In unserem Haus wurde nie über den Holocaust gesprochen, zumindest nicht, als ich noch ein Kind war. Erst später hat mich mein Grossvater Walter zur Seite genommen und versucht zu erklären, was damals passiert ist. Sein Hass auf Hitler-Deutschland war riesig. Nie wieder Krieg. Das hat er gesagt.
Ich verstand wenig, ich konnte mir gar nicht vorstellen, wovon er eigentlich sprach. Nur eines wusste ich: das ist eines dieser Dinge, die die Sicht aufs Leben verändern.
Mein Grossvater war im Krieg an der Grenze. Er tat das Gleiche, wie dreissig Jahre zuvor mein Urgrossvater Henri. Es muss beide nachhaltig verändert haben.
Omi Paula war geprägt von den Kriegszeiten. Ihr Ramschen und Aufbewahren von defekten und unbrauchbaren Dingen ist nur ein Symptom jener Generation. Ich bin Paula dankbar, dass sie nichts wegwerfen konnte.
So stiess ich vor einigen Monaten beim Räumen des Hauses auf einen Prospekt von Yad Vashem aus den 70er Jahren. Es ist mir ein Rätsel, wie dieser in dieses Haus gelangte. Ich habe eine Vermutung. Röös.
Sie ist der Schlüssel. Sie ist es, die aus Berlin geflohen ist.
Ihr Mann blieb zurück. In der Schweiz hat sie schliesslich meinen Urgrossvater Henri geheiratet.
Röös reiste gerne. Unzählige Photos konnte ich erhalten, War sie auch in Israel? Warum hat sie sich so sehr für Yad Vashem interessiert? Fragen über Fragen. Und keine Antworten, weil niemand mehr lebt, der sie mir beantworten könnte.
Röös.
Du weißt schon, dass Du über den Geburtsnamen und die Homepage von Yad Vashem einiges erfahren kannst. Und ganz vielleicht findest Du noch ein altes Stammbuch. So zumindest heißt in Deutschland das Buch der Familie, wo ab der Heirat, Geburt der Kinder, Sterbefälle alles eingetragen wird, was behördlich „interessant“ ist.
Aber weißt Du was weit wichtiger ist, dass Dein Großvater so bestimmt mit Dir über seine Einstellung gesprochen hat.
Meine Mutter ist 1939 geboren worden. ihr vater 1896 und hat am 1. Weltkrieg teilgenommen. Vom zweiten wurde er wie durch ein Wunder verschont. Er hatte eine ganz klare Haltung zu Krieg, Kriegsgefangenschaft und Menschlichkeit. Diese hat er immer sehr bestimmt in der Familie mitgeteilt und dies wirkt nach bis zu mir. Seine Worte haben sich in mein Hirn gebrannt. Obwohl er bereits 1976 starb und ich damals noch keine 8 Jahre alt war. Meine Mutter hat immer wieder von ihm gesprochen. Er ist lebendig in meinen Gedanken.
Ein Erbe, um das ich sehr froh bin.
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Meine Grosseltern führten einen Gasthof in Winterthur. In Winterthur verkehrte viel braunes Gedankengut. Eines Tages kam ein hoher Militär ins Restaurant meiner Grosseltern, brachte seine Soldaten mit. Sie sprachen laut über die Juden und was sie mit denen machen würden, kämen sie in ihre Hände und hätten sie endlich die Macht, es zu tun. Sie verehrten Hitler. Mein Grossvater warf sie alle auf die Strasse. Er kriegte zu hören, dass er und seine Familie die Ersten seien, die dran kämen, wenn die Schweiz sich Deutschland anschlösse… was zum Glück nie passierte. Die genauen Umstände kenne ich nicht, nur ein paar Nacherzählungen, die etwa so klangen.
Vermutlich gäbe es mich nicht, hätte die Geschichte einen anderen Lauf genommen. Ich bin zwar nicht in allen Fällen stolz auf die Haltung der Schweiz im Umgang mit den damaligen Verbrechen, aber immerhin froh, dieses Unrecht noch erleben zu dürfen. Man verzeihe mir dieses Paradoxon, das nicht so gemeint ist, wie man es interpretieren könnte.
Aus heutiger Sicht ist es einfach zu sagen, man hätte sich Hitler widersetzen müssen. Damals waren die Gefahren unmittelbarer. Umso mehr achte ich Menschen, die es taten, würde mir aber nicht anmassen, jemanden zu verurteilen, der es nicht tat.
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