.

ich hätte sie sehr gerne kennengelernt.