Über die Trauer. Und die Wut.

Vor einigen Tagen las ich einen Text von Regula Staempfli über das Buch „Notes on Grief“ von Chimanda Ngozi Adichie. Ihr Text hat mich sehr berührt.

Ich fühlte mich erinnert und zurückgestossen in die Zeit vor einem Jahr, als mein Vater sich bereit machte, dieses Leben hinter sich zu lassen. „Das körperliche Verschwinden eines geliebten Menschen fühlt sich an, als wäre man amputiert worden“, schreibt Regula Staempfli.

Das Gefühl des Unvollständigseins, des starken Schmerzes ist nach wie vor in meinem Leben vorhanden. Mal werde ich mehr, mal weniger davon beeinträchtigt. Ihre Worte treffen den Kern meiner Trauer. Mir fehlt die Nähe meines Vaters. Unsere Telefonate. Unsere gemeinsamen Leidenschaften. Wir liebten den Wald und alte Filme. Es fehlt mir, dass wir nie mehr gemeinsam durch den Wald laufen. Dass ich mit ihm nicht mehr über meine Beobachtungen und Eindrücke sprechen kann.

„Die Fassunglosigkeit, die einen erfasst, wenn ein Mensch aus dem eigenen Leben tritt. Dieses Unglück, geliebte Eltern zu verlieren, die einem doch das ganze Leben begleitet haben – wer ist dann noch da?“
Ich hatte das offenbar seltene Glück, einen wunderbaren, liebenden und liebevollen Vater zu haben. Er war während meiner Kindheit, meiner Pubertät und auch später – einfach da. Er hörte mir zu. Bewertete wenig. Er hielt mich für kompetent und zweifelte nicht daran, dass ich meinen Weg machen würde. Er bestärkte mich in meinem Willen und meiner Kraft.

Er war stolz auf mich, auch wenn er es mir nicht oft zeigte, dafür seinen Freunden umso mehr. Wir waren einander herzensnah und vor allem sehr ähnlich.

Dann schreibt Regula Staempfli: „Die Sitte der Spitalkultur verbat es mir, zu schreien, zu toben, mir die Kleider vom Leib zu reissen, die Haare zu raufen und allen ins Gesicht zu klagen: Stop the clock! She! Is! Dead!“

Auch hier spricht, nein, schreit sie mir aus dem Herzen. Ich war nach dem Tod meiner Mutter nahe dran, mir die Haare vom Kopf zu rasieren. Als Ausdruck meiner Trauer und Fassungslosigkeit. Stattdessen wächst mein Haar weiter, ergraut langsam, mit weissen Strähnen, dort wo das Leben mir Schläge verpasst hat.

Chimanda Ngozi Adichie schreibt schliesslich: „An all meine Feinde, aufgepasst! Das Schlimmste ist passiert. Mein Vater ist weg. Meine Wut, mein Wahnsinn werden sich jetzt erst recht manifestieren.“

Aus Wut wird Mut. So will ich es handhaben. Ich will schreiben, was ich fühle. Zu meinen Gefühlen stehen. Mich nicht verbiegen. Nicht schweigen.

Über Trauer und Schmerz zu schreiben, scheint mir lebenswichtig. Trauer und Schmerz sind Zeichen, dass man – bei all dem Leid – noch lebt. Und wenn ich dann so einen leidenschaftlichen, schönen Text wie jenen von Regula Staempfli lese, fühle ich mich etwas weniger alleine.